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11 Seiten

Rocking Chairs - Teil 5

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
5
Es war das letzte Haus am Ende des Wendehammers, umgeben von brachliegendem Bauland, ungenutzter Weidefläche und felsigen Strandabschnitten. Sophies Chevy Nova stand schief eingeparkt in der Einfahrt. Das Haus war ein weißes Holzhaus mit winziger Veranda und einem großen Balkon direkt darüber, neben der Vorderfront waren die zweistöckigen Fenster in einem Erker eingelassen. Leere Blumenkästen standen überall herum, die Blumen würden erst im Frühjahr wiederkommen.
Rick wagte sich nicht näher heran, blieb wenige Minuten stehen, strich um die Einfahrt herum und drehte dann wieder ab.
„Gehen wir einen trinken“, sagte er. Er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, Sophie und ihre Familie in dem Haus dort zu wissen und sich nicht hineinzuwagen.
Beim Alten fanden sie eine Bar, in der sie trinken konnten, ohne angemacht zu werden. Im Laufe des Abends kamen noch viele blau gefrorene Nasen hinein, die rot getrunken wieder in die Dunkelheit verschwanden. Hollis meinte, dass er kein Geld mehr habe. Mit Mühe wühlte Rick sein restliches Geld zusammen, er hatte noch soviel, dass sie nicht gezwungen waren, eher zu verschwinden als besoffen zu sein. Rick trank Bier, hatte Sehnsucht nach dem bitteren stout im Albatros, Hollis hielt sich an den Sachen, die mehr Umdrehungen hatten und die Blase nicht so sehr beanspruchten. Carlos lag bei ihnen unter dem Tisch. Als Rick sein Kleingeld zusammenkrallte, was er noch in seiner Tasche herumfliegen hatte, griff sich dabei unbeabsichtigt die .357 Magnum und beschloss, sie so schnell wie möglich loszuwerden.
„Hör mal“, sagte Hollis, „riecht das hier nicht komisch?“
„Ich rieche nichts“, antwortete Rick, rutschte hin und her und setzte hinzu: „Vielleicht bist du in Hundescheiße getreten.“
„Riecht eher nach Pisse“, meinte Hollis. Umständlich und steif bückte er sich, um einen Blick unter den Tisch zu werfen.
„Dein Köter läuft aus“, sagte er dann und lachte keckernd. Darauf trank er. Rick fluchte, versuchte die Pfütze mit dem Schuh zu verteilen, zog dann den Hund zu sich heran und erstarrte. Carlos lag mit trüben Augen und hechelnd auf dem Boden, das Fell an der Unterseite nass von seinem eigenen Urin.
„Alles in Ordnung, Carlos?“ fragte er leise, erwartete wenigstens ein kurzes Schwanzwedeln bei seinem Namen, aber der Hund starrte nur irgendwo ins Leere.
„Mit ihm stimmt irgendwas nicht“, sagte er, nahm einen Schluck von seinem Bier, bevor es schal werden konnte.
„Weil er dauernd pinkeln muss?“
„Er hat sich bestimmt erkältet“, sagte Rick.
Hollis sah ihn an und meinte: „Ist überhaupt ein Wunder, dass ich mich nicht erkältet hab.“
Sie tranken bis in den frühen Morgen hinein, dann bezahlten sie die letzte Runde und schlenderten nach draußen. Die Sonne hielt sich noch irgendwo hinter dicken Schneewolken verborgen, die Menschen, die mit faltigen Gesichtern zur Arbeit gingen, waren dick eingepackt und konnten sich kaum bewegen.
„Hab gar nicht gemerkt, dass es schon so früh ist“, meinte Hollis, „die scheinen hier keine Sperrstunde zu haben. Hey, wir sollten hier bleiben.“
Rick nahm Carlos an die Leine, hatte Mühe, ihn hinter sich herzuziehen. Der Hund wollte kaum einen Schritt machen, seine Beine zitterten.
„Wie spät ist es?“ fragte Rick, zitterte vor Kälte. Er war noch nicht dazu gekommen, seine Jacke zuzumachen.
„Kurz vor vier“, antwortete Hollis. Er war blau genug, über die Straße torkeln zu können, mit weit offenem Hemd und der Jacke über dem Arm. Rick nahm den Hund auf den Arm, ging dabei pustend in die Knie und spürte sofort die Nasse an seinem Bauch, die sich durch den Stoff schlug.
„Ich bring ihn zu Sophie“, sagte er keuchend.
„Du spinnst. Was soll sie mit ’nem kranken Hund anfangen?“
Ein Frühaufsteher hupte Hollis von der Straße weg, Hollis drehte sich zu ihm herum und zeigte dem davonfahrenden Wagen den Finger.
