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11 Seiten

Give Blood Teil 4 und Ende

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Linn hatte alle Koffer und Taschen, die verstreut im Wagon herumgelegen hatten, in einer Ecke angesammelt und sie akribisch durchsucht. Cy hatte sie gefragt, was zum Teufel sie genau suche und ihre Antwort war gewesen, dass es ihr schon noch einfallen würde. Sie alle suchten nach Antworten, die es nicht gab. Vinnie fragte James, welchem Beruf er nachging, als sie zusammen bei der Tür saßen, sich darauf vorzubereiten versuchten, dass sie bald den Zug verlassen würden.
„Ich bin in einem Sicherheitsdienst angestellt“, sagte er, obwohl das gerade mal die Oberfläche ankratzte und Vinnie erwiderte: „Ich hatte die ganze Zeit den Eindruck, als hättest du was militärisches an dir.“
„Mag sein, dass ich den Eindruck erweckt habe, aber ich bin so weit von einem Soldaten entfernt wie Cy von einem Weihepriester.“
Es stimmte, er war für die Sicherheit eines Firmenvorstandes zuständig, aber seine Aufgaben waren so speziell, dass sie kaum mit dieser speziellen Firma in Verbindung gebracht wurden. Es war ein sehr schmutziger Job und er war nicht stolz darauf, aber auch so ein Job musste getan werden.
„Ich arbeite allein und ohne Anweisungen“, sagte er, „das macht die Sache kompliziert und leider nicht logisch erklärbar. Ich erledige Dinge, die sonst niemand erledigt.“
„Dann bist du wohl genau der richtige, uns durch die Wüste zu bringen.“
Vinnie grinste mutlos.
„Ich weiß“, fügte er hinzu, „ich wäre auch lieber zu fünft unterwegs.“
Sie beobachteten, wie Simmons zu Cy hinüberging, der im Schneidersitz auf dem Sitzpolster hockte, den Mann kaum beachtete, der vor ihm stehenblieb. Von seiner Position aus konnte James quer durch den Zug nur Simmons’ Rückenansicht und Cys nach unten geneigten Schädel erkennen, es schien keine Spannung zwischen ihnen zu herrschen und James erinnerte sich daran, dass Cy vom ersten Moment an Sam Simmons immer wieder gereizt und angestachelt hatte, ein wenig aggressiv, aber nicht mehr als herausfordernd. James dachte an Cys Erklärung, dass er nur wegen Simmons im Zug sei, legte nebenbei seinen Rucksack ab, weil er noch eine Flasche Wasser hineinpacken wollte. Etwas rollte wie ein Donnergrollen über das Dach des Zuges, es klang wie eine Bowlingkugel auf einem schlecht gedeckten Dach, es rumpelte, rollte und polterte und sie alle starrten nach oben, erstarrt im anhaltenden Schrecken und in der Erwartung, dass etwas großes schreckliches durch das Dach brechen würde.
„Was ist das?“ flüsterte Vinnie, folgte dem Geräusch durch den Wagon, versuchte etwas auszumachen, aber es dauerte nicht lange und das Geräusch verschwand so plötzlich wie es gekommen war. Noch immer starrte Vinnie nach oben.
„Da versucht jemand uns Angst zu machen“, sagte er, „vielleicht versucht dort jemand, uns im Zug zu halten.“
Simmons war wieder auf seinem alten Platz, weiß im Gesicht und mit blutleeren Lippen. Er saß mit nach vorn gebeugtem Oberkörper da und erinnerte an einen kleinen Jungen mit Magenschmerzen.
„Was wollte er von dir?“
Cy sah Linn mühsam konzentriert an, schien trotzdem nur durch sie hindurchzusehen.
„Nichts besonderes“, sagte er. Er rieb sich die Augen, drehte sich zur anderen Seite, um nicht zu Simmons hinübersehen zu müssen.
„Was hat er getan? Ich meine nicht hier im Zug, ich meine vorher. Warum willst du es noch vor mir verheimlichen?“ Sie wusste nicht, weshalb Cy seine Drogen nicht mehr nahm, aber es war offensichtlich, dass er es nicht tat. Er stand kurz davor, ernsthaft zu kollabieren, war abgetaucht in eine andere Welt und beantwortete Linns Frage etwas unzusammenhängend, aber einleuchtend.
