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19 Seiten

Ouray, Colorado - Teil 4

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Rick zog es in Bob’s Bar, die ihn an Boston erinnerte. Boston war gut, Boston war immer gut, denn es verhinderte, dass er an New York dachte.
Bob ließ ihn in Ruhe trinken. Rick bevorzugte einen Hocker an der Bar, die Tische waren besetzt und einer der Männer hatte seine Hunde mit rein gebracht. Sie lagen zu seinen Füßen, halb unter dem Tisch. Es waren deutsche Schäferhunde, hechelten vor sich hin und streckten ihre Nase schnüffelnd nach den Beinen vorbeigehender Gäste aus.
Rick tauchte an die Oberfläche, bestellte sich den nächsten Whiskey ohne Eis und warf den beiden Hunden einen fragenden Blick zu. Seine Nase begann zu kribbeln und das war keine aufkommende Erkältung.
„Die sind abgerichtet“, erklärte Bob und schwenkte die Flasche über das Glas, „aber Chuck hat sie unter Kontrolle.“
„Ja?“
Gefängniswärter lieben diese Rasse. Wedelnde Waffen, wenn man sie einmal scharf gemacht hatte. Willkommene Geschenke aus der alten Welt.
Chuck sah aus, als habe er sie unter Kontrolle, aber Rick sah auch, dass Chucky-Baby zu viel und sehr schnell trank. Er hatte irgendetwas Farbloses im Glas, die halbe Flasche ohne Etikett davon neben sich stehen und schien sich für den restlichen Tag nichts vorgenommen zu haben – außer den Inhalt dieser Flasche zu killen.
Komm denen nicht zu nahe, diese Köter sehen aus, als würden sie keinen Spaß verstehen.
Er würde von ihnen wegbleiben, selbst, wenn er sich in die Hosen pissen müsste, um auf dem Weg zur Toilette nicht an ihnen vorbei zu gehen. Es wurde noch voller in der Bar, die Plätze rechts und links neben Rick wurden besetzt.
Einer neben ihm räusperte sich, sagte „Hi, Bob“ und im Augenwinkel sah Rick, dass er von diesem Typen angestarrt wurde, als hätte er irgendetwas aus der Nase hängen. Er ignorierte es.
Ich bin nur hier, um was zu trinken, in aller Ruhe, ohne Ärger.
Was er nicht mehr ignorieren konnte, war die Stimme, die laut genug für alle Anwesenden sagte: „Wie hat dir der Knast geschmeckt?“
Rick sah sich den Kerl an seiner Seite genauer an, konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal irgendwo getroffen zu haben, zog nur die Augenbrauen hoch und überlegte noch, ob er auf diese Frage antworten sollte. Der Typ war gut gekleidet, hatte den Reißverschluss seiner teuren Jacke aufgezogen, in der Bar war es warm genug dafür; er nippte betont abwesend und gleichgültig an seinem Bier, als habe er Rick gar nicht angesprochen. Rick hasste ihn sofort dafür, dass er so seelenruhig und cool dasaß, in seinen teuren Angeberklamotten und mit seiner blöden Frisur, in der Brusttasche seiner Jacke die teure Sonnenbrille.
„Keine Ahnung, wovon du redest.“
„Soso“, kam es von dem Typen, als plauderten sie über irgendetwas Belangloses.
Arschloch, dachte Rick, wandte sich wieder ab.
Bob beobachtete die Szene misstrauisch, polierte an seinen Gläsern herum, machte nebenbei den Fernseher lauter, als einer der Gäste ihn darum bat.
„Möchte wetten, dass die Zelle ungemütlicher war als Bob’s Bar.“
„Leck mich“, erwiderte Rick.
Sein Gegenüber rutschte von seinem Hocker, baute sich vor Rick auf und wartete, bis er ihn ansah.
„Was hast du gesagt?“
„Zu wenig Sex verursacht Schwerhörigkeit“, murmelte Rick mürrisch, dann wiederholte er lauter: „Leck mich, du Idiot.“
Der Typ, dessen Namen er nicht einmal kannte, griff ihm in die Jacke und zerrte ihn mit einem kurzen Ruck vom Barhocker. Er blieb auf den Füßen, hielt das Gleichgewicht und schüttelte die Hände ab, die ihn zu halten versuchten. Er hätte weitergemacht, wenn er hinter sich nicht die Hunde gehört hätte. Das Kläffen und Knurren aus zwei Hundekehlen ließ ihn erstarren und er wandte nur vorsichtig den Kopf; die Köter waren noch immer bei Chuck, aber sie waren aufgebracht und zerrten an ihren Leinen. Chuck riss sie zurück unter den Tisch, sie kläfften trotzdem angestachelt weiter.
„Macht das draußen zwischen euch aus, David“, rief Bob, wandte sich dann Chuck zu und riet ihm, die Köter unter Kontrolle zu bringen. Chuck reagierte darauf nicht, also kam Bob hinter seiner Theke hervor und schob dabei wütend die Gäste beiseite, die grinsend die Szene beobachteten.
„Ich geh nicht mit dir nach draußen“, sagte Rick ernst, sorgte dafür, dass er die Hunde nicht mehr im Rücken hatte und behielt gleichzeitig David im Auge.
Bob und David konzentrierten sich einen Moment nur auf Chuck, der mit den Leinen hantierte, mit seinen Hunden schimpfte.
„Hat er deine Jungs wütend gemacht, Chuck? Vielleicht möchten sie ein Stück von ihm abbeißen.“
„Chuck, ich hab dir schon hundert Mal gesagt...“ begann Bob, aber Chuck schien ihm noch immer nicht zuzuhören. Möglicherweise bestand eine kleine Vereinbarung zwischen David und ihm, denn sie sahen sich nur kurz an, soweit Rick das erkennen konnte und schon zischte er den Hunden etwas zu, was sie noch lauter wüten ließ, deutlich Rick im Visier hatten und nur durch die Leinen davon abgehalten wurden, sich auf ihn zu stürzen.
Chuck schien das gewaltigen Spaß zu machen, grinste nur, als Bob ihn wütend zur Rede stellte. David warf ein, dass es doch alles nur ein harmloser Spaß sei, aber er achtete darauf, dass Rick nicht an ihm vorbei nach draußen flüchten konnte.
Einer schrie von hinten, dass man bei dem Krach den verdammten Fernseher nicht mehr verstehen könne.
Inzwischen hatte Rick sich mit dem Rücken gegen die Theke gedrängt und wartete auf einen passenden Moment, um das Weite zu suchen, aber die Hunde hatten ihn fixiert und verbellten ihn mit Begeisterung.