„Wo soll ich ihn denn sonst hinbringen?“ schrie Rick.
Mit steifen ungelenken Fingern versuchte Hollis, sich die Jacke überzuziehen, schaffte es schließlich und taumelte hinter Rick her, der den Weg zu Sophies Haus einschlug.
„Hör mal“, begann Hollis, als sie vor dem Haus standen, „du gehst da besser alleine rein.“
„Sag ruhig, wenn du dich verdrücken willst.“
Hollis wollte weder Sophie noch ihren Eltern begegnen und erst recht wollte er nicht Zeuge dabei werden, wenn Rick zusammengefaltet wurde. Aus reiner Freundschaft hatte er Rick nach Maine gebracht, dafür gesorgt, dass er bei der Stange blieb, aber mehr wollte er nicht tun.
„Wir treffen uns in der Bar, wenn du willst.“
„Ja“, sagte Hollis, hob die Hand, marschierte auf die Straße zurück und drehte sich noch mal um, „ich warte da.“
„Keine Bange“, flüsterte Rick dem zappelnden Hund ins Ohr, „er wird sich schon nicht verlaufen. Hollis hat noch jede Bar wieder gefunden. Jetzt wollen wir beide erst mal Sophie aus dem Bett holen.“
Statt die Klingel zu benutzen, marschierte er um das Haus, bis er im Garten unter den dunklen rückwärtigen Fenstern stand. Sophies Zimmer lag im ersten Stock, falls sie ihr altes Zimmer wieder bezogen hatte. Es musste das neben den kümmerlichen Kletterrosen sein, denn sie hatte ihm erzählt, dass sie als Kind immer davon geträumt hatte, einmal am Rosenstock hoch und runterklettern zu können, sobald er dicht genug gewachsen wäre. Allerdings hatte sie als Kind die Dornen nicht bedacht und die Tatsache, dass die kümmerlichen Rosen noch nicht einmal die Hauskatze trugen, ohne halb von der Kletterhilfe abzureißen.
Rick setzte Carlos ab, der sich sofort wie ein Häufchen Elend zusammenkauerte, und hob einige kleine Steine auf, warf sie gegen das Fenster. Die meisten prallten an der Wand ab oder verschwanden geräuschlos in den blütenlosen Rosensträuchern; es war zu dunkel, um richtig zielen zu können. Einige trafen sie Scheibe dann doch, es klickte ein paar Mal gegen die Fensterscheibe. In dem dunklen Zimmer erschien ein schwaches Licht, dann wurde die Gardine zur Seite gerissen und Sophies Gesicht erschien undeutlich hinter der Scheibe. Rick warf noch einen Stein, weil er sich nicht sicher war, ob sie ihn sehen konnte. Ihr Gesicht zuckte zurück, als der Kiesel gegen das Glas prallte.
„Zum Teufel“, zischte sie, nachdem sie das Fenster geöffnet und sich nach draußen gebeugt hatte, „bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Lässt du mich rein?“ fragte Rick, „es ist saukalt.“
„Ich denk ja nicht dran.“ Sie zog das Fenster wieder zu und Rick rief eilig: „Sophie? Carlos ist krank.“
„Was?“ Sie riss das halb geschlossene Fenster wieder auf und beugte sich weit nach vorn, um etwas sehen zu können.
„Carlos ist krank und ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.“
„Warte. Warte einen Moment.“
Als ob ich weglaufen würde, dachte Rick zitternd.
Das war es, worauf er gewartet hatte. Sie würde sich schnell anziehen und ihn reinlassen, dann konnte er ihr eine Menge erklären, falls sie ihn so reden ließ, wie er sich das vorgestellt hatte. Er hörte sie an der Verandatür und hob Carlos auf, der sich weigerte, auch nur noch einen Schritt zu machen. Sie hatte Licht gemacht, gerade genug, dass er sie undeutlich sehen konnte, wie sie in der offenen Tür stand und eine weite Jacke über der Brust zusammenhielt.
„Warum hast du ihn nicht zu Hause gelassen?“ Sie klang vorwurfsvoll und gleichzeitig reserviert, sie flüsterte, um die Familie nicht zu wecken.
„Zu Hause?“ sagte Rick und hob eine Schulter, versuchte dabei den Hund nicht fallen zu lassen, „vielleicht in der leeren Wohnung?“
„Bist du mit ihm zu Fuß aus New York gekommen?“
„Nein“, sagte Rick ungemütlich, „wir haben den Bus genommen.“
Er setzte Carlos auf dem Parkettfußboden ab, entdeckte die Dreckspuren, die er beginnend bei der Verandatür hinterlassen hatte. Das war kein guter Anfang, aber was hätte er machen sollen, sich die Schuhe ausziehen? Sophie beachtete ihn nicht, kniete neben dem Hund auf den Boden, kraulte ihm ein Ohr und rieb ihm über die Nase. Carlos reagierte kaum.