„Ich war nicht Schuld am Unfall“, sagte er, „aber ich hätte auf sie aufpassen sollen, weil das unser Deal war. Sie schafft das Geld an und ich passe auf sie auf, aber an einem Abend ist sie zu diesem Typen ins Auto gestiegen und der ist losgefahren. Ich bin ihm nachgerannt, hab versucht, ihn irgendwo einzuholen und vielleicht wäre sie irgendwo wieder ausgestiegen, weil er anhalten musste, aber er musste die Türen versperrt haben. Es war ein scheiße großes Auto. Wir hatten die Vereinbarung, dass sie sofort verschwinden soll, wenn etwas schief läuft, weil genug verrückte Typen auf den Straßen unterwegs waren. Es war gefährlich, aber wenn ich in der Nähe blieb, ist nie was passiert. Ich hab den Wagen auf einem Parkplatz wiedergefunden, aber er war leer und dann hab ich sie in den leerstehenden Häusern gesucht. Ich hab sie erst zwei Tage später gefunden. Er hatte sie zwei Blocks weit geschleppt und sie sah aus, als hätte ihr der Kerl den Hals zugedrückt. Sie hat gesagt, sie hätte kein Gefühl mehr in den Beinen und ich hab sie durch die halbe Stadt getragen, um sie in ein Krankenhaus zu bringen. Ich hab gedacht, dass es nicht so schlimm sein konnte, weil sie noch immer auf meine Fragen antworten konnte. Zumindest am Anfang. Dann hatte ich sie in der Notaufnahme und bin die ganze Zeit bei ihr geblieben, aber es kam niemand, um nach ihr zu sehen. Sie haben mich Stunden später rausgeschmissen, als sie endlich jemand zur Behandlung abgeholt hat. Ich hätte bei ihr bleiben sollen. Simmons hat sie sich angesehen, ihre Quetschungen überall untersucht, ihr in die Augen geleuchtet und hat sie mitgenommen. Er hat gesagt, es sähe böse aus, aber nicht ernst. Ich hab ihm gesagt, dass sie ein paar downer genommen hatte, wie üblich, aber das interessierte ihn nicht. Er hat sie mitgenommen und dann haben sie mich rausgeschmissen. Ich wollte nicht nach Hause. Ich habe den ganzen Tag vor dem Eingang der Notaufnahme gesessen, bin wieder rein und hab nach ihr gefragt. Simmons hatte noch immer Dienst. Ich hab ihn mir geschnappt und ihn gefragt, wie es meiner Schwester ging und er konnte sich nicht mal an sie erinnern. Ich hab sie gefunden. Ich bin durch die Notaufnahme gelaufen und hab sie gefunden, wo Simmons sie hingeschoben hatte. Abseits der Behandlungsräume, in einem Flur, wo Kanister und Kartons gestapelt waren. Dort lag sie auf der Pritsche. Es sah nicht so aus, als habe sich jemand um sie gekümmert. Alles war mit Blut verschmiert und als ich jemanden gefragt habe, was mit ihr passiert sei, sagte eine Schwester, dass sie plötzlich zu bluten begonnen habe und dass sie nichts mehr hatten tun können. Damit hätte niemand gerechnet. Ich hab rumgeschrien, dass ich allen gesagt hatte, dass sie vergewaltigt, geschlagen und gewürgt worden war und wer zum Teufel hatte behauptet, dass bei sowas nicht mit Blutungen zu rechnen war? Jemand hatte ihre Pritsche ein „J“ geklebt. Simmons verteilte die Buchstaben. Ein „D“ für dringend und ein „J“ für Junkie. Wahrscheinlich hatte er noch mehr seiner Buchstaben auf Lager. ich wollte sie unbedingt mitnehmen, aber das haben sie mir verboten. Ich weiß nicht mal, wo man sie hingebracht hat. Ich weiß nicht, wo die Toten landen. Ich bin Simmons ein paar Mal bis nach Hause gefolgt, hab mir angesehen, wo er lebt und was er macht, wenn er mal keine Zettel an kranke Leute klebt. Er ist ein armes Arschloch. Ich hab ihm nicht einmal mit jemandem reden sehen. Da hab selbst ich mehr Kontakt zu den Leuten um mich herum, selbst wenn sie mir nur eins aufs Maul geben wollen. Ich hab sehr lange überlegt, was ich mit ihm anstellen soll. Was mich wirklich krank macht ist, dass er nicht einmal weiß, was er getan hat. Sie war doch nicht nur ein Junkie von der Straße, sie war meine Schwester und hat sich um mich gekümmert, seit ich ein kleiner Junge war. Sie hat mich nie im Stich gelassen.“
