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6 Seiten

Harmony is NOT what you get

Romane/Serien · Spannendes
Als ich erwachte, war da der Schmerz. In hundert Facetten, in tausend Schattierungen. Schmerz in seiner reinsten Form. Schmerz, der an meinen Wadenmuskeln zerrte und unter meinen Fingernägeln pochte, von meinen Ohren bis zu den Handgelenken reichte. Schmerz, der mir glühende Kohlen unter die Fußsohlen legte und Milliarden kleiner Nadeln in jeden Quadratzentimeter meiner Haut jagte. Der meine Muskeln zerfraß und mit einem Eisenhammer seinen Weg aus meinem Schädel suchte, während er mir jedes Kopfhaar einzeln ausriss. Und das war gut. So sollte es sein. Für einen winzigen Moment, vielleicht eine Millisekunde, vielleicht zehn, wusste ich, dass ich endlich – endlich – Buße tun konnte. Und dann einen Neubeginn machen. Bis mir die Übelkeit mit der Gewalt eines wütenden Nashorns in den Magen kickte und ich vollends erwachte. Der Schmerz flaute zu einem dumpfen Dröhnen in meinem Kopf ab und ich erinnerte mich wieder daran, dass ein Neubeginn vielleicht jedem einzelnen verfickten Menschen auf diesem Planeten gestattet war, aber mir nicht.

Welcome to my fucking life.

Kapitel 1
Ich saß in einem unglaublich uninteressanten und vermutlich ebenso irrelevanten Betriebswirtschaftskurs, der unbequeme Stuhl ließ meinen Hintern schmerzen, als wäre er ausschließlich dafür konzipiert worden, und dachte darüber nach, auf welche schmerzhafte Weise ich die beiden Tussen neben mir gerne zum Schweigen bringen würde. Die eine hatte eine lange, blonde Mähne mit perfekten Lockenstablocken, die andere einen dunklen Pferdeschwanz und einen schrägen Pony. Ich hasste sie und ihr mühelos perfektes Aussehen. Schwarze, perfekt gezogene Kajalstriche, um die Augen noch größer, noch unschuldiger wirken zu lassen, lipglossglänzende, volle Lippen, Shirts, die an genau der richtigen Stelle ausgedellt waren. Pferdeschwanz kicherte über etwas, das Lockenstab gesagt hatte und schnitt eine Grimasse, bei der ich einen Blick auf ihre strahlend weißen Zähne erhaschte. Lockenstab nickte, grinste auch und kritzelte etwas auf den Zettel vor ihr. Für einen winzigen Moment sah ich zwei andere Gesichter statt denen von Pferdeschwanz und Lockenstab aufblitzen, spürte, wie sich mein Mund unwillkürlich zu einem Lächeln verzog. Dann verschwand die Erinnerung wie eine Wolke, die sich von der Sonne schob, meine Mundwinkel sanken herab und ich stellte mir vor, wie ich die beiden Mädels neben mir mit den Köpfen gegeneinanderschlug, damit sie nur endlich aufhörten zu tuscheln.

Doch ich tat es nicht. Stattdessen zwang ich mich zur Konzentration auf die Präsentation des Typen an der Tafel. Es handelte sich um einen Gastlektor, soviel war zu mir durchgedrungen, auch wenn ich seinen Namen nicht verstanden hatte. Er war nicht unattraktiv, mit einem kleinen Bärtchen und in seinem eleganten Anzug. Ich sah ihn vor mir, wie er nach der Vorlesung nach seinem Handy griff, mit einem Lächeln die SMS seiner Freundin las, sie zurückrief. Ihr sagte, dass er sich auf ihr gemeinsames Abendessen freute und darauf, mit ihr ins Kino zu gehen, egal in welchen Film, Hauptsache mit ihr… Und schon hasste ich auch ihn, hasste ihn vom Grunde meiner Seele auf, weil er etwas hatte, was ich nicht hatte, er und seine verdammte Freundin, und die verdammten Schlampen neben mir und alle anderen Personen in diesem verdammten Hörsaal. In Gedanken schrie ich sie alle an, schrie meine Wut darauf hinaus, dass das Leben so unglaublich, so unfassbar unfair war, dass ich glaubte, daran ersticken zu müssen, um nicht zu explodieren. Fast ohne mein Zutun stand ich auf, griff nach meiner Tasche, spürte die Blicke von fünfzig Studenten und dem Tutor auf mir und realisierte erst, als ich schon halb zur Tür hinaus war, dass ich beim Aufstehen wohl meinen Stuhl umgeworfen hatte. Ich riss die Hörsaaltür auf, stürmte hinaus, zum nächsten WC und schloss mich in einer Kabine ein. Schwer atmend ließ ich mich gegen die Wand sinken. Diesen Kurs würde ich dieses Semester wohl nicht mehr besuchen. Somit war die Anzahl meiner Lehrveranstaltungen mit Anwesenheitspflicht gerade von drei auf zwei gesunken. Egal. Ich spürte die Tränen, die von hinten gegen meine Augen drückten, darum kämpften, meine Wangen hinunterkullern zu können, mich noch mehr zum Gespött der Uni zu machen, als ich es vermutlich schon war. Harmony, die keine Vorlesung durchhielt, ohne rauszustürmen oder sich aus einer Eisteeflasche mit billigem Wein zu betrinken. Harmony, die mit niemandem freiwillig sprach und schon seit drei Semestern dieselben Kurse besuchte – und offenbar zu dumm war, auch nur einen davon abzuschließen. Die fette Harmony.