„Was hast du mit ihm angestellt? Der arme Kerl.“ Ihre Stimme war noch immer unversöhnlich. Sie erhob sich, wischte sich mit einer heftigen Bewegung das Haar aus dem Gesicht. Rick hielt die Luft an.
„Ich behalte ihn hier und fahre morgen früh mit ihm zum Tierarzt.“
So kühl, wie sie ihm gegenübertrat, wagte er es kaum zu fragen: „Hey, kann ich nicht hierbleiben und wir reden darüber?“
Aber sie wollte nicht reden. Es hatte vor drei Monaten angefangen, dass ihr Leben so fürchterlich aus dem Gleichgewicht gekommen war. Zuerst hatte sie die Kündigung in der Werbeagentur bekommen, weil die Agentur zu wenige Aufträge hatte und irgendjemand gehen musste. Es hatte sie nicht allein getroffen, aber das half ihr auch nicht weiter. Dann hatte sie festgestellt, dass Rick sich immer wieder ihren Chevy auslieh, um damit irgendwelche krummen Dinger abzuziehen, obwohl sie ihn gewarnt hatte, sie würde ihn einen Kopf kürzer machen, sollte er damit nicht aufhören. Offensichtlich hatte er damit nicht aufgehört, denn durch Zufall hatte sie geklaute Autoradios in ihrem Kofferraum gefunden. Und da war noch diese andere Sache, mit der sie noch mit niemandem gesprochen hatte, weil sie sich noch immer nicht sicher war, die sie dazu bewogen hatte, ihre Koffer zu packen, das Schloss an ihrer Wohnungstür auszutauschen und Hanako, eine Freundin, gebeten hatte, ein Auge auf die Wohnung zu haben, bis sie wieder zurück war. Plötzlich war ihr der Gedanke, in Boston eine neue Stelle zu finden, nicht mehr ganz so abwegig, wie es noch vor einem Jahr gewesen war. Sie liebte Rick, das war nicht die Frage, aber sie zweifelte, dass er jemand war, mit dem sie in Zukunft zusammenleben konnte, wenn er sich nicht änderte.
„Du verschwindest, bitte“, sagte sie.
Rick hatte die klammen Finger in die Jackentaschen gestopft und die Schultern hochgezogen. Alles, was er hatte sagen wollen, war aus seinem Kopf verschwunden.
Und du weißt auch, warum, sagte die deutliche Stimme von Mascot, die in letzter Zeit so selten geworden war, die aber umso deutlicher zurückkam, wenn er nicht damit rechnete, schließlich hast du die Sache verbockt.
Als Rick nicht reagierte, schob sie ihn rückwärts durch die offene Verandatür, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sie war einen halben Kopf kleiner als er, aber in diesem Augenblick war er nicht zur Gegenwehr fähig. Er ließ sich auf die Veranda schieben, sah zu, wie sie die Schiebetür schloss und hörte ein letztes gerauntes: „Verschwinde endlich.“
Rick stand unschlüssig herum, bis das schwache Licht in dem Haus erlosch und es wieder so still und schlafend war wie vorher. Eine Weile hoffte er darauf, das Licht würde wieder angehen und sie würde zurückkommen, aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Schließlich verließ er das Grundstück.
Er konnte Hollis nicht finden, denn die Bar war geschlossen und auf der Straße war er nirgends zu sehen. Hollis mochte auf der Suche nach einer anderen Bar unterwegs war und Rick beschloss, das Gleiche zu tun. Wenn er herumlief, konnte er wenigstens nicht erfrieren.
Gegen sechs Uhr, als sich die ersten Sonnenstrahlen ankündigten, fanden sich die beiden in einem kleinen Park wieder. Rick entdeckte Hollis bei einem eingefrorenen Springbrunnen. Er sah nüchtern aus, allerdings hatte er eine rot angeschlagene Nase. Er sah Rick nur missmutig an, zog die Nase hoch und spuckte Blut auf die Straße.
„Wie war’s bei dir?“ fragte Rick. Überflüssige Frage. Hollis seufzte und sagte: „Ach Scheiße, manche Typen verstehen keinen Spaß.“
„Sophie auch nicht“, seufzte Rick, „sie hat mich wieder rausgeschmissen.“
Hollis lachte geräuschlos und setzte sich an den Rand des Brunnens.
„Und was ist mit Carlos?“
„Sie bringt ihn zum Tierarzt. Ich will sie vor dem Haus abfangen, wenn sie losfährt. Machst du mit?“
„Lieber, als dass ich mir noch mal auf die Nase schlagen lasse“, antwortete Hollis.