Linn fragte, wie lange es her sei und Cy konnte die Frage nicht beantworten. In seinem Leben gab es keinen Platz für Tage, Monate und Jahreszeiten.
„Du bist ihm bis in diesen Zug gefolgt“, sagte sie, „oder war es Zufall?“
„Ich wollte ihn erledigen“, sagte Cy.
„Weshalb hast du es nicht getan?“
„Ich weiß nicht. Ich dachte plötzlich, ich könnte es anders besser machen. Vielleicht war ich auch nur zu feige.“
„Und er erinnert sich nicht einmal an deine Schwester oder an dich? Er ist so ein dummes Arschloch.“
Sie umarmte Cy, drückte ihn an sich und dachte später, dass das möglicherweise der Auslöser bei Sam Simmons gewesen sein könnte. Seine Wut und seine überzogene Reaktion. Weil er als Junkie nach Simmons Auffassung ganz unten stand und es nicht verdiente, menschlich behandelt zu werden. Sie murmelte zu Cy, dass er sich richtig entschieden habe und es ihr zeigte, dass er kaum das war, als was die homeboys ihn bezeichnet hatten.
„Wir bleiben im Zug“, flüsterte sie, „ich weiß, dass wir nicht lange durchhalten werden, aber es ist besser, als mit brennenden Füßen und Sonnenstich durch die Wüste zu irren, sobald die Magnetschienen im Flugsand verschwunden sind.“
„Ich würde mitgehen, wenn ich könnte“, flüsterte Cy, aber Linn legte ihren Mund an seinen Hals und antwortete: „Das ist eine Lüge.“
Und sie nannte seinen richtigen Namen, was Cy dazu brachte, die Augen zu schließen und zu grinsen. Als er den Kopf hob, das Kinn auf ihre Schulter stützte und dachte, dass er noch eine kleine Ewigkeit so dasitzen könnte, öffnete er blinzelnd die Augen, weil er eine Bewegung gespürt hatte in dem Raum. Er sah die Streifen des heißen Lichts, das von draußen durch die Ritzen in den Fensterverkleidungen strömte, sah jemanden einige Schritte vor sich stehen und musste noch einmal blinzeln, um ihn zu erkennen. Sam Simmons grinste, aber etwas an diesem Grinsen war falsch. Cy löste sich aus Linns Umarmung, schob sie von sich und gab ihr einen heftigen Stoß, der sie in die Ecke beförderte. Sie landete auf ihrem Hinterteil, es tat verdammt weh und sie dachte: Wenn ich noch vor zwei Wochen so hingefallen wäre, wäre ich mit Sicherheit weicher gelandet.
Sie hatte keine Zeit, sich über die plötzliche rüde Behandlung zu empören, starrte Simmons an und wollte ihm sagen, er solle den Unsinn lassen, aber Cy machte eine Bewegung nach vorn und Simmons schoss auf ihn. Der Knall war unspektakulär, Cy schlug es nach hinten ins Polster und bevor Simmons noch einmal schießen konnte, packte James ihn von hinten und drehte ihm die Waffe aus der Hand. Es roch nach Pulverrauch. Linn starrte erst Simmons und James an, die in einem kurzen Handgemenge verstrickt waren, bis James die Oberhand gewann, dann erst begriff sie, was passiert war. Ihr Verstand war furchtbar langsam geworden und selbst in den Tagen unter Ausnahmebedingungen konnte sie sich nicht schneller auf die nächste Katastrophe einstellen. Noch immer war ihr erster Gedanke: Das ist nur ein schlechter Traum. Das passiert nicht wirklich.
Aber das verdrängte sie sehr schnell, denn so wie es aussah, würde Cy innerhalb weniger Minuten verbluten, wenn sie nichts unternahm. Simmons hatte schlecht gezielt und gut getroffen.
An Cys linker Seite breitete sich ein Blutfleck aus, der mit jedem seiner Atemzüge größer wurde. Er hielt die rechte Handfläche darauf gepresst, nahm immer wieder die Hand von der Wunde, starrte auf seine blutigen Finger und versuchte erneut, das Blut zurückzuhalten. Er zeigte einen erstaunten Gesichtsausdruck, der Linn fast zum weinen brachte, weil er offensichtlich nicht verstanden hatte, was passiert war.