„Lass die Scheiße, Chuck“, forderte Bob, ohne sich nahe an den alten Kerl heranzuwagen, „wenn du deine Köter nicht sofort zurück pfeifst – sofort, verstehst du – sorge ich dafür, dass du hier keinen einzigen Schluck mehr bekommst.“
„Die Jungs machen doch überhaupt nichts“, erwiderte Chuck fröhlich.
David sah Rick abschätzig an und murmelte freundlich an ihn gewandt: „So läuft es bei uns in Ouray mit Typen, die sich nicht an die Regeln halten.“
Jemand drängte sich durch die Umherstehenden, zog im Gehen einen langen dunklen Mantel aus und machte mit ihm eine fächernde Bewegung, als wäre er ein Torero und hätte sich in der Tiergattung vertan.
Rick war zum allerersten Mal erleichtert, den Lockenkopf Herbert zu sehen, der würde sehen, was hier lief und etwas dagegen tun. Herbert wedelte mit dem Mantel vor den Hundenasen und gab ihn bellendes Geräusch von sich, schaffte es, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sie wussten einen Moment nicht mehr, wen sie nun verbellen sollten.
„David“, sagte Herbert mit dem Blick auf die Hunde, „raus mit dir. Du wartest im Wagen. Chuck, wenn du diese Drecksviecher nicht in fünf Sekunden still hast, erschieße ich sie.“
Einer der Schäferhunde schnappte nach dem Mantel, bekam ihn an einer Ecke zu fassen und Stoff riss.
Als Rick sicher war, dass die Hunde ihn nicht mehr als potentielles Opfer sahen und Chuck sie nicht loslassen würde, zog er sich rücklings auf die Theke und sprang auf der anderen Seite herunter. Die Hunde kamen nicht nach, abgelenkt von dem Mantel und von Chuck, der mittlerweile dazu übergegangen war, mit den Enden der Leinen auf sie einzudreschen.
„Sitz, sag ich, sitz. Verdammte Jungs, Schluss jetzt.“
Chuck war total erschöpft, als es ihm schließlich gelang, seine Hunde ruhig und ohne Gebell nach draußen zu bringen, sein Haar stand in alle Richtungen ab, er hatte Schweiß auf der Stirn stehen.
Du bist zu weit gegangen, sagte Herberts Gesichtsausdruck und er rief dem Alten hinterher: „Den Mantel bezahlst du mir, Chuck.“
Rick war hinter der Theke geblieben, rührte sich auch nicht vom Fleck, als Bob an seine Seite trat. David stand noch immer wie unbeteiligt herum und falls er schuldbewusst auszusehen versuchte, so gelang es ihm nicht sehr gut. Herbert betrachtete mit Sorgenfalten im Gesicht den großen Riss in seinem Mantel, hängte ihn sich sorgfältig über den Arm und sagte zu David: „Was suchst du noch hier? Sollen wir das vor Zeugen diskutieren, was du hier angestellt hast?“
„Ich habe nur Scanlon...“
Herbert schob ihn in einer freundschaftlichen Geste nach draußen, nickte Rick im Vorbeigehen zu, was nur schwer zu deuten war.
Heißt das, ich soll hier bleiben oder heißt das, ich soll verschwinden?
Bob räusperte sich überdeutlich, was wohl hieß, dass Rick hinter der Theke verschwinden solle. Er tat ihm den Gefallen, bekam einen Drink nachgeschenkt.
„Das ist der letzte für heute“, erklärte Bob, „der geht auf’s Haus, für den Schreck. David benimmt sich wieder, als wären wir im wilden Westen.“
„Weiß noch nicht mal, was der von mir wollte.“
Und woher er das wusste, setzte er in Gedanken hinzu.
Bob füllte ein paar Bierkrüge auf, kassierte und sah lange in den Fernseher, als dort eine hübsche Blondine auftauchte.
„Als Deputy nimmt er sich einfach zu viel raus.“
„Deputy?“ fragte Rick ungläubig, versuchte, einen Blick durch das Fenster nach draußen zu werfen, aber es standen zu viele Männer in seinem Blickfeld.
Klar, dachte er, logisch, woher hätte er sonst von einem Knastaufenthalt wissen sollen. Er ist Deputy.
Auf Ricks Nachfrage reagierte Bob nur mit einem Schulterzucken und deutete mit dem Kinn nach draußen, als wollte er sagen: Geh raus und red mit ihm, dann weißt du’s.
Der letzte Drink schmeckte ihm nicht besonders, sein Herz pochte noch immer wie verrückt, noch immer hatte er das scharfe Bellen der Hunde im Ohr. Und noch immer war er so wütend auf diesen Scheißkerl David, dass er am liebsten nach draußen gegangen wäre, um ihm den Scheitel gerade zu ziehen.
Er ist Deputy, buddy, keine gute Idee.
Rick verließ die Bar, zog die Jacke bis zum Kragen zu, um sich gegen den scharfen Wind zu schützen und zog den Kopf zwischen die Schultern – er trottete an dem Streifenwagen vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen.
„Moment“, sagte Herbert, „wir beide machen gleich weiter.“
Er stieg aus, pfiff Rick mit einem scharfen Pfiff durch die Zähne hinterher und rief seinen Namen. Rick drehte sich um. Herbert stand in der offenen Tür seines Wagens, einen Arm auf der Wagentür und machte ihm ein Zeichen. Rick kam zögernd einen Schritt näher, wagte sich aber nicht näher heran.
„Wir wollen Ouray in Ruhe schlafen lassen, Okay?“
Nix dagegen, dachte Rick, aber er hatte eine zwanghafte Wut in seinem Inneren, die ihn irgendwann dazu bringen würde, etwas sehr Dummes anzustellen.

„Und jetzt zu uns beiden.“
Im Streifenwagen bullerte die Heizung vor sich hin, und Herbert hätte es dort tagelang ausgehalten, wenn David nicht neben ihm gesessen hätte. Er verpestete die Luft.
„Ich weiß nicht, welcher Teufel dich geritten hat, Scanlon dort drin anzumachen.“
„Ich hab ihn nicht angemacht.“
„Lass mich ausreden. Du hast ihn provoziert, du hast nur darauf gewartet, dass er dich angreift. Ich passe auf ihn auf, während er in Ouray ist, du hast dich nicht einzumischen.“
„Er sollte die Stadt verlassen.“
„Dazu ist es zu spät.“ Herbert war müde, er war schon den ganzen Tag auf den Beinen und hasste es, ständig in der Kälte herumlaufen zu müssen. Dass der Köter seinen guten Mantel beschädigt hatte, wurmte ihn besonders und er musste sich sehr zusammenreißen, um David dafür nicht bezahlen zu lassen. Es war kein Geheimnis, dass er ihn nicht leiden konnte.