Auch egal. Ich schluckte schwer, drückte gegen meinen linken Unterarm und hätte fast aufgeseufzt vor Erleichterung, als der Schmerz in meinem Körper explodierte und die Tränen fürs erste zurückdrängte. Ich schloss die Kabine auf, warf einen kurzen Blick in dem Spiegel im dankenswerterweise leeren Vorraum – keine verschmierte Wimperntusche, keine Kajalspuren auf der Wange – und setzte meine Kopfhörer auf, bevor ich mich auf den Weg zu dem kleinen Lebensmittelladen gleich neben der Uni machte. Mein Mp3-Player hatte zwar schon seit ungefähr zwei Wochen keinen Akku mehr, aber das wusste schließlich niemand. Ich heftete meinen Blick auf den Boden, ging, so schnell ich konnte, ohne zu rennen. Auf halber Höhe in der Aula fingen die Blicke, die ich auf meinem Rücken zu spüren glaubte, an zu brennen, und als ich bei der Tür war, hatte ich das Gefühl, meine gesamte Rückseite würde in Flammen stehen. Während ich die schwere Tür aufschob, riskierte ich einen blitzschnellen Blick zurück, in der Hoffnung, sie diesmal zu sehen. Nichts. Zum zweiten Mal innerhalb von nicht mal zehn Minuten schluckte ich meine Tränen runter, beruhigte mich mit dem Gedanken an mein Mailpostfach. Bestimmt würde heute eine Nachricht von ihr auf mich warten. Oder eine SMS. Ich musste es nur in meine Wohnung schaffen, dann könnte ich sie lesen. Bestimmt.

Als ich durch die Wohnungstür taumelte, hatte ich das Gefühl, gerade einen Marathon gelaufen zu sein. Meine Knie fühlten sich weicher an als schmelzende Butter, mein Atem rasselte so laut, dass ich mir selbst völlig bescheuert vorkam und meine Finger zitterten, als hätte ich Parkinson im Endstadion. Ich hielt sie vor mein Gesicht, starrte darauf, wartete, doch das Zittern hörte nicht auf. Seit zwei Jahren und dreihunderteinundvierzig Tagen hasse ich es, unter Leuten zu sein. Ich hasse es, dass sie mich sehen, dass sie sich ihre Gedanken über mich machen können, ohne dass ich sie anschreien und ihnen sagen kann, wie falsch sie liegen. Ich hasse es, dass so viele Leute haben, was ich nicht habe, und dass sie es rein gar nicht schätzen können. Und ich hasse die Leute, die weniger haben als ich, weil ich die eigentlich nicht hassen dürfe, weil ihr Leben ja schon schwer genug ist. Dafür hasse ich sie dann noch ein bisschen mehr. Hass spielt eine ziemlich große Rolle in meinem Leben. Eigentlich ist der Hass das einzige, was mich noch zusammenhält. Vermutlich war es ein riesengroßer kosmischer Scherz, dass mich meine Mutter Harmony genannt hat. Nur dass ich nicht darüber lachen kann.
Jedenfalls zwang ich meine parkinsonzittrigen Finger dazu, meinen Laptop aufzuwecken, und während er rasselnd zum Leben erwachte, drückte ich einen Knopf an dem uralten Handy, das daneben am Ladekabel hing. Nichts. Keine Sms, kein Anruf in Abwesenheit. Aber Nummern gehen leichter verloren als Mailadressen, richtig? Und heutzutage ruft man Leute doch nicht mehr an, sondern schreibt ihnen Mails, oder? Bestimmt würde sie mir eher eine Mail schicken.

Mittlerweile war auch mein Laptop mit dem Internet verbunden. Ich klickte mich zum Mail-Login und tippte Adresse und Passwort ein. Spürte den vertrauten Druck in der Kehle und das Herzrasen, während die Seite lud. Und dann, nichts. Der Knoten in der Kehle sank in meinen Magen und würde sich nur mit ausreichend billigem Wein und klebrig süßem Blaubeerwodka auflösen, wie ich aus Erfahrung wusste. Vorübergehend.

Die Anspannung darüber, dass heute theoretisch der Tag hätte sein können, an dem ich nicht in einen leeren Posteingang, sondern auf die Mail blicken würde, auf die ich seit zwei Jahren und dreihunderteinundvierzig Tagen wartete, hatte meine Finger nass werden lassen mit kaltem Schweiß, und dementsprechend lang kämpfte ich mit dem Verschluss der Weinflasche, bis ich ihn dann endlich abbekam und nur noch ungefähr ein dreiviertel Liter Flüssigkeit zwischen dem ganzen Scheiß hier und der wunderbaren, sanften Erlösung des Betrunkenseins lag. Doch zuerst musste ich noch eine Sache erledigen. Ich knöpfte meine Jeans auf, zog den Gürtel auf, ließ sie genau da, wo ich stand, auf den Boden fallen und warf meinen Oversize-Pulli daneben. In Unterwäsche und Shirt stapfte ich ins Bad, setzte mich aufs Klo, presste auch noch den letzten Tropfen Pipi aus mir heraus und erst dann –nachdem ich mich jeglichem Gewicht entledigt hatte, das nicht dauerhaft meines war, stellte ich mich auf die Waage, den Blick an die Wand geheftet. Tief durchatmen, dann ließ ich meinen Blick nach unten zur Digitalanzeige wandern. 40,2. Yes! 0,2 weniger als gestern. Mein erstes Erfolgserlebnis heute. Den Blick zum Spiegel vermied ich, während ich Jogginghose und einen uralten Pulli vom Boden hob und überstreifte. Noch zwei, drei, ach was, vier Kilo, wo es gerade so gut lief, und dann würde ich mich wieder gern ansehen. Und dann würde Lucy zurückkommen, und alles wäre wieder so wie früher. Nur noch vier, fünf Kilo abnehmen.

Ich hatte gerade mein erstes Glas Wein ausgetrunken und angefangen, den ganzen Stress des Tages – die furchtbaren, schrecklichen beiden Stunden, die ich auf der Uni und einkaufen und unterwegs gewesen war – ganz langsam und schluckweise davonschweben zu lassen, als mein Handy klingelte und ich so heftig zusammenzuckte, dass ich froh war, das in meinem Glas nichts mehr war, das ich verschütten hätte können. Mich rief grundsätzlich eigentlich niemand an – Überraschung. Aber jetzt klingelte es, eine Nummer, die ich nicht kannte, am Display. Sofort war der Kloß in meiner Kehle wieder da. Könnte es sein…? Ich hob ab.

„Hallo?“
„Hallo!“
„Wer ist da?“
„Ist da Harmony?“
„Kennen wir uns? Woher hast du meine Nummer?“
Männerlachen. „Die hast du mir doch selbst ins Handy gespeichert! Vor drei Tagen, im Exzess.“
„Ganz sicher nicht. Tschüss.“ Auflegen.

Und vergessen, dass ich je von so einem Trottel gestört worden bin, in der einzigen Zeit des Tages, in der ich abschalten kann.