Sie drückte ihn in das Polster der Sitzbank zurück, sagte ihm, er solle still halten. Sein Hemd wies zwei Löcher auf, ein kleines an der Vorderseite und das zweite sehr viel größere an der Rückseite. Überall war so viel Blut, dass sie die Wunden zunächst nicht ausmachen konnte. James hockte neben ihr, reichte ihr Stofffetzen, die er bereits zurechtgerissen und geschnitten hatte.
„Es war meine Waffe“, sagte er, „sie war bei meinen Sachen. Hätte ich den Rucksack im Auge behalten, wäre das nicht passiert.“
„Er hat sich für den Arm gerächt.“
„Er sagte, wir könnten dich mitnehmen, wenn der Junkie endlich tot wäre.“
„Sag ihm, dass ich auch allein hier bleibe.“
James wollte etwas erwidern, aber er tat es nicht, weil er genau wusste, dass die Tat nicht aus diesem Grunde von Simmons verübt worden war – er war nur vorgeschoben. Er versuchte sich damit in ein besseres Licht zu rücken. Und er wusste ebenso, dass Linn ihre Meinung nicht ändern würde. Sie würde auch bei Cy im Zug bleiben, wenn er bereits vor ihrem Aufbruch am Abend tot sein sollte.
„Wie sieht’s aus?“ fragte er.
Cy lag halb auf der Seite und ließ alles willenlos über sich ergehen, Linn hatte die Wunden mit den behelfsmäßigen Bandagen zugedrückt, bis die Blutung fast zum Stillstand gekommen war. Die Austrittswunde war grob gezackt, die Wundränder ausgerissen und mit geronnenem schwarzen Blut gefüllt. Sie hatte keine Ahnung, ob die Kugel Organe durchschlagen hatte oder große Blutgefäße verletzt hatte, aber da sie sich kaum der Illusion hingab, Cy retten zu können, machte sie sich darüber keine Gedanken.
„Er wird keine Schmerzen haben“, sagte sie, „dafür werde ich sorgen.“
Sie dachte an ihren Dad, der im hinteren Teil des Zuges lag und darauf wartete, nach Hause gebracht zu werden.
Es bricht alles zusammen, dachte sie, und ich kann nichts dagegen tun. Ich darf nur nicht aufgeben. Vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und wir werden alle gerettet. In letzter Minute. Wie in einem schlechten Film aus den alten Zeiten.
Cy schien nur halb bei Bewusststein zu sein, er war bleich im Gesicht, hatte die Augen halb geschlossen und atmete flach.
„Er soll sich möglichst nicht bewegen“, sagte Vinnie. Er stand plötzlich neben James, rieb sich die Knöchel seiner rechten Faust und fuhr fort: „Die Blutung ist nicht das Problem. So, wie’s aussieht, ist kein großes Gefäß getroffen. Die Kugel hat Schmutz und Fasern des Hemdes in die Wunde getragen, das wird sich dort drin entzünden.“
„Solltest du nicht auf Simmons aufpassen?“
Vinnie machte eine Kopfbewegung nach hinten. James drehte sich herum und sah, dass Simmons ohnmächtig auf dem Boden lag. Vinnie hatte ihn ausgeknockt. Er hatte eine ansehnliche Beule zwischen den Augenbrauen, wo Vinnie ihn getroffen hatte.
„Das war einfacher, als zu versuchen, ihn die ganze Zeit festzuhalten.“
„Du hättest ruhig mehrmals zuhauen können“, murmelte Linn.
Vinnie ging neben ihr auf die Knie, flüsterte ihr etwas zu, worauf James heftiger reagierte als Linn.
„Keine Chance“, sagte James, „wenn noch jemand diese verdammte Knarre anfasst, werde ich alles andere verhindern.“
Linn starrte ihn an, behielt ihre Hände auf den Wunden, als habe sie Angst, sie könne ihn verlieren, wenn sie keinen Kontakt hielt.
„Hätten wir die Waffe schon früher gebrauchen können?“
Sie fragte nicht, wieso er mit einer Waffe auf Reisen war oder was er noch an Heimlichkeiten in seinem Koffer hatte.
„In den Händen der homeboys? Oder in Gordos Händen, der an den Wasservorrat will? Ich hätte sie für niemanden freiwillig rausgerückt.“
„Ich mache dir keinen Vorwurf.“