Sie lauerten vor dem Haus der Reitmans, bis Sophie in der Haustür erschien, Carlos in eine Decke gewickelt in ihren Chevy Nova trug. Eine schreckliche Sekunde lang dachte Rick, Carlos könnte in der Nacht gestorben sein, weil sie ihn in die Decke gewickelt hatte, aber er sah, wie er sich bewegte. Aus seinem Schnauzergesicht erschien die Zunge, er leckte sich über die Nase und trotz der Entfernung konnte Rick ihn brummen hören.
Ein Mann erschien in der Tür, er trug einen Morgenmantel und hielt eine Tasse Kaffee in der linken Hand, und winkte mit etwas, was er in der Rechten hielt. Rick erkannte ihn von einigen Familienfotos wieder. Sophies Vater. Rick hatte keine Ahnung, was Sophie ihrer Familie von ihm erzählt hatte, und als er sich diesen älteren Herrn so ansah, hatte er keine Lust, ihm zu begegnen und peinliche Fragen beantworten zu müssen.
Hollis flüsterte, was er denn vorhabe. Sie hockten beide hinter einer ordentlich gestutzten Hecke, damit Sophie sie nicht auf dem ersten Blick entdeckte.
„Keine Ahnung“, sagte Rick, erhob sich, weil ihm die Knie wehtaten und die Hockerei seinem kranken Fußknöchel auch nicht gut tat, „du kannst ruhig in Deckung bleiben.“
Er wartete, bis sie mit dem Wagen auf der Straße war, dann trabte er ihr vor die Motorhaube. Sophie bremste scharf. Durch die Windschutzscheibe erkannte er ihre rosa Wollhandschuhe am Lenkrad, die sie gemeinsam auf einem Weihnachtsmarkt gekauft hatten.
„Was willst du schon wieder?“ Sie streckte den Kopf durch das Seitenfenster, ließ den Wagen dabei ganz langsam auf ihn zurollen, dass er zur Seite gehen musste, um den Weg freizugeben. Er umrundete den Wagen und legte die Hände auf das Autodach.
„Wie geht’s ihm?“ fragte er, als er sich nach unten beugte.
„Er hat viel getrunken, aber wollte nichts fressen. Das musst du doch gemerkt haben, dass etwas nicht mit ihm stimmt.“
„Er hat noch gefressen, als wir unterwegs waren“, sagte Rick, aber er log sich in die eigene Tasche. Er war so darauf konzentriert gewesen, unterwegs zu sein, dass er nicht einmal sagen konnte, wann Carlos das letzte Mal ordentlich gefressen hatte. Sie hatten ihm Hamburger und anderes Fast Food gegeben, was er zu Hause bei Sophie nie bekommen hatte. Das schlechte Gewissen schob er schnell beiseite.
„Wir werden sehen, was der Vet sagt. Lässt du mich jetzt fahren? Ich hab einen Termin.“
Er machte einen Schritt zurück und breitete die Arme aus, lächelte dabei. Er hoffte, sie würde wenigstens versuchen, das Gesicht zu verziehen, (schließlich war er der Morgenmuffel und nicht sie) aber sie starrte nur auf die Straße vor sich, legte den Gang ein und verschwand in einer Abgaswolke.
Hollis kam aus der Hecke, sie standen mitten auf der Straße und sahen ihrem Wagen hinterher.
„Sollen wir ihr nach? Wird ja nicht so viele Tierärzte geben.“
„Was bringt das? Sie kümmert sich schon darum, dass er behandelt wird.“
„Und wenn nicht?“
Rick starrte Hollis ahnungslos an.
„Was, wenn nicht?“
„Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass sie Carlos nur zum Arzt fährt, um ihn einschläfern zu lassen? Um sich an dir zu rächen?“
Rick bekam eine Gänsehaut. Dieser Gedanke wäre ihm nie gekommen, aber was war, wenn Carlos so schwer krank war, dass er eingeschläfert werden musste? Ihm wurde übel bei dem Gedanken. Carlos war ein Teil von ihm, sie verbrachten die meiste Zeit des Tages zusammen und es schien immer, als wäre ein Teil von Mascot anwesend, wenn er mit dem Hund unterwegs war. Es konnte einfach nicht sein, dass er Carlos verlor, nur weil er ein paar Tage nicht darauf geachtet hatte, ob der Hund fraß oder nicht.
Aber du hast auch Sophie verloren, weil du für ein paar Tage dein Versprechen vergessen hast, flüsterte Mascots Stimme.
„Du bist ein Arschloch“, sagte Rick.
Während der Fahrt nahm Sophie immer wieder eine Hand vom Steuer und streichelte Carlos über den Kopf, damit er merkte, dass sie da war. Der arme Kerl tat ihr leid, die halbe Nacht hatte sie kein Auge zugetan, sich um ihn gekümmert und ihren Eltern zu erklären versucht, wo er plötzlich hergekommen war. Natürlich hatten sie wissen wollen, weshalb Rick den Hund einfach bei ihr abgeliefert hatte, aber nicht geblieben war.
Sie wussten von der Kündigung, aber sie wussten nichts von der Sache mit Rick.

