137


4 Seiten

Der Countdown

Spannendes · Kurzgeschichten
Ich wache auf und taste benommen nach meinem Funkwecker, der just in diesem Moment von 18:53 Uhr auf 18:54 Uhr umspringt. Mehr als zwei Stunden habe ich geschlafen. Seitdem ich diesen Studentenjob beim Paketdienst angenommen habe und ständig nachts eingesetzt werde, gerät mein innerer Rhythmus total aus den Fugen. Anfangs geht das jedem so, versicherten mir meine Kollegen unentwegt. Mühsam versuche ich zu verhindern, dass mir die Augen wieder zufallen. Das Gefühl der Benommenheit vermag einfach nicht zu weichen. Wenigstens muss ich heute Nacht nicht ins Lager. Ich taste nach meiner unverschlossenen Cola – Flasche. Nur beschwerlich quält sich die lauwarme, kohlendioxidarme Brause meine Kehle herunter.

Ich raffe mich auf. Wenigstens sitze ich jetzt schon mal. Ein Peitschenhieb scheint mein Gehirn zu treffen und die kreisförmige Massage meiner Schläfen kann den Druck, der auf meinem Kopf lastet nur langsam entspannen. Unter einem riesigen Stapel uralter Zeitungen krame ich meine Fernbedienung hervor. Verdammt, wieder mal scheint es Probleme mit dem Kabelanschluss zu geben, auf jedem Programm ein Testbild. Mit zunehmend erwachendem Verstand stelle ich fest, dass das, was ich anfangs für ein Testbild gehalten habe eine Art Countdown ist.

05:43

Eigenartig, wieder und wieder schalte ich durch sämtliche 34 Fernsehkanäle, jedes Programm, von ARD bis NEUN LIVE bringt diesen noch knapp 6 Minuten andauernden Countdown, ausnahmslos. Ist das irgendein gigantischer Werbegag? Die Ankündigung eines neuen Film – Trailers, der gleich gespielt wird? Aber wie ungeheuerlich kostspielig wäre solch eine Aktion bloß? Einem Michael Bay würde ich jedoch alles zutrauen. Ich öffne das Fenster zur Straßenseite. Eine eigenartige Stille ist das. Ich höre kein Vogelzwitschern, keine dröhnenden Autos. Eine kalte Brise weht herein.

04:36

Mir reicht es jetzt, von Neugier gepackt will ich wissen, weshalb auf jedem Fernsehkanal ein Countdown läuft. Der Videotext lässt sich nicht aktivieren. Stefan weiß so etwas. Stefan kennt sich aus mit so etwas. Ich werde einfach Stefan anrufen, der mir eine rationale Erklärung dafür geben kann. Nachdem ich den Hörer abhebe, tutet mir das Besetzt – Zeichen entgegen. Verwundert drücke ich ein paar Tasten, doch das ändert nichts. Genervt fummele ich mein Handy aus der Jackentasche und wähle Stefans Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available”, hallt es mir monoton entgegen. Ich wähle Michaels Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.” Ich wähle Susannes Nummer. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.” Ich wähle die Nummer meines Vaters. „Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen - The Person you have called is temporarily not available.”

03:52

Vielleicht bringen sie ja etwas im Radio. Hochfrequentes Pfeifen dröhnt in mein Ohr und lässt den Kopfschmerz wieder schlimmer werden. Ich reiße die Wohnungstür auf und stürme in den Hausflur. Energisch hämmere ich gegen die Tür meines Nachbarn. „Herr Wehner?“ Meine Stimme schallt scheinbar verloren durch den Hausflur. Die Tür bleibt verschlossen. Ich drücke mein Ohr an die Tür, doch ich kann nichts hören. „Hey!“ schreie ich noch lauter und renne die Treppe herab, fester und fester an jede Tür hämmernd, die ich auf dem Weg nach unten passiere. Ich provoziere es, dass irgendjemand aus diesem Haus wutentbrannt die Tür aufreißt und mich fragt, ob ich noch ganz bei Sinnen sei, denn mittlerweile beginne ich genau daran zu zweifeln. Mehr und mehr fühle ich mich in einen surrealen Alptraum versetzt. Nichts wäre mir lieber, als irgendjemand, der mich zusammenscheißt, doch es zeigt sich einfach keine Reaktion.

Unten angekommen trete ich auf die Straße. Immer noch ist es totenstill. Ich blicke zum Himmel. Kein Flugzeug, kein Vogel. Mein Blick wandert umher. Keine Spaziergänger, keine Autos, keine Bienen, keine Ameisen. Nichts. Das einzige, das ich vernehmen kann, ist das gespenstische Pfeifen des Windes, während ich alleine auf der Straße stehe. Ich stürme wieder hoch in meine Wohnung. Mein erster Blick fällt auf den Fernseher.

02:13

Kann mir denn niemand sagen, was zum Teufel hier vor sich geht? Warum ist die Kommunikation zusammengebrochen? Warum ist dieses Haus, ja vielleicht sogar die ganze Stadt menschenleer? Wo sind die alle und vor allem, warum sind sie weg? Ich wische mir den kalten Schweiß von der Stirn und wandere unruhig hin und her. Weniger der Fakt, dass ein lautloser Countdown unbarmherzig herunterzählt, als vielmehr die Tatsache, dass ich keine Lebenszeichen mehr ausmachen kann, versetzt mich in stetig steigende Panik. Ich beginne zu glauben, dass dieser Countdown etwas Unheilvolles mit sich bringen könnte. Bald werde ich es herausfinden. Mein Herz schlägt schneller.

01:33

Warum renne ich nicht weg? Warum versuche ich nicht zu fliehen? Warum setze ich mich nicht in mein Auto und fahre einfach tiefer in die Stadtmitte? Vielleicht ist es ja nur ein Zufall, dass diese Straße wie ausgestorben scheint. In der Stadtmitte ist immer etwas los. Wenn ich dort auf keine Menschen treffe, dann habe ich die Gewissheit, dass hier etwas nicht stimmen kann. Vielleicht steigere ich mich einfach zu sehr in diese Situation rein. Alles ist halb so wild. Ich bleibe hier in meiner Wohnung. Ich will den Fernseher im Blick haben, wenn der Countdown abgelaufen ist. Ich will wissen, was passiert.

00:47

Ich setze mich wieder auf die Couch und lehne mich zurück. Starr richtet sich mein Blick auf die Mattscheibe. Ein weiteres Mal nehme ich die Fernbedienung in die Hand und zappe durch alle Kanäle. Der Countdown ist nach wie vor auf jedem Kanal präsent. Für einen Moment lege ich den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und erinnere mich an meine Familie, meinen Vater, meine Mutter. Es ist, als würde ich gedanklich bereits Abschied von ihnen nehmen. Ich sage ihnen Lebewohl und weiß nicht einmal, ob ich das machen muss, weil ich nicht weiß, was gleich passiert. Falls es jedoch das letzte ist, was ich in meinem Leben mache, dann habe ich soeben das richtige getan. Ich liebe euch.

00:07

Ich atme tief ein, versuche die frische Luft, die durch das immer noch geöffnete Fenster hereinströmt, tief in mich zu saugen.

00:06

Meine Atmung wird heftiger. Mittlerweile atme ich nur noch stoßweise.

00:05

Mein Puls hämmert, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich stelle fest, dass er annähernd dreifach so schnell schlägt, wie die Sekunden ablaufen.

00:04

Meine Finger krallen sich in die Lehne. Ich suche Halt.

00:03

Mein Magen gurgelt. Er rebelliert gegen die vielen Stresshormone.

00:02

Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

00:01

Ich verharre regungslos und mit vor Panik aufgerissenen Augen vor dem Fernseher.

00:00

Der Countdown ist abgelaufen. Ich halte die Luft an. Meine Augen verengen sich zu Schlitzen, gerade so, als würde ich erwarten, das Haus würde jeden Moment zusammenbrechen. Der Bildschirm wird schwarz. Kein Signal dringt mehr hervor. Der Himmel verdunkelt sich, Düsterkeit fällt in meine Wohnung. Die Erde beginnt zu zittern, ein unglaublich lautes Dröhnen schallt durch die Stadt.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Genau, wer weiß...

Adam Weishaupt (04.10.2010)

Huh, du beschreibst das so plastisch. Da habe ich direkt eine Gänsehaut bekommen. Ich hoffe ja immer noch, dass das nur ein Traum ist, aber wer weiß?

doska (28.09.2010)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Stille Nacht, blutige Nacht 2 - Inhaltsangabe  
MOSKITO  
Zwei Tränen  
Der Parkplatz  
12,5%  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De