Linn blieb bei Cy sitzen, hielt seine Hand und achtete auf jede seiner Reaktionen, ob sich sein Zustand verschlechterte. Sie konnte nicht mehr tun als abwarten, aber das war nicht schlimm. Sie wusste, wie das alles enden würde und dass es nur eine Frage der Zeit war, wie lange sie noch durchhalten würden. Sie registrierte es kaum, als die Sonne aufging und nach dem Erscheinen der ersten Strahlen James zu ihr kam und ihr zuflüsterte, dass er jetzt verschwinden würde. Sie zogen es durch. Er und die anderen würden den Zug verlassen und durch die Wüste laufen, bis sich ihre Hirne in gekochtes Gelee verwandelten.
„Ich wünsche euch viel Glück“, murmelte sie. Sie konnte ihn nicht ansehen, sie wollte sich nicht weiter von ihm verabschieden.
„Das ist die letzte Chance“, sagte James. Er wartete einen Moment, noch immer in der Hoffnung, er könnte Erfolg haben und sie würde nicht in dem Zug bleiben wollen.
„Mach es mir nicht noch schwerer“, flüsterte sie, „ich kann den Gedanken nicht ertragen, was euch da draußen erwartet. Mein Dad hatte recht, dass wir nicht hinausgehen sollten. Er hatte recht. Es hatte einen Grund, dass der Zug stehengeblieben ist.“
„Es war ein Unfall.“
„Da draußen wirst du keine Hilfe finden.“
Endlich sah Linn auf.
„Verschwinde endlich, wenn du dich dazu entschieden hast. Du kannst mich nicht dazu überreden, mitzukommen und ich kann dich nicht dazu bringen, hierzubleiben.“
Ihre Augen glänzten fiebrig und vermutlich war es der letzte Moment, an dem sie noch klar denken und in deutlichen Worten sprechen konnte. Eine Sekunde lang versuchte James sich vorzustellen, was passieren würde, wenn er bliebe. Er konnte selbst den Gedanken daran nicht aushalten.
„Ich kann nicht bleiben. Ich muss versuchen, zu meinem Dad zu kommen, und wenn ich dazu durch die Wüste gehen muss. Alles widerspricht dem Gedanken, hier zu sitzen und darauf zu warten, dass alles zu Ende geht.“
Sie sah, dass er einen halben Kanister Wasser umgeschnallt hatte. Er würde ihn im Laufen hindern und selbst ein halber Kanister würde für die Wüste nicht reichen. James drehte sich um und verschwand aus dem Abteil. Linn versuchte den Gedanken zu behalten, dass er nur nach nebenan gegangen war. Simmons und Vinnie drängte sie aus ihren Gedanken.
Als die Hitze des Tages immer weiter anstieg, wie sie es zuvor auch getan hatte, gab Linn Cy etwas Wasser zu trinken, wischte ihm das Gesicht ab. Er war wach und versuchte zu grinsen, murmelte, dass sie das Wasser nicht an ihn verschwenden solle.
„Wir haben noch genug davon“, sagte Linn.
James hatte einen ganzen Kanister dagelassen, wohl nur, weil er mehr als einen halben sowieso nicht hätte tragen können.
„Ist Jahre her, dass ich das letzte Mal in Wasser gebadet habe“, sagte Linn, „in so viel Wasser, dass ich mit dem Kopf untertauchen konnte. Die Geräusche waren so anders unter Wasser. Weiter weg und so weich.“