„Ich habe ein Auge auf Scanlon und du wirst dich nicht noch mal einmischen, verstanden? Kümmere dich einfach nicht um ihn. Es ist nicht deine Sache.“
„Wieso ist es deine?“
„Weil ich es mit dem Sheriff so abgemacht habe.“
David machte ein Gesicht, als hätte ihn jemand gezwungen, etwas sehr bitteres zu schlucken, aber endlich hielt er den Mund.
„Ich werde dem Boss davon nichts sagen. Dafür habe ich etwas gut bei dir. Und jetzt raus aus meinem Wagen, ich muss sehen, wo Scanlon abgeblieben ist.“

David, drei Jahre älter als Julia, hatte die Schule mit gutem Durchschnitt beendet und dann seine Familie mit der Nachricht aus den Schuhen gehauen, dass er zur Polizei wolle. Sein Vater hatte ganz andere Pläne mit ihm und erst nach langen Diskussionen hatte er seinen Segen gegeben.
„Ich will in der Stadt bleiben, Dad“, hatte David gesagt, „und was soll ich hier tun? In der Papierfabrik arbeiten? Einen Sportladen aufmachen und auf die Touristen hoffen? Ich will etwas bewegen in Ouray, selbst, wenn ich jahrelang daraufhin arbeiten muss. Ich gehe zur Polizeischule, dann bewerbe ich mich als Deputy bei Overturf. Er wird mich nicht ablehnen. Und irgendwann sitze ich auf seinem Posten. Was hältst du von dieser Vorstellung, Dad?“
Dustman fand diese Vorstellung wirklich verlockend, er war jung genug, um seinen Sohn noch als Sheriff zu erleben, gleichzeitig noch seine gutlaufenden Geschäfte führen zu können. Daraus würde er Nutzen ziehen. Das hatte David von ihm, diesen ausgeprägten Familiensinn und die Zukunftsplanung; deshalb hatte er den Wünschen seines Sohnes nicht im Weg gestanden.
David blieb als Deputy in Ouray, Julia ging nach Harvard und bereitete ihre eigene Karriere vor, aber es war deutlich, dass sie nicht nach Ouray zurückkehren würde, außer, um an Feiertagen ihre Familie zu besuchen.
Sie hatte die kleine Welt in Ouray hinter sich gelassen, war bereit, ins große weite Leben hinauszutreten und brauchte ihre Familie nicht wirklich. Julia stand auf eigenen Füßen.

Rick lief durch Ouray, kickte den Schnee vor sich her und achtete nicht darauf, wohin der Weg ihn führte. Er hielt die Fäuste in die Jackentaschen gestopft, hatte den Kopf gesenkt und versuchte die Wut, die in ihm brodelte, unten zu halten. Bis auf die Drinks, die er in der Bar gehabt hatte, hatte er den ganzen Tag noch nichts in den Magen bekommen, das machte ihn immer reizbar und wütend, selbst ohne Anlass.
Unbeirrt lief er herum, hoffte, dass die Wut verrauchen würde, aber das tat sie nicht. Es war längst dunkel geworden, in der Stadt machte sich jeder auf den Weg nach Hause, Geschäfte wurden geschlossen, überall ging das Licht aus. Es schneite wieder so wild, dass Rick kaum bis zur anderen Straßenseite sehen konnte, der Schnee sammelte sich in seinem Haar, verklebte seine Augen, ließ die Lider fast zusammen frieren, wenn er blinzelte. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt, er fror und schwitzte, konnte keinen klaren Gedanken fassen, wusste nicht, wie er dieses Zerrissensein loswerden sollte, außer, es alles heraus explodieren zu lassen. Mit zunehmender Stunde, der Dunkelheit in der ruhenden Stadt, seiner offensichtlichen Einsamkeit, gelang es Rick endlich, anzuhalten, obwohl der Teufel in ihm noch immer weiter drängte. Er stand vor dem Pinball, dachte an den dummen Typen, der ihn rausgeschmissen hatte.
Die Beleuchtung des Schaufensters war ausgeschaltet, der Laden sah aus wie jedes andere Geschäft in der Straße. Rick sah sich um, lockerte seine Schultern, lief auf die andere Straßenseite zu einer kleinen Baustelle. Ein Stück Straße an der Hausmauer war aufgerissen, Asphaltstücke und Beton lagen herum, nachlässig abgesperrt, dass niemand in das Loch trat.
Der Schnee hatte alles überdeckt, aber Rick musste nicht lange wühlen, um einen schweren Brocken zu finden, der groß genug war für sein Vorhaben. Sicherheitshalber zog er die Ärmel der wattierten Jacke über seine kalten gefrorenen Hände, obwohl er bezweifelte, auf dem rauen groben Stein Fingerabdrücke hinterlassen zu können. Es war eine reichlich dumme Aktion, aber es würde das Rattenrennen in seinem Kopf beenden, das wusste er, so war es bisher immer gewesen.
Niemand war in der Nähe, keine Seele beobachtete ihn, als er die Straße überquerte, wieder vor der Spielhölle stehen blieb, einmal durchatmete und dann den Brocken Beton, den man aus der Hausmauer gebrochen hatte, in die Schaufensterscheibe schleuderte. Bis auf den Aufprall und das gewaltige Brechen und Klirren des Glases war nichts zu hören. Keine Alarmanlage schaltete sich ein.
Rick schloss die Augen, stand bewegungslos da, atmete ruhig und ging dann weiter, als wäre nichts geschehen. Er bekam solchen Hunger, dass ihm schlecht wurde, aber er würde nirgends mehr etwas bekommen, dazu war es zu spät. Zumindest aber konnte er Sammy Joes Kühlschrank plündern.
„Ich bin nicht besoffen“, erklärte er, als er das Haus betrat, dabei nicht gerade leise war und sie polternd aus dem Bett holte.