In der Klinik musste sie nicht lange warten, vor ihr war nur ein Mann mit einem dicken roten Kater, der sich den halben Schwanz abgeklemmt hatte und Carlos so wütend anspuckte, als er ihn sah, als sei der Hund schuld an seiner Misere.
Dr. Edward Groleau hatte schon die längst verstorbenen Familienhunde der Reitmans behandelt und er erinnerte sich an Sophie, als sie sich und Carlos vorstellte. Gemeinsam hoben sie Carlos auf den Behandlungstisch.
„Das ist Carlos“, sagte sie, „er gehört einem Freund. Er hat Fieber und er frisst seit Tagen nicht mehr.“
Dr. Groleau sah in Carlos‘ Augen, in sein Maul, steckte ihm ein Fieberthermometer hinten rein und sagte: „Er hat über 40 Grad Fieber. Das sieht nicht gut aus.“
Sophie hielt Carlos‘ Kopf fest und streichelte ihn automatisch. Als sie an sich heruntersah, stellte sie fest, dass ihr Mantel feucht war, der Urin war durch die Decke geschlagen. Das würde sie Rick ebenfalls in Rechnung setzen.
„Ist er regelmäßig entwurmt und geimpft worden?“
Darum hatte Rick sich immer gekümmert, Sophie konnte es nicht einmal sagen.
„Ich denke schon“, sagte sie, „aber ich habe die Papiere nicht. Kann ich die nachreichen?“
Dr. Groleau sagte, das sei überhaupt kein Problem. Er tippte auf eine akute Nierenbeckenentzündung, die der Hund sich vermutlich bei dem kalten Wetter eingefangen hatte.
„Manchmal kommt das angeflogen“, sagte er, „machen sie sich keine Vorwürfe deswegen.“
Sophie improvisierte und sagte: „Er ist ein paar Mal ins Meer gehüpft und wir waren zu weit vom Haus weg, ich konnte ihn nicht abtrocknen.“
„Ich werde ihn für ein paar Tage hierbehalten, wenn es ihnen recht ist. Das macht die Behandlung einfacher. Sie können jederzeit anrufen und sich nach ihm erkundigen, aber bitte kommen sie ihn nicht besuchen. Ein Abschied ist für einen Hund schon schwer genug.“ Sie hoben Carlos vom Tisch und Dr. Groleau sagte: „Sie können sich hier nebenan sauber machen. Ihr Mantel ist voller Urin.“
„Danke“, sagte Sophie. Im Waschraum dachte über das komische Wort Urin nach, während sie den Fleck auswusch. Carlos wurde von einer Arzthelferin in einen kleinen Zwinger in den Nebenraum gebracht, wo er sich zusammenrollte und sich nicht mehr rührte, obwohl ihn das alles an seine Zeit im Tierheim erinnerte und er voller Unruhe war. Am liebsten hätte er laut geheult, aber er wusste, dass er das nicht durfte.
Sophie tat es weh, ihn allein zu lassen. Lieber hätte sie ihn mit nach Hause genommen, aber ihre Mutter hatte jetzt schon einen Anfall bekommen, weil Carlos in der Nacht in der Küche überall Pissflecken hinterlassen hatte.
Anstatt sofort nach Hause zu fahren, setzte sie sich hinter der Citgo Tankstelle in das kleine Einkaufszentrum und trank dort einen Kaffee. Nach kurzem Zögern, wirklich nur einem ganz kurzen Zaudern, bestellte sie sich ein Stück Kuchen dazu.