Letztendlich gab es nichts mehr zu sagen. James und Vinnie packten das zusammen, was sie mitnehmen wollten und Linn hockte neben Cy, dessen Zustand sich leicht stabilisiert hatte, der sich aber sicher nicht verbessern würde. Sie hatten sich in zwei Lager gespalten, aber es machte keinen Unterschied, was sie noch an Anstrengungen auf sich nahmen. Sie standen vor dem Ende. James sagte zum Abschied, er würde mit dem Rettungstrupp zurückkommen, sollten sie es schaffen, die nächste Station zu erreichen.
„Selbst wenn die Sonne mir die Augen verbrannt hat“, sagte er.
Linn erwiderte nichts, sie nickte nur abwesend. Niemand würde kommen, um sie zu retten. Niemand scherte sich um den Zug oder um die Insassen, die verschwunden waren.
Als sie mit Cy allein war, die Sonne so rasend schnell unterging, dass die Schatten innerhalb von Minuten in den Zug krochen, wurde es wieder eiskalt.
Sie werden erfrieren da draußen, dachte Linn, selbst wenn sie sich ständig bewegen.
Sie ließ Cy nur kurz und unwillig allein, holte Decken und Mäntel heran und errichtete eine wärmende Höhle um Cy herum, der murmelnd fragte, ob sie noch Wasser hätten.
„Ich gebe dir was zu trinken, wenn du Durst hast.“
Sie hatte den letzten Kanister Wasser neben sich gezogen.
Cy hielt sie in der Bewegung zurück, der Griff seiner Hand war erstaunlich energisch, getrocknetes Blut überall an seinem Arm und an seinen Fingern.
„Nicht für mich“, sagte er murmelnd, „für die anderen.“
Linn fragte nicht, wen er meinte. Sie würde es herausfinden. Sie lagen zusammen in der wärmenden Höhle, lauschten den Geräuschen des Zuges, des Windes und des Sandes, der um den Zug herum in Bewegung war.
„Der Sand ist wie das Wasser“, sagte Linn, „wie erstarrtes Wasser in der Zeit. Die Wellen bewegen sich so langsam, aber sie bewegen sich. Ich hätte so gerne das richtige Meer gesehen. Wasser bis an den Horizont. Mein halbes Leben habe ich in den Kuppelstädten und in den Minen verbracht und konnte nicht einmal den richtigen Himmel sehen. Hier im Zug sind wir immer auf den Horizont zugefahren, aber wir haben ihn nie wirklich gesehen.“
In der Dunkelheit hielt sie eine Hand auf Cys Stirn gelegt, damit sie merkte, wenn er unruhig wurde, die andere Hand lag auf seinem Handrücken.
„Ich weiß, wer da draußen ist“, sagte Cy, sein Atem ging flach, aber er hatte keine Mühe mit dem Sprechen, „sie haben die Leute aus dem Zug geholt.“
„Werden sie uns auch holen?“
„Ich weiß nicht. Sie haben die ganze Zeit gewartet, was passieren wird mit uns. Ich hab sie durch die Zugkanzel gesehen.“
„Haben sie dich auch gesehen?“
Cy atmete konzentriert, Linn fühlte das Pfeifen in seinen Lungen durch seinen ganzen Körper hindurch.
„Sie beobachten uns, aber wir interessieren sie nicht.“
„Weißt du, worüber du sprichst? Wenn sie an uns nicht interessiert sind, weshalb...“
Ein ohrenbetäubender Schlag ging durch den ganzen Zug, wurde abgelöst von einem schmerzhaften Knirschen, Rattern und einer schiebenden Bewegung, bei der Linn sofort daran dachte, dass der Zug sich auf den verwehten Magnetschienen bewegte. Vielleicht war es auch nur ihre Einbildung. Cy sprach nicht mehr, aber er bewegte seine Hand unter ihrer, er war nicht eingeschlafen.