„Nicht?“
Sie schaltete das Licht ein, er zuckte zurück wie ein aufgeschrecktes Nachttier, hielt sich mit dem Unterarm die Augen zu, bis er sich wieder an das Licht gewöhnt hatte. Er roch nach Alkohol, aber er hatte sich unter Kontrolle, natürlich nicht davon zu sprechen, dass er furchtbar aussah. Wie sie vermutet hatte, verlor er kein Wort darüber, dass die Küche wieder wie eine Küche aussah; er öffnete nur den Kühlschrank, nahm sich eines der Fertiggerichte und hätte es mitsamt der Alufolie in die Mikrowelle gestellt, wenn sie es nicht verhindert hätte. Die milde Zerstörung, die er angerichtet hatte, hatte seine Wut dämpfen können, aber sie war noch immer da; er konnte sie spüren.
Das Essen, was Sammy Joe für ihn machte, würde ihm helfen, das ganze noch etwas lockerer zu sehen. Mit vollem Magen hatte er noch nie gut gekämpft.
„Du hättest uns noch das ganze Haus abgefackelt“, bemerkte sie, hielt die Arme verschränkt und beobachtete, wie das Mikrowellengericht Blasen warf. Sehr müde war sie nicht, schließlich war sie oft genug bis früh Morgens auf Partys, also kam sie damit zurecht, mitten in der Nacht aufzustehen, weil Lassie nach Hause gekommen war.
Rick saß am Tisch, hatte den rechten Fuß auf das linke Knie gelegt und sah genauso erledigt aus, wie er sich fühlte. Er mochte nicht reden, er wollte nur etwas essen und dann schlafen gehen, aber Sammy Joe ließ ihn nicht in Ruhe.
Wenn er mich schon aus dem Bett holt, dachte sie, will ich wenigstens wissen, warum.
„Meine Tante war heute hier und wir haben das Kriegbeil begraben. Das hättest du sehen sollen.“
„Hmh“, machte Rick.
„Hast du was Besonderes angestellt heute?“
„Nee, bin nur rumgelaufen.“
„Komm schon, red mit mir. So, wie du aussiehst, hast du irgendwas angestellt.“
„Ich bekomme überall Ärger, wo ich hingehe.“
Es klang wie eine nüchterne Feststellung, aber Sammy Joe meinte, er müsse mehr darüber erzählen, denn irgendwie ginge sie diese Sache genauso an. Er war zu müde, um sich mit ihr anzulegen. Sein Essen schmeckte, als sei die Kunststoffschale mit dem Fleisch und den Beilagen eine Verbindung eingegangen, aber er aß alles restlos auf. Dazu gönnte er sich ein Bier, was Sammy Joe für ihn eingekauft und in den Kühlschrank gelegt hatte.
„Davon willst du nicht wirklich was wissen wollen, Sammy.“
„Vielleicht ja doch?“
Selbst die skifahrende Schlampe hatte er eingeweiht, wenn auch nur, um sie zu schockieren und endlich loszuwerden, er hätte lügen können, was ihm noch nie schwer gefallen war. Aber es war, als würde er ein stummes Zeichen sehen, dass es in Ordnung sei, etwas zu erzählen. Diese Zeichen hatten Mascot und er perfektioniert; ein Heben der Augenbrauen, ein kurzes Grinsen, ein Nicken oder ein kaum sichtbares Kopfschütteln, ein Verdrehen, ein Aufblitzen der Augen. Sie hatten es beherrscht, ohne es jemals wissentlich einstudiert zu haben. Diese perfekte Übereinstimmung mit einem Freund vermisste Rick so sehr, dass selbst dieser Schmerz ihn wieder wütend werden ließ.
Er hatte nach dem Unglück die Stadt verlassen, um Hollis und Dom nicht mehr sehen zu müssen. Allein glaubte er, es besser ertragen zu können.
Sammy Joe mochte nicht viel Ahnung haben, aber sie wuchs in einer Kleinstadt auf und wusste, dass nicht immer alles so glatt lief, wie man es sich vorgestellt hatte, dass die eigenen Möglichkeiten und Chancen gering waren, das eigene Leben zu verändern, egal, was man von außen auch gesagt bekam, was man nicht alles erreichen konnte, wenn man sich nur anstrengte. Manchmal brauchte man schon alle Energie, die man aufbringen konnte, um den Kopf über Wasser zu halten und nicht zu ertrinken.
„Ich war lange in New York“, begann Rick zwischen den einzelnen Bissen, „weil wir dachten, wir könnten dort ’ne Menge Kohle machen, aber wirklich geschafft haben wir das nie. Wenn wir Geld in den Fingern hatten, haben wir es sofort zum Fenster rausgeworfen, einfach nur so, wir haben es nie geschafft, etwas beiseite zu legen. Das war was für alte Kerle, die sich um den nächsten Tag Sorgen machen. Eine Zeitlang hatten wir einen Schrottplatz in New Jersey, aber das ist nur ein paar Monate gut gegangen, dann sind wir aufgeflogen und wir hatten Schwein, dass die Bullen uns nicht erwischt haben. Wir waren immer zu dritt unterwegs und wir waren so.“ Rick führte die beiden Zeigefinger seitlich zusammen und deutete auf Sammy Joe.
„Ich bin abgehauen, weil jemand umgebracht worden ist. Es war meine Schuld.“
Sein Gesicht war weich, als er versuchte, seine Gefühle zu verbergen und mehr konnte er dazu nicht mehr sagen, er verstummte aus Angst, mehr zu verraten, als er eigentlich wollte. Die Erinnerung an diese Nacht war wieder in seinem Kopf, die Schüsse, die Geräusche in der Straße, es war wieder da und verfolgte ihn. Das war der Fluch, der auf ihm lag; dass er einfach nicht verarbeiten konnte, was passiert war.
Sammy Joe war klug genug, ihn einen Augenblick allein zu lassen, damit er sich wieder fangen konnte. Sei musste selbst erst einmal mit diesem unerwarteten Geständnis fertig werden. In ihrem Schlafzimmer wanderte sie auf und ab, bis sie müde genug war, um sich wieder ins Bett zu legen, aber dann doch nicht schlafen konnte.
Er hat jemanden umgebracht, dachte sie, dann ist er davongerannt und streunt seitdem durch das Land. Es hat ihm weh getan, davon zu sprechen, dass hab ich gesehen, aber er hat es getan. War es ein Mann oder eine Frau? Himmel, kann ich überhaupt noch in diesem Bett mit ihm schlafen, ohne ständig daran denken zu müssen?
Es erstaunte sie, wie einfach es war, nicht daran zu denken, was Rick in New York getan hatte. Frauen konnten das besser als Männer; sie verdrängten sehr erfolgreich die unangenehme Prozedur der Geburt und waren deshalb in der Lage, Babys am laufenden Band zu bekommen.