Das verdirbt jetzt auch nichts mehr, Schätzchen, dachte sie.
Das sündhafte Stück Schokoladenkuchen klumpte sich in ihrem Magen zusammen, obwohl es so unglaublich lecker gewesen war, und sie auch die aufkommende Übelkeit nicht daran hindern konnte, die letzten Krümel und Schokostückchen mit dem Zeigefinger vom Teller zu tupfen.
Sie bestellte sich ein Wasser, blieb so lange am Tisch sitzen, bis sie sich wieder besser fühlte, und fuhr zurück nach Hause.
Gerade, als sie es geschafft hatte, nicht mehr ständig an Rick denken zu müssen, tauchte er hier auf und brachte ihr Leben wieder in Unordnung. Wieder drängelte er sich in ihr Leben. Ihr wurde klar, dass sie vor Rick wohl nicht davonlaufen konnte, selbst wenn sie es versuchte.
Was stelle ich mit ihm an? dachte sie, ich kann ihn wegschicken, aber er wird nicht gehen. Ich kann ihm erklären, was passiert ist, aber er wird sich nicht ändern.
Kaum zu Hause angekommen, ließ Candy ihr kaum Zeit, ihren Mantel auszuziehen und ihn an der Garderobe im Mud Room aufzuhängen.
„Was hat der Vet gesagt? Ist es schlimm? Wo ist er, ist er noch im Auto? Oder hast du ihn dagelassen? Er lebt doch noch, oder?“
„Ja, Carlos lebt noch, er hat eine Nierenbeckenentzündung“, sagte Sophie, „möchte nicht wissen, was Rick mit ihm angestellt hat.“
„Wenigstens ist er jetzt versorgt.“
Candy tanzte um ihre Schwester herum, plapperte weiter und war kaum zu beruhigen. Sie war eine Flohnatur, wenn man von ihren extremen Anfällen von schlechter Laune absah.
„Erzähl doch mal endlich, was er hier will“, sagte sie. Sie verfolgte Sophie bis in ihr Zimmer.
„Geh mir nicht mit deinen ständigen Fragen auf die Nerven“, sagte Sophie, „du kannst mir bei der Bügelwäsche helfen.“
Sie sortierten den Haufen Wäsche, den Sophie auf dem kleinen Ohrensessel verteilt hatte, der neben ihrem Mädchenbett stand. Sie hatte es noch vor Jahren als ärgerlich empfunden, dass ihre Eltern ihr Zimmer größtenteils so gelassen hatte, nachdem sie ausgezogen war, jetzt dachte sie anders darüber. Es war reine Nostalgie, die sie im Griff hatte.
„Ich helfe dir dabei, wenn du mir was erzählst“, sagte Candy.
„Ich habe dir doch schon alles erzählt“, erwiderte Sophie genervt. Als sie die Wohnung in New York verlassen hatte, hatte sie keine Sekunde überlegt, wen sie anrufen würde. Ihre Mutter? Niemals. Ihren Vater? Dem würde sie zuviel erklären müssen, denn er wollte immer alles ganz genau wissen. Candy? Ihre jüngere Schwester war die beste Möglichkeit, sie hatten zumindest wöchentlichen Telefonkontakt gehalten und so war Candy die Einzige gewesen, der sie den wahren Grund genannt hatte, weshalb sie für eine Weile nach Hause kommen würde. Ihre Eltern wussten, dass sie den Job verloren hatten, sie hofften, sie würde in der Nähe bleiben, sich einen neuen Job in Portland suchen. Ihre Mutter sagte das so etwa drei Mal am Tag, achtete dabei immer darauf, dass Sophie in der Nähe war, sie es ganz nebenbei fallen lassen konnte.