Über diese Dinge sprechen wir nicht, schien sein Verstummen zu sagen, sonst werden die da draußen auf uns aufmerksam. Es sind viele. Und manche sind freundlich und andere sind es nicht. So wie die, die in diesem Zug waren. Einige freundlich und andere nicht. Einige Freundliche hatten falsche Entscheidungen getroffen und einige von der anderen Seite hatten Dinge getan, die sie plötzlich in einem guten Licht hatten dastehen lassen. Mehr war es nicht, was Linn und Cy verband in diesen letzten Stunden, nur der gemeinsame Weg zwischen schwarz und weiß.
Linn trank etwas von dem schalen Wasser, gab Cy seinen Anteil. Es war so kalt, dass er das Wasser kaum schlucken konnte. Seine Wunde blutete nicht mehr, aber sie fühlte sich heiß an und selbst, wenn sie das kalte Wasser für Umschläge benutzte, wurde es nicht besser.
Warten wir einfach ab, dachte Linn, was sollen wir auch anderes tun.
„Wo ist Simmons?“ fragte Cy plötzlich, „noch im Zug?“
„Sie haben ihn mitgenommen in die Wüste.“
Cy versuchte tiefer zu atmen, machte seltsame erstickte Geräusche. Linn bekam es mit der Angst zu tun, bis sie begriff, dass er zu lachen versuchte.
„Du weißt, was sie da draußen mit ihm machen werden.“
„Das ist mir vollkommen egal.“
Über ihnen rollte und rutschte etwas über das Dach des Zuges. Linn wollte sich die Ohren zuhalten, aber Cy griff nach ihrem Arm. Selbst in der totalen Dunkelheit fand er sie zielsicher und hielt sie fest.
„Hör hin“, flüsterte er, „sie laufen auf zwei Beinen.“
Sie konnte nichts an den Geräuschen auf dem Zug deutlich erkennen, aber sie vertraute darauf, dass Cy recht hatte.
„Ich weiß nicht, ob ich vor Monstern auf zwei Beinen mehr Angst haben soll oder weniger.“
„Es sind keine Monster.“ Er drückte ihren Arm. „Sie haben sich das aus dem Zug geholt, was sie gebraucht haben. Das macht sie nicht zu Monstern.“
„Woher weißt du so viel über sie?“
„Du musst ihnen nur zuhören, dann weißt du es auch. Wir sind in ihrer Wüste. Sie bestimmen den Rhythmus.“
„Können sie uns retten?“
Cy flüsterte zurück: „Willst du gerettet werden? Ich bin froh, wenn ich die ganze Scheiße hinter mir habe. Ich hab so viel von dem ganzen chemischen Scheiß genommen, damit ich es vergessen kann. Ich bin nicht in den Zug gestiegen, um gerettet zu werden.“
„Du wolltest dich an Simmons rächen, deshalb warst du in dem Zug.“
„Vinnie hat ihm da draußen längst den Hals umgedreht. Was schade ist, denn es ist viel zu schnell vorbei.“
Sie nahmen gemeinsam die letzten von Cys Drogen, drängten sich eng aneinander und sie beide hörten das Rauschen des großen Wassers, als sie wegdämmerten. Als Linn das letzte Mal die Augen öffnete und aus der Höhle herausblinzelte, sah sie eine undeutliche Bewegung am anderen Ende des Zugabteils.
Cy hatte recht gehabt, sie gingen auf zwei Beinen und sie bewegten sich so schnell, dass ihre Augen nicht in der Lage waren, ihnen zu folgen.
In der Nacht sind sie unterwegs und bewegen sich schnell, am Tag bewegen sie sich langsam, dachte sie, schloss die Augen und tastete nach Cys Hand. Er hatte sich neben ihr auf die Seite gedreht, atmete kaum noch.
Als nach einer ewig dauernden Nacht die Sonne über der Wüste aufging, war der Zug verschwunden. Die Magnetschienen lagen unberührt von Horizont bis Horizont, der heiße Wind warf Wellenberge in die Sanddünen. Die Verbindung zu den Kuppelstädten wurde zwei Monate später noch einmal aufgenommen, aber als ein weiterer Magnetzug auf der Strecke verschwand, wurde der Verkehr eingestellt.