Rick schlief neben ihr ein und sie tat so, als hielte sein Schnarchen sie noch stundenlang wach.
Nur nicht daran denken.
Der Wagen der Müllabfuhr weckte sie, als er an dem Haus vorbeipolterte, sie entdeckte, dass sie im Schlaf an Rick heran gekrochen war und sich förmlich an ihm festhielt. Sie seufzte und schlief wieder in.

Aimee kaufte Färbemittel für Sammy Joes Haar und verpasste ihr die Packung. Sammy Joe saß im Badezimmer auf einem Hocker, hatte ein Handtuch um die nackten Schultern und trug nur Slip und BH. Auf der Umrandung der Badewanne standen ein Aschenbecher und der Wecker aus dem Schlafzimmer, um die Einwirkzeit der Farbpackung zu überwachen. Aimee wischte an kleinen Farbspritzern herum, die auf ihren Unterarmen gelandet waren und wollte wissen, wo Rick sei.
„Er sagt mir nicht, wo er hingeht.“
„So viele Möglichkeiten haben wir hier ja nicht.“
„Vielleicht läuft er nur herum. Seine Art von Partys, verstehst du?“
„Nee“, sagte Aimee.
Sie klopften die Zigaretten in den Aschenbecher, Sammy Joe warf einen Blick auf den Wecker. Seit sie einmal beim Färben eingeschlafen und ihr dann das Haar Strähnenweise ausgefallen war, achtete sie sehr genau darauf, dass die Einwirkzeit nicht überschritten wurde.
„Er ist unterwegs, weil er die Bewegung braucht, das glaube ich jedenfalls. Er ist keiner, der gerne herumsitzt. Aber da ist was ganz anderes, worüber ich die ganze Zeit nachdenke.“
„Du hast dich doch nicht etwa ernsthaft in ihn verknallt.“
Was wäre daran so schlimm? dachte Sammy Joe.
In zehn Minuten musste die Packung runter und ihre Haare würden wieder in einem glänzenden blau-schwarzen Ton erscheinen. Sie versuchte, an ihre neue Haarfarbe zu denken, um sich von dieser anderen Sache freizumachen – Ricks Geständnis.
„Ich mag ihn, aber mehr auch nicht. Aimee, er hat mir etwas erzählt und darüber komme ich nicht hinweg. Versprichst du mir, dass du es niemandem erzählst?“
Aimee zeigte ein empörtes Gesicht und erwiderte, dass Geheimnisse bei ihr schon immer gut aufgehoben gewesen seien.
„Rick hat mir erzählt, dass er in New York jemanden umgebracht hat.“
„Oh-was? Wen?“
„Das weiß ich nicht, Mensch. Ich hab nicht gefragt, was passiert ist, mir reichte dieses Geständnis. Was soll ich jetzt machen?“
Aimee drückte ihre Zigarette aus, beugte sich zu Sammy Joe herunter und sah sie zweifelnd an.
„Was sollst du schon machen? Entweder schmeißt du ihn raus oder er bleibt hier. Traust du ihm so was zu?“
„Keine Ahnung, was ich ihm zutrauen kann, aber ich will nicht, dass er verschwindet. Ich hab keine Angst vor ihm, er sieht ja auch nicht aus wie ein irrer Axtmörder.“
Aimee drückte ihren Kopf über den Wannenrand, ließ das Wasser laufen und rief ihr ins Ohr: „Irre Axtmörder sehen nie aus wie irre Axtmörder, Sam. Würde es dir auch reichen, wenn er dich verprügelt, nur weil du ihm die falsche Antwort gibst?“
„Versprich mir, dass du es niemandem erzählst.“
„Wird dein Axtmörder sonst böse?“
Zur Antwort ließ Sammy Joe einen Schwall Wasser in Aimees Richtung schwappen, spülte das Haar aus, schwang sich das Handtuch um den Kopf und zeigte drohend auf ihre Freundin.
„Ich will darüber keine Witze hören, Okay? Ich mache mir genügend Gedanken darüber, was da passiert sein könnte, ich grüble darüber nach, ob er es wieder tun würde. Ob er die Kontrolle verliert, wenn ich ihn wütend mache, ohne es zu wollen.“
Sie dachte daran, wie er sie in den Schnee gedrückt und festgehalten hatte, an den kurzen Moment der Angst, der aber nur mit ihrer eigenen Erinnerung etwas zu tun hatte.
„Dann sieh zu, dass du ihn nicht reizt, oder dass du nicht mit ihm allein bist.“
„Willst du nachts zwischen uns liegen?“
„Besser nicht, im Dunklen könnte er uns verwechseln.“
Sammy Joe verließ das Bad, das Handtuch zu einem Turban gedreht, sie suchte nach einer neuen Packung Zigaretten, lief dazu bis ins Schlafzimmer. Als sie zurück war, sagte sie: „Er war sehr nervös, als er es mir gesagt hat, nervös und traurig, er hat damit nicht angegeben. Deshalb bleibt er hier und deshalb wird niemand was davon erfahren, klar?“
„Ich kann schweigen wie ein Grab.“
Sammy Joe packte ihre Haare aus und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.

Julia Dustman traf sich im Deli mit Elliott, der ein ganzes Stück außerhalb von Ouray in den Bergen ein Skihotel betrieb, damit zwar keine großen Sprünge machen konnte, sich aber deutlich von den kleinen Arbeitern und Angestellten abhob. Er war mit einem Schneemobil in die Stadt gekommen, hoffte inständig, dass der Skyrocket Creek bald geräumt sein würde, da seine Gäste keine Chance hatten, nach Ouray anzureisen, um ihren Urlaub anzutreten, außer, sie hatten das Geld um einen Hubschrauber anzumieten und sich einfliegen zu lassen.
Sein Haus war fast leer, die Skipisten waren ein Paradies für diejenigen, die noch da waren.
„Nur deshalb habe ich Zeit, mit dir zu essen“, sagte er grinsend und Julia erwiderte: „Wie charmant von dir.“
Sie aßen und dann lud er sie zum Abend in den Ballroom ein, um ein wenig zu tanzen und zu sehen, was die anderen in der Stadt so trieben. Was Julia davon dachte, war nicht besonders nett, aber es traf auf die meisten zu.
Was sollen die schon machen? Sind alle arbeitslos, werden Alkoholiker und bekommen Kinder wie die Karnickel, ohne verheiratet zu sein. So läuft das hier in Ouray und unsere Abschlussklasse ist keine Ausnahme.
Sie wollte nicht tanzen, aber Elliott hatte Recht, als er fragte, was sie denn stattdessen machen wolle – also sagte sie zu.