„Er wird wieder vorbeikommen, und nach Carlos fragen, oder?“
„Das nehme ich an.“ Sie suchte Handtücher zusammen, faltete sie über der Brust und legte sie beiseite. Einem ungeschriebenen Gesetz folgend würde sie Handtücher ganz zum Schluss bügeln.
„Wenn er hier bleiben will, was machst du dann?“
„Das interessiert mich ja überhaupt nicht.“
„Aber es ist doch niedlich, dass er den weiten Weg hergemacht hat, nur um dich zu sehen.“ Candice schob in Erwartung einer Antwort die Unterlippe vor. Sophie hatte im Zusammenhang mit Rick noch nie das Wort „niedlich“ gebraucht, hätte beinahe darüber gelacht, aber der Ärger, den Candy durch ihre Fragerei in ihr hochwühlte, war stärker.
„Er hat auch weite Wege nach Chicago gemacht, nur um mit einem seiner komischen Freunde einen trinken zu gehen. Danach kann ich nicht gehen. Und ich glaube nicht, dass er den Bus genommen hat. Wenn Hollis nicht dabei gewesen wäre, hätte ich ihm das noch abgekauft. Aber so nicht.“
„Das ist doch nicht wichtig.“
Oh doch, dachte Sophie, das ist wichtig. Er lügt mich noch immer an. Und wenn er damit nicht aufhören kann, wird er allein nach New York zurückgehen. Ich kann es ertragen, wenn er mit Hollis unterwegs ist oder sich mit dope zudröhnt, aber er soll es nicht wagen, mir wieder irgendwelche Geschichten aufzutischen.
Sie teilten sich die Arbeit, eine bügelte, eine faltete und weil es irgendwann langweilig wurde, machte Candy eine von ihren CDs an und sie sangen fröhlich zu den alten Songs. Gegen Mittag hörten sie, wie ihre Mutter vom Einkauf zurückkam, wenig später erschien Martha in der Tür und fragte, ob sie etwas Besonderes zu Essen machen solle.
„Ich bin verabredet“, erklärte Sophie.
Candy warf ihr einen kurzen Blick zu und bügelte eifrig weiter. Sie wusste, dass es keine Verabredung gab.
„Mit wem gehst du aus?“ fragte ihre Mutter. Sie versteckte ihre Neugierde wie immer hinter einem unschuldigen Lächeln.
„Ich habe eine Freundin vom College getroffen“, sagte Sophie leichthin. Es war eine der gnädigen Lügen, die sie vor zu vielen Erklärungen schützte.
„Komm aber nicht zu spät nach Hause. Wir haben morgen etwas vor.“
„Ich bleibe nicht lange weg“, sagte sie. Seit sie wieder zu Hause war, nahm es ihre Mutter mit den Ausgangszeiten wieder so eng, als sei Sophie nicht nur wieder in ihr altes Zimmer eingezogen, sondern als sei sie auch mal eben wieder minderjährig geworden.
Martha verschwand wieder nach unten in die Küche und Candy stupste ihre Schwester an.
„Du hast Mom angelogen.“
„Ich habe wirklich etwas vor.“
„Kann ich mitkommen?“
„Hast du was Schlechtes geraucht?“ erwiderte Sophie.
 