beendet am 09-Apr-2007
 
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Kommentare  

Schön finde ich, dass Du es selbst auch so siehst. Die Leser merken eben alles, vor allem wenn man andere Geschichten von Dir gelesen hat. Ich freu mich jedenfalls auf mehr von Dir, wann und in welcher Form auch immer.

Fan-Tasia (16.04.2009)

@ Jochen und Fan-Tasia, vielen Dank für eure Kommis. Ihr habt vollkommen recht, diese Geschichte ähnelt ein wenig einem Flickenteppich. Ehrlich gesagt, ist mir zum Ende hin etwas die Puste ausgegangen und ich wollte sie aber nicht zusammenkürzen.
Ich verspreche, dass ich eine neue Version einstellen werde, sollte ich sie bearbeiten.
Danke für eure ehrlichen Kommentare!!
Liebe Grüße


Tintentod (16.04.2009)

Überraschend war der weitere Verlauf der Geschichte und Schluss jetzt allemal, ein Ende ohne Ende. Hier finde ich mal, bleiben noch sehr viele Fragen offen und vieles im Verborgenen und ungeklärt.

Natürlich kann man den Schluss als Ende sehen und sich eigene Gedanken darüber machen und auslegen. Ich finde gut, dass man zuerst dachte, James sei die Hauptfigur in der Geschichte, aber hauptsächlich ging es ja offensichtlich dann um die Rache. Aber viele Dinge, die Du angesprochen hast oder angedeutet oder für wichtig erscheinen lässt, darauf wird nicht mehr eingegangen bzw. nicht aufgeklärt. Warum musste denn James unbedingt zu seinem Dad? Das klang so wichtig in der Geschichte, zumal es auch oft wiederholt wurde. Diese Geräusche, Schläge und Schatten um den Zug herum waren spannend gemacht, aber hat den Cy jetzt wirklich diese Gestalten gesehen? Wer oder was waren sie?, Gab es sie oder waren Cy und Linn am Ende ihrer Kräfte und von dem ganzen Zeug schon total benebelt um zu sehen, was nicht zu sehen ist? :-) Selbst wenn es nur um die Sache mit der Rache als Hauptgeschichte und Cy als Hauptperson geht, so verläuft sich das am Ende doch auch etwas unschlüssig nirgendwohin. Außerdem hätte ich doch gerne auch gewusst, ob die anderen es geschafft haben und was hat es denn mit den Zügen auf sich und warum verschwinden sie. Das sind wohl wieder ganz andere Geschichten :)

Man muss in einer Geschichte nicht alles be- und umschreiben und auch ein guter offener Schluss hat was zum Nachdenken. Ich habe ja in dieser Hinsicht viel Fantasie :-) aber hier in Deiner Welt wurde zu viel angesprochen, angedeutet, aufgeworfen, aber nicht weiter ausgeführt und deswegen teilweise zu unklar dargestellt, als dass die Geschichte schon fertig ist. Am Ende kommt mir alles so komprimiert in den Teil gepackt vor, als ob Du selbst schnell mit der Geschichte fertig werden wolltest, Bin noch etwas verwirrt, aber das regt doch auch sehr zum Nachdenken an. Die Geschichte, die Handlung, Ideen, Personen, Spannung und vor allem Deine nach wie vor sehr schöne Art zu Schreiben sind gut, aber für mich als Leser bleiben zu viele Fragen in alle Richtungen offen. Dachte echt, ich seh das vielleicht nur alleine so, aber Jochen tendiert ja auch etwas dahin :)

Ungewöhnlich ist sie wirklich die Geschichte, vielleicht bekommen wir sie ja noch mal irgendwann in einer ausführlicheren, anderen interessanten Version zu lesen und hoffentlich überhaupt noch viel mehr Geschichten dieser anderen Art.


Fan-Tasia (15.04.2009)

Ein arg trauriges Ende und eigentlich hätte ich gern noch mehr über Linn und Cy gelesen und sehr gerne auch erfahren, wer denn die sonderbaren Wüstenvölker sind. Aber ich will ja nicht jammern. Ich kann nur sagen, danke für diese wunderbar spannende und ungewöhnliche Geschichte.

Jochen (15.04.2009)

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