In Ordnung, gehen wir tanzen.

Jeden Freitagabend waren Sammy Joe und Aimee im Ballroom, schon seit sie alt genug waren, um hineingelassen zu werden. In den guten Zeiten waren Touristen zum tanzen und flirten da, die sich unter die Einheimischen mischten, brachten etwas Farbe und Großstadtflair mit, aber es immer wieder mitnahmen, wenn sie verschwanden. Nachdem Sammy Joe schlechte Erfahrungen gemacht hatte mit den netten jungen Männern aus Texas oder Iowa oder wo immer sie zu Hause waren, hielt sie sich etwas bedeckt, aber flirten mochte sie noch immer gern. Diesmal würde Rick sie begleiten und obwohl er gesagt hatte, dass er nicht tanzen würde, konnte der Abend nur gut laufen.
Im Ballroom war immer ausgelassene Stimmung bis an den Rand der Anarchie, was dann aber exakt mit der Sperrstunde um ein Uhr endete und alle ganz brav und gesittet nach Hause oder ins Hotel gingen.
„Laufen da alle so rum wie ihr beide?“ fragte Rick beim Anblick seiner weiblichen Begleitung. Aimee erwiderte mit erhobenem Kinn: „Wir sind einzigartig in Ouray. Niemand läuft so herum wie wir.“
Sie kicherten darüber, was Rick zum grinsen brachte, es ließ ihn an den freundlichen Sommertag denken, den sie in ihrem Dreierbund am Strand von Coney Island verbracht hatten, weil es in Manhattan nicht zum Aushalten gewesen war. Relativ betrunken vom Whiskey, den sie mit Orangensaft gemischt hatten, waren sie durch den heißen Sand gelaufen, hatten sich auf dem Bootssteg gelegt, ohne einen Gedanken an morgen. Hollis hatte sich seine weiße Pelle verbrannt, verwünschte seine roten Haare und in der Nacht hatten sie noch stundenlang nach einem offenen Drugstore gesucht, um irgendeine Brandsalbe kaufen zu können. Rick dachte daran und grinste wieder, wie Hollis sich wie eine zimperliche Jungfrau angestellt hatte, als sie ihm die krebsroten Schultern und Rücken eincremen wollten. Mascot war an diesem Abend total besoffen gewesen, kaum noch in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen oder sich aufrecht zu halten. An diesem Abend hatte er schnarchend auf der Rückbank des geklauten Autos gelegen und Hollis und Rick schlossen Wetten darüber ab, was seine ersten Worte sein würden, wenn er aufwachte. Diese Erinnerung ging in den Teil über, der bei Berührung noch immer weh tat, denn Mascot würde nie wieder mit einem Kater aufwachen und stöhnen: ‚Oh Fuck, mein Totem, nimm diesen Schmerz aus meinem Kopf’.
Wenn diese Erinnerung an Mascot und an die alten Zeiten, die endgültig vorbei waren, zu heftig wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als irgendetwas irrationales zu tun, um seine Gedanken auf etwas anderes zu bringen. Manchmal reichte es schon, jemanden wütend zu machen oder zu Tode zu ängstigen, aber diesmal, als Sammy Joe und Aimee vor ihm herumtanzten, noch immer nicht fertig waren und sich wie Hühner benahmen, fiel ihm nichts ein, was er hätte tun können. Er wollte sie nicht ängstlich sehen.
Sammy Joe bemerkte seinen seltsamen Gesichtsausdruck; als wäre eine Gans über sein Grab gelaufen – von rechts nach links und wieder zurück. Ihre Mom hatte das immer gesagt und Sammy Joe dazu angehalten, stets ein freundliches zufriedenes Gesicht zu machen, egal, ob sie sich danach fühlte oder nicht. Der Anstrich war in ihrem Leben immer das wichtigste gewesen.
„Los“, sagte Aimee, als sie endlich fertig waren, „gehen wir tanzen.“
„Ich hoffe, bei eurer Musik wird mir nicht das Blut aus den Ohren kommen.“
Der Ballroom war nichts weiter als eine ausgebaute große Garage mit greller Deckenbeleuchtung, einer Tanzfläche und viel Platz zum herumstehen drum herum; die Getränke waren billig, aber natürlich gab es keinen Alkohol. Das tat der Stimmung keinen Abbruch, denn jeder versorgte sich selbst mit den nötigen Umdrehungen, schon bevor man den Ballroom betrat. Nur wenige Touristen waren an diesem Abend dort, kaum ein Duzend junger Leute, die nicht weiter auffielen und ebenso wie Rick Scanlon in Ouray festsaßen.
Rick fiel auf, dass Sammy Joe einen Ruf weg hatte, schon, als sie den Schuppen betraten. Sie zogen ihre dicken Jacken aus, legten sie irgendwohin, wo man sie erst nach stundenlanger Suche wieder finden würde. Einige der Jungs, die zu ihr herüberwinkten und ihr Luftküsse zuwarfen, benahmen sich, als hätten sie sie all schon einmal in Unterwäsche oder noch weniger gesehen – und als wüssten sie, dass sie nicht die einzigen waren. Es war in den Blicken, die sie ihr zuwarfen.
Hi Sammy Joe, nett, dich mal wieder zu sehen. Wenn du’s brauchst, ich stehe zur Verfügung, du weißt schon. Jeder weiß doch, dass du nicht nein sagen kannst.
Rick konnte diese Gedanken hinter ihren Augen sehen, aber es ärgerte ihn nicht. Bei Sophie hätte es ihn rasend gemacht, aber Sammy Joe war nicht Sophie, nicht einmal annähernd. Sie hatten gar nichts gemeinsam, spielten nicht in derselben Liga und das war der Grund, weshalb Rick einigermaßen bedenkenlos mit Sammy Joe umgehen konnte. Obwohl er Sophie sitzengelassen hatte in New York, dachte er erstaunlich selten an sie.
Dafür denkt sie umso mehr an dich. Immer, wenn etwas Ruhe eintritt, versucht sie sich vorzustellen, wo du bist und was du gerade machst, ob du noch lebst und ob es dir gut geht. Ob du wieder bis zum Hals in der Scheiße steckst. Sie trifft sich mit Dom, um ihn zu fragen, ob er etwas gehört hat, um ihm zu sagen, wie schlecht es ihr geht, obwohl du schon seit fast einem Jahr weg bist und sie sich langsam daran gewöhnen müsste.
Sie holten sich etwas zu trinken, bei der lauten Musik erübrigte sich jede Unterhaltung und Rick dachte, dass er Sophie ganz kurz anrufen könnte. Wenn er den richtigen Zeitpunkt abpasste, würde er ihr etwas auf den Anrufbeantworter sprechen können, ohne dass sie an den Apparat stürmte und schrie: ‚Wo bist du, verflixt und zugenäht? Hast du eine Ahnung, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Wie konntest du nur?’
Er würde auf den Anrufbeantworter sprechen, mit einer ganz normalen Stimme (vielleicht etwas ruhiger und besser gelaunt als sonst) um ihr zu zeigen, dass wirklich alles in Ordnung war mit ihm. Sophie konnte selbst durch eine Telefonleitung hören, wenn etwas mit ihm nicht stimmte.
Hi mariposa, würde er sagen, ich bin noch immer unterwegs, aber mir geht’s gut, wirklich.
Das kauft sie dir nicht ab, buddy, sie weiß, was passiert ist. Sie weiß, dass es dir nicht gut gehen kann. Mach ihr nichts vor.
Sammy Joe und Aimee schleppten ihn in den hinteren Teil des Ballrooms, von dem sie behaupteten, dass es dort gemütlicher sei, aber Rick konnte keine große Veränderung feststellen. Die Musik war genauso laut wie bisher, aber wenigstens konnte da noch jemand singen und zumindest ein Instrument spielen, was nicht über eine Computertastatur bedient wurde.
Die große Tanzerei hatte noch nicht begonnen, man stand noch lässig und cool umher, unterhielt sich schreiend und versuchte einen Überblick zu bekommen, wer alles da war an diesem Abend. An den Wänden hingen alte und neue Konzert- und Kinoplakate, einige wirkliche Raritäten darunter, die aber allesamt speckig und gelb aussahen. Die Jugend von Ouray rauchte wie eine geschlossene Kompanie von Fabrikschloten und würde es wohl auch weiter tun, es hinterließ überall seine Spuren, nicht nur in den Lungen der kids.
Rick hielt die Augen offen, trank seinen Dr. Pepper, den er sich wohl nie abgewöhnen konnte, weil er immer daran denken musste, wie Hollis sich jedes Mal den Finger in den Hals steckte und laut würgte, wenn er dieses Zeug trank.
Aimee bändelte mit einem freundlich aussehenden jungen Mann an, der einen ganzen Kopf größer als sie war, Sammy Joe dagegen blieb an Ricks Seite und brüllte ihm ins Ohr, ob er es cool fände, wie es in dem Ballroom zuging.
„Hab’s mir schlimmer vorgestellt“, schrie er zurück.
Er nickte und wippte ein wenig zu Musik, hatte aber nicht vor, seinen Platz zu verlassen, außer vielleicht, um den Doktor nach draußen zu bringen.
„Oh“, machte Sammy Joe und zupfte an seinem Ärmel, „da drüben ist Julia.“
Julia stach in dieser Hütte hervor wie eine Elfe unter verwachsenen Zwergen; sie trug einfache Jeans und einen weißen Pullover, aber es war etwas an ihr, was sie vom Rest abhob. Jeder konnte es sehen und es machte Julia umso sympathischer, dass sie sich so normal unter ihren Freunden bewegte und sich nichts darauf einbildete. Sie stand nur einige Meter von Rick und Sammy Joe entfernt, war halb umringt von Gleichaltrigen, die ihr etwas mitteilen wollten, es aber bei der dröhnenden Musik damit nicht einfach hatten. Sie lächelte noch immer und neigte den Kopf etwas, um konzentrierter zuhören zu können, dann lachte sie und erklärte mit einem Schulterzucken und einer Handbewegung, dass sie noch immer nichts verstanden habe.
Als sie einen kurzen Blick in die Runde schweifen ließ, hob Sammy Joe die Hand und winkte zu ihr hinüber und Julia nickte und winkte mit der linken Hand zurück.
Der Lichtersturm, der in Ricks Kopf stattfand, war so kurz, dass er ihn wegblinzeln konnte, aber er war umso intensiver. Etwas hatte sich eingeblendet in seine Gedanken, als habe er in das Blitzlicht eines Fotoapparates gesehen. Er konnte Julia erahnen in diesem Bild, das sich nur zögernd zu bewegen schien, der Film lief zu langsam ab. Julia trug ihr Haar nicht glatt und offen und wie jetzt, sie hatte es am Hinterkopf zusammengesteckt und seitlich ihres Gesichts zwei Strähnen herunterhängen, die in kleinen Löckchen endeten. Es sah sehr edel aus, wenn Rick auch nichts weiter als diese Frisur deutlich erkennen konnte. Andre Details waren ausgeblendet. Sie hatte das Haar hochgesteckt und sah hektisch aus, so hektisch, dass sie nahe dran war hysterisch zu werden. Sie wurde nicht angegriffen, es war kein Unfall passiert – Rick fühlte, dass sie einfach nur etwas gemacht hatte, was nicht ans Licht hätte kommen dürfen, sich dann aber Murphys Law eingeschaltet hatte und es doch raus gekommen war.
Was hat das verdammt noch mal mit ihrem Haar zu tun?
Nachdem dieser Geistesblitz nicht wiederkam oder sich weiterentwickelte, war es ihm egal und er konzentrierte sich wieder darauf, die Augen offen zu halten, um rechtzeitig verschwinden zu können, falls Overturf hereinmarschieren sollte.
Sammy Joe wollte tanzen. Sie hatte ihre Füße ihn etwas hochhackiges gezwängt und wollte jetzt unbedingt so lange tanzen, bis ihr jeder Fußknochen einzeln weh tat, aber Rick erwiderte, das könne sie allein tun und er würde schon zurechtkommen.
Die Musik war eine bunte laute Mischung aus alten Heulern, die man auf jeder Party in Helsinki und in Burkina Faso hören konnte, dazu gesellten sich noch einige Songs des aknenarbigen Kanadiers und Garth Brooks, bei dessen Songs die ganze Halle mitgrölte. Rick hasste Brooks, aber wenn ihn jemand gefragt hätte, weshalb, hätte er es nicht erklären können.