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Kommentare  

Oh, das arme Hundi ist krank. Hoffentlich kann Carlos gerettet werden. Ich finde Sophie toll.

Petra (17.01.2011)

Auch das Kapitel hat mir wieder gut gefallen. Es ist doch wirklich problematisch für so eine junge Frau, wie Sophie, einen trinkenden Kleinkriminellen zu lieben. Sophie hat sehr viel Herz und kümmert sich auch sofort um Ricks Hund. Sie ahnt aber auch, dass Ricks Lebenswandel sie eines Tages runterziehen könnte. Darum will sie keinen Kontakt mir ihm, aber ob sie das durchhalten kann?

Jochen (30.10.2010)

Ja, Flohnatur ist korrekt, abgeleitet von "Flohalter: die Zeit, wenn junge Mäuse ständig in die Luft springen". ;0)
Ich hatte als Kind welche (Mäuse - keine Flöhe).

Liebe Grüße DublinerTinte;0)


Tintentod (22.10.2010)

Und ach ja ^^ das Wort "Flohnatur" ist witzig. Ist das eine chinesiche Frohnatur oder ist das wirklich eine eigene Wortkreation, die einen wild herumhüpfenden Menschen beschreibt?

Jingizu (22.10.2010)

Ja es zieht sich wirklich etwas - besonders in Hinblick auf die ersten 4 Kapitel in denen auch noch nicht sonderlich viel passiert ist.

Die Protagonisten, ihr Charakter und ihr inkontinenter Hund sind dem Leser nun schon lange bekannt, aber wann passiert denn nun etwas?

(und die übliche Anmerkung: das Wort heißt "minderjährig")


Jingizu (21.10.2010)

Hi Jürgen,
die Geschichte geht in eine vollkommen andere Richtung als die Rick & Cos vorher.
Ich hoffe, ich kann die an mich gestellten Erwartungen trotzdem erfüllen. ;0)

Danke fürs Lesen, liebe Grüße Pia


Tintentod (20.10.2010)

...schade, echt n bisschen langatmig, aber dein Schreibstil ist echt flüssig und die Spannungsbögen hören nicht auf...O.K.mein Whiskey ist alle, die Soul CD aus...bin trotzdem n bisschen entäuscht... keine Schiesserei, wenigstens ne kleine Schlägerei, oder ne Nacht im Knast, aber habe alles zu Ende gelesen, mal sehen, ob du noch n bisschen was " drauf legen"kannst...beste Grüße

Jürgen Hellweg (20.10.2010)

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