Was für ein Vollidiot. Offenbar fand das auch sein Aufriss, wenn sie ihm die falsche Nummer eingespeichert hatte. Einfach Pech, dass es meine gewesen war. Mein Handy piepste noch mal. Ich hatte offenbar schon länger keine Sms mehr bekommen, als ich gedacht hatte, denn mein Klingelton war mir völlig fremd. Wie auf Kommando raste mein gerade erst zur Ruhe gekommenes Herz wieder los. Ich griff nach dem Handy, öffnete die Nachricht. Noch mal der Vollidiot.
„Wenn du schon nicht reden willst, nächsten Samstag wieder im Exzess?“
Hartnäckig also. Wütend presste ich den Aus-Knopf am Handy. Noch mal würde er mich bestimmt nicht stören.
Früher hätten wir es unglaublich lustig gefunden, im Exzess aufzutauchen, aufgestylt bis zum kleinen Zeh, Runde um Runde an allen Typen vorbeizustolzieren, die aussahen, als würden sie auf jemanden warten, und zu beobachten, wie sie uns mit Blicken verschlagen, wissend, dass ihr Date niemals so gut aussehen würde wie wir. Aber ich war älter geworden. Wenn Lucy wieder da war, dann würde ich ihr sagen, dass wir nicht mehr so kindisch sein sollten. Dass wir versuchen sollten, etwas aus unserem Leben zu machen. Uns nur noch am Wochenende betrinken. Das würde sie verstehen. Sie verstand mich schließlich immer.

Kapitel 2

Meine Augen waren geschlossen, in meinen Ohren dröhnte der Beat, mein Körper wiegte sich rhythmisch zur Musik. Ich roch die rauchgeschwängerte Luft, sog den Mix aus Schweiß und Alkohol und hunderten verschiedenen Parfums ein, den typischen Partygeruch. Ich fühlte mich gut. War genau da, wo ich gerade sein wollte, und beinahe zufrieden mit mir und allem um mich herum. Schlug die Augen auf. Um mich herum tanzende Menschen, zuckend im Stroboskoplicht. Lachende Gesichter, Haare, die über Schultern zurückgeworfen wurden, Hände auf fremden Körpern. Ich sollte nicht hier sein. Ich konnte nicht hier sein, ich war in meinem Bett eingeschlafen. Träumte ich? Aber meine Träume erstreckten sich nicht über all meine Sinne. Ich hatte mich noch nie daran erinnert, wie etwas roch, wie sich der Boden unter meinen Schuhen anfühlte (mit zersplittertem Glas übersäht und klebrig, in diesem Fall). Langsam stieg Panik in mir auf, verdrängte die anfängliche, völlig irrationale Zufriedenheit. Meine Knie begannen zu zittern, mein Herz fing an zu rasen. Ich sog die feuchte Luft tief in meine Lungen, in der Hoffnung, einen Hauch des Vanillegeruchs meiner Wohnung wahrzunehmen, und stieß sie keuchend wieder aus, als da nichts war als die abgestandene Luft zwischen hunderten schwitzenden, feiernden Menschen. Spürte, wie mir der Schweiß ausbrach, mir mein Shirt an meinen Körper klebte.
Von hinten drängte sich jemand an mich heran, ein Mann. Ich konnte sein Parfum riechen, spürte seine breite Brust an meinem Rücken. Seine Arme legten sich um meine Schultern, umfingen mich, sperrten mich ein. Ich drehte mich um, kämpfend gegen seine Umklammerung, ließ meinen Blick langsam von seinem Hals zu seinem Gesicht wandern. Sah einem völlig Fremden in die Augen. Er lächelte mich an und bewegte seinen Kopf näher an mein Gesicht heran. Ich holte tief Luft, um loszuschreien. Und dann nichts mehr.
 
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Kommentare  

Auch von mir. Mein Kompliment. Du hast eine starke, ausdrucksreiche Sprache! Und nun bin ich ganz gespannt, wie es weitergeht.

Dieter Halle (21.03.2015)

Danke sehr!
Ich probiere mich gerade erst aus in Sachen Roman schreiben, deshalb bedeuten mir Ermutigungen natürlich besonders viel (und geben ausreichend Motivation zum Weiterschreiben :))


lilawölkchen (12.03.2015)

Mir gefällt dein Schreibstil, der fesselnd ist und zwischen den Zeilen eine Stimmung mitbringt, die richtig schön düster ist und Böses erahnen lässt. Auch wenn hier ja eigentlich noch nicht viel passiert, baust du eine Spannung auf, die neugierig macht, was da noch kommt.

Christian Dolle (11.03.2015)

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