Sammy Joe ging tanzen, traf sich hüftschwingend mit Aimee und die beiden hatten viel Spaß. Als ein paar Rapsongs gespielt wurden, verwandelten sich alle auf der Tanzfläche in herumgestikulierende kleine schwarze Verbrecher, die sich so cool und unverwundbar fühlten, als wäre Tupac Shakur noch unten den Lebenden und nicht ein Engelchen auf einer Wolke. Rick fand dieses Gehabe sehr komisch, vor allem, weil er wusste, dass die meisten diese Weißbrotfresser nichts Schlimmeres auf dem Kerbholz hatten als kleine Prügeleien und ab und zu einen Joint, bevor sie mit ihrer Freundin schliefen. Dieses Streetganggehabe wirkte nur gefährlich, wenn man dabei auch ein Streetgangkid war und die erkannte man auf dem ersten Blick. In New York hatten sie mit denen relativ wenig Ärger gehabt, zwar hatten sich ihre Wege gekreuzt, aber man war sich nicht ins Gehege gekommen.
Wäre David Dustman nicht aufgetaucht, hätte sich wohlmöglich alles anders entwickelt in Ouray. Rick dachte später, dass David vielleicht der Auslöser des blinks gewesen sein könnte. Manchmal warnte ihn sein System auf seltsame Art und Weise.
Rick hatte David schon von weitem durch die tanzende Menge hindurch erkannt, nur einen Moment daran gedacht, sich zu verstecken oder einfach an die frische Luft zu verschwinden, aber er traf seine Entscheidung und die war wie meist falsch.
Es gibt Menschen, die nicht wirklich schlecht sind, sie treffen nur die falschen Entscheidungen. Sie versuchen mit aller Macht, gut zu sein und nur gutes zu tun, aber wenn sie vor einer Entscheidung stehen, treffen sie die falsche Wahl und alles geht nach hinten los.
Rick Scanlon war Olympiareif in Sachen falscher Entscheidungen und falscher Wege.
Soll er mich sehen, dachte er, soll er doch versuchen, mich hier anzumachen. Diesmal helfen ihm keine Köter.
Richtige Entscheidungen konnten dazu führen, dass man einen neuen Kontinent entdeckte und in die Geschichtsbücher einging, aber einmal daneben getippt konnten sie einem nichts weiter vermachen als einen Platz in einem anonymen Massengrab.
David war entweder ein guter Schauspieler oder er hatte Rick wirklich noch nicht entdeckt; er war auch eigentlich nur in den Ballroom gekommen, weil er wusste, dass Elliott seine Schwester hierhin einladen würde.
Seit Julia studierte und nicht mehr zu Hause wohnte, war er aus ihrem Leben ausgeschlossen und er wollte wissen, was sie machte und mit wem sie sich herumtrieb, wenn sie wieder zu Hause war. Manchmal mussten große Brüder auf ihre kleinen Schwestern aufpassen, egal, wie alt sie waren.
David sah Julia am Rande der Tanzfläche, drängte sich seitlich durch eine Gruppe herumstehender Typen, die nur Mist im Kopf hatten und so deutlich nach Fusel rochen, dass David sie am liebsten von der Party befreit hätte. Die Jungs verstummten, als er mit der Schulter voran durch ihre Mitte schritt, machten einen Schritt zurück und schienen den Atem anzuhalten; sie erwiesen ihm keinen Respekt, sie fühlten sich nur nicht wohl in seiner Nähe. Wie auf Kommando setzte die Musik einen Moment aus und einer der Jungs, betrunken und lebensmüde, grinste breit, legte den Kopf schief und sah David von der Seite an und bevor seine Kumpels es verhindern konnten, sagte er: „Hey, Dave! Heute in Zivil unterwegs?“
Irgendjemand lachte unterdrückt, versuchte es schnell mit einem Husten zu kaschieren. David konnte nichts Komisches daran finden und knöpfte sich den Witzbold vor; er kannte Dash noch von der Schule, wo er einer von der stillen Sorte gewesen war, aber wenn er was zu sagen gehabt hatte, war es eingeschlagen wie eine Granate.
„Dash, im Gegensatz zu dir habe ich einen Job, Okay. Und den erledige ich, selbst wenn ich meine Uniform nicht trage.“
Dash grinste noch immer, als habe er ein Ess-Stäbchen quer verschluckt, hob Hände und Schultern gleichzeitig.
„Hinter wem bist du denn her, Dave?“
Einer seiner Kumpels stieß ihm heftig den Ellebogen in die Seite, aber bis auf ein kurzes Zucken reagierte er darauf nicht. Er benahm sich, als hätte er mal wieder eine verrückte Wette abgeschlossen.
David wollte sich auf diese dummen Mätzchen nicht weiter einlassen, bedachte Dash nur mit einem feindseligen Blick, drehte ihm den Rücken zu und als er endlich bei seiner Schwester angekommen war, sah er Rick Scanlon im Augenwinkel. Er stand nahe der Rückwand des Ballrooms, hatte eine Hand in die Hosentasche geschoben und sah ihm einfach nur entgegen. Er hatte einen Gesichtsausdruck, bei dem man sehr deutlich den ausgestreckten Stinkefinger sehen konnte – schau hier her, David, du kannst mich mal kreuzweise.
David musste sich zwingen, ruhig und gelassen zu bleiben, wo Herbert ihm schon vor ein paar Tagen das Fell über die Ohren gezogen hatte wegen Scanlon.
Lass dich nicht provozieren, du erwischst ihn schon noch irgendwo allein, wo niemand Zeuge ist. Und dann hast du das Sagen.
Es kostete ihn wirklich Überwindung, Scanlon einfach so stehen zu lassen und nichts zu unternehmen; er nahm seine Schwester beiseite und redete auf sie ein, ließ dabei seine Blicke weiterhin unauffällig durch den Raum schweifen.
„Was hat der Idiot da mit Julia zu tun?“ fragte Rick, nachdem Sammy Joe vom Tanzen zurückgekommen war. Sie war außer Atem, zupfte an ihrem Haar herum, konnte nicht aufhören, sich zur stampfenden Musik zu bewegen und erwiderte sehr nüchtern: „Er ist ihr Bruder.“
„Heilige Scheiße.“
 
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Kommentare  

Rick muss sich sehr vor David und Chucks Hunden in acht nehmen. Ricks Vergangenheit scheint düster. Er gesteht Sammy Joe in einen Mord verwickelt zu sein. Sehr spannendes Kapitel.

Jochen (02.06.2009)

Ich könnte einfach stundenlang daran weiter lesen, was die Personen da so denken, erzählen und erleben, weil Du ihnen allen auch so was einzigartiges gibst und durch Deine hervorragenden Formulierungen die Gespräche und Gedanken auch oft sehr weise und witzig zugleich sind. Eine sehr schöne Mischung von allem. Ich find das super.

Fan-Tasia (28.05.2009)

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