Fröstelnd schlug ich die Augen auf. Es dauerte einen Moment bis ich in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Doch auch als ich schließlich sah, daß die vertrauten Konturen meines Zimmers mich umgaben, wollte die unangenehme Anspannung meinen Körper nicht verlassen.
Ich schluckte trocken und ließ meine Füße unter der Bettdecke verschwinden. War es nicht mehr als bloße Anspannung, die von mir Besitz ergriffen hatte?
Das kurze Zittern, das mich durchflutete, konnte ich nicht unterdrücken. Es war, als spürte ich einen starken Mitbewohner meines Körpers irgendwo in der Magengegend – und er wollte raus.
Ich wagte nicht meine Hand nach dem Lichtschalter auszustrecken. Denn er war wieder da. Deutlicher, als jemals zuvor. Mächtiger, als jemals zuvor. Er war ganz in der Nähe.
Ich erschauderte. Doch ich wollte es. Denn das war es, was ich geträumt hatte. Es war meine Vision. Doch – hatte ich eine Chance?
Schwerfällig setzte ich mich im Bett auf und lehnte einen Moment mit geschlossenen Augen am Kopfteil.
Wie oft hatte ich es mir vorgestellt? In den schillernsten Farben ausgemalt? Es hatte mein Denken beherrscht. Ich war völlig erfüllt davon.
Mit einer hektischen Handbewegung strich ich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ein leichter Schwindel machte sich in meinem Kopf breit – doch ich mußte ganz klar sein. Klar und stark.
Du mußt deine Gabe benutzen. Ja, ich wußte es. Ich mußte sie herauslassen, obwohl ich nicht wußte ob ich sie kontrollieren konnte.
Benutz sie nicht, du kleiner Hexer, du Sohn Satans. Die Worte meiner Großmutter hatten sich in mein Gedächtnis eingegraben, wie ein hinterhältiger Wurm. Magier hatten sie mich ehrfürchtig in der Schule genannt, doch das war lange her. Ich hatte keine Wahl.
Und ich hatte sie schon oft herausgelassen. Ich konnte Menschen manipulieren; das hatte ich ausprobiert. Doch wenn die Kraft mich besiegte, würde ich nicht mehr in die Realität zurückkehren können. – Hexer! – Doch hatte ich die Kraft, mich auf ihn einzulassen? Ich atmete tief ein.
Langsam stand ich auf und tastete mich bis zu dem ersten der drei Fenster in meinem Schlafzimmer. Die Kordel der Jalousie fühlte sich merkwürdig fremd in meiner Hand an. