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4 Seiten

Ein pathologischer Fall

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
© locksmith
Centrik erwachte aus einem Traum voller Frieden und Glückseligkeit, und fand sich im selben Moment auf brutale Weise in die eiskalte Realität seines Schlafzimmers zurückgeworfen, die ihm so altbekannt, und doch gleichzeitig so grausam und unbarmherzig erschien. Er hätte sich am Liebsten noch tiefer unter seine Bettdecke verkrochen und sein Angesicht von der Tageshelle des Fensters abgewendet, aber ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass sein Wecker jeden Augenblick läuten würde, und so bestand wenig Hoffnung, dass er seinen wunderschönen Traum würde weiterträumen können. Stattdessen beugte er sich zu seinem Handy herab und schaltete den Alarm aus, der auf 10.30 Uhr eingestellt war. Die Zeiten, wo ihn sein Handy weckte, variierten zwischen 8.30 und 11.00 Uhr, je nachdem, wann Centrik schlafen ging. Meistens rechnete er einfach neun Stunden von diesem Zeitpunkt auf, in der Annahme, er würde ungefähr so lange brauchen, um ausgeschlafen zu sein. Tatsächlich gab es allerdings keinen echten Grund, weshalb er überhaupt aufstehen sollte. Seinen einzigen Job, ein geringfügiges Praktikum in einer Rechtsanwaltskanzlei, hatte er schon vor langer Zeit gekündigt. Von allen Prüfungen und Lehrveranstaltungen, die er für dieses Semester geplant hatte, hatte er sich bereits abgemeldet. Kurz: er hatte sich von all seinen Verpflichtungen eigenhändig freigestellt, und hatte doch sein eigentliches Ziel verfehlt: sich tatsächlich auch frei zu fühlen.
Also wie konnte man seine alltäglichen Aufgaben beschreiben? Zunächst einmal stand er auf, und das alleine war schon schwierig genug. Da es zu dieser Zeit Winter war, war es frühmorgens oft kalt und so war die Vorstellung, stattdessen lieber in seinem körpergewärmten Bett zu verweilen, sehr verlockend. Wenn er es dann doch irgendwann geschafft hatte, schaltete er zuerst die Zentralheizung ein. Danach zündete er das Feuer auf dem Herd an und machte sich einen Tee. Die Zeitung, die zu dieser Zeit meistens schon auf seinem Tisch lag, durchflog er ohne rege Teilnahme seines noch verschlafenen Bewusstseins. Im Endeffekt war es doch immer nur das Gleiche, was auf diesem Erdenrund geschah. Hier ein Selbstmordanschlag, dort ein neu gewählter Präsident, hier eine Statistik über die Einbrüche in der Stadt, dort eine Expertise über die steigende Ausländerzahl und die aliquot steigende Zahl der Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung. Nachdem sich Centrik also davon überzeugt hatte, dass offenbar auch die heutige Zeitungsausgabe es nicht vermochte, seine Weltsicht in irgendeinem Punkt zu korrigieren, warf er selbige wieder zurück auf den Tisch und machte sich daran, seinen Tee zu genießen. Dies tat er meistens nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer, wo auch sein Laptop stand, den er etwa eine viertel Stunde nach Beginn der Centrikschen Tageszeitrechnung einschaltete. Sodann überzeugte er sich davon, dass sich nur Spam und Werbung in seinem E-Mail-Eingang befanden. Schließlich machte er sich an seine Arbeit.
Doch leider, wie gesagt, hatte Centrik gar keine Arbeit, keine Beschäftigung im engeren Sinn, keine Sache, in die er sein Herzblut gießen oder woran er sein Leben setzen konnte. Ihm war tatsächlich alles völlig gleichgültig. Selbst das Bücherlesen, das einst zu seinen großen Leidenschaften gezählt hatte, hatte er schließlich aufgegeben, da er ohnehin schon alles wusste, was er selbst irgendwie für bedeutungsvoll erachtete. So hatte er all die großartigen Philosophen gelesen, zuerst Kant, dann die deutschen Idealisten Schelling, Fichte und Hegel, dann die Anti-Hegelianer Stirner und Kierkegaard, danach ausgiebig die „guten Pessimisten“ Schopenhauer und Cioran und schließlich den „bösen Pessimisten“ Nietzsche. Und bei Nietzsche hatte er dann mit der Philosophie gebrochen: Gott ist tot! Alle Erscheinungen im Zuge der Aufklärung waren nur motiviert durch den Phantomschmerz dieser säkularen Amputation und jede Vorstellung von Wahrheit, ja bereits jede Suche danach war im Kern nichts anderes als Gläubigkeit, der Wunsch nach einer neuen über-irdischen Hörigkeit, dem die Menschheit doch bereits mit Kants Rede über die zu erstrebende „Mündigkeit“ eine entschiedene Absage erteilt hatte. Nun war alles wieder erlaubt, alle waren frei, die Welt neu zu erobern, dem Leben ihren eigenen Stempel aufzudrücken, ihre eigene Prägung zu verleihen, ihren eigenen Charakter aufzudrängen. Die Welt war nicht mehr der Menschheit Feind, ohne doch darum zu ihrem Freund zu werden, sondern sie verblieb in kalter Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz des Menschen, so als wüsste sie im Geheimen schon, dass der Mensch bloß eine kurzzeitiges Phänomen war gemessen an dem Zeitalter des Universums, und darum nur eine geringfügige Krankheit, welche die Welt bald verwinden würde, vergleichbar einer harmlosen Verkühlung, einem kurzen Halsweh, das man sich im Winter holte, ohne sich darüber Gedanken zu machen, weil man das Ende schon kommen sah, wenn es gerade erst angefangen hatte.
Diesen und ähnlichen Gedanken hing Centrik tagsüber nach, und da er diese Wahrheiten bei sich für selbst-evident und für absolut unwiderlegbar hielt, so brauchte er kein einziges philosophisches Buch mehr in die Hand zu nehmen, denn er wusste, er würde nur entweder in diesen seinen Wahrheiten bestätigt werden oder er würde bei der Lektüre eines solchen Buches, welches von Idealen träumte oder solche stillschweigend voraussetzte, in ein lautes schallendes Gelächter ausbrechen. Und selbst wenn dies einen gewissen Unterhaltungswert versprach, wäre eine solche Vorgehensweise doch sehr zynisch gewesen, und Centrik wollte nicht zynisch sein. Denn interessanterweise und trotz der Tatsache, dass Centrik in gewisser Weise bereits zynisch war, und seine Gedanken zynisch waren, und ihn seine Freunde (das heißt, die wenigen, die man so nennen konnte) ihn durchaus als zynisch bezeichneten, hasste Centrik den Zynismus, er hasste die Zyniker und er hasste eigentlich die ganze Welt, die ihm stets als zynisch erschienen war, ohne jedoch, dass er den geringsten Beitrag dazu leistete, etwas daran zu ändern, denn wie gesagt: Centrik war selbst zynisch, und vielleicht hasste er den Zynismus darum so, weil dieser ihn selbst beschrieb, oder er hasste sich selbst dafür, dass er der Welt so ähnlich war, die er hasste, und erst dies machte ihn zynisch.
Jedenfalls, und so viel war sicher, hatte Centrik momentan, in diesem Winter des Jahres 20XX, keine Arbeit und keine Beschäftigung im engeren Sinn und keine Sache, für die zu kämpfen es sich irgendwie gelohnt hätte, und so bestand sein Tagesablauf darin, billige Detektivromane zu lesen oder spätromantische Musik zu hören oder Kriegsfilme anzuschauen, die von Heldenmut und Patriotismus und Selbstaufopferung handelten, Eigenschaften, die er selbst nicht besaß, und die er in der wirklichen Welt wohl als billige Eitelkeiten durchschaut und darum tief verachtet hätte. Jedoch wenn er sich diese Filme ansah, dann lachte er nicht etwa über sie, wie er es eigentlich hätte tun müssen, sondern er war so vertieft in diese Filme, als würde er selbst eine tragende Rolle in ihnen spielen: so kämpfte er einmal für die Freiheit Schottlands; ein anderes Mal stellte er Juden als Arbeitskräfte in seinem Unternehmen ein, um sie vor den KZs zu retten; so drückte er als Soldat verzweifelt auf den Hals eines blutenden Kameraden, um dessen Blutung zu stillen, obwohl alle um ihn herum wussten, dass es zu spät war; er lachte, weinte, brütete, plante, wagte und gewann den Krieg. Danach nahm er die Fernbedienung, schaltete den Abspann ab und ging zu Bett. Schlafend träumte er meistens schöne und aufregende Träume, fast so, als wollte irgendeine höhere Gerechtigkeit, dass zumindest seine Traumwelt heil blieb, während sein Leben ihm zum Albtraum geworden war. Doch Centrik glaubte an keine höhere Gerechtigkeit, wie gesagt, und obiges Phänomen hätte er wohl kühl als „biologische Kompensierung“ bezeichnet. Und dies, dass er seine Träume liebte, während er doch seinen Verstand verehrte, machte ihn letztlich zu einem krankhaften Dividuum, einer gespaltenen Persönlichkeit, einem pathologischen Fall.
 
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Kommentare  

Am interessantesten an dieser Geschichte finde ich die Namenswahl des Protagonisten.

Als Arbeitssuchender beginnst du zu kreisen. Ich glaube, der Trick in einer solchen Situation besteht darin, solange zu kreisen, bis du irgendwann um das kreist, was du willst - fast wie ein Geier. Nur dass das, was du willst, kein Kadaver ist. Auch wenn dir andere glauben machen wollten, dass es so ist. Es ist in Wirklichkeit das Lebendigste ist, sobald du etwas dafür tust, dass es geschieht.


Crazy Diamond (23.04.2011)

Schade, dass du so wenig Absätze reingemacht hast. Dadurch liest es sich ein wenig schwerfällig. Ansonsten hast du flüssig und lebendig Centriks Gedankenwelt in deiner Kurzgeschichte festgehalten und uns sehr gut geschildert, wie leer und wirr man sich doch im Grunde fühlt, wenn man keine Arbeit findet.

Petra (23.01.2010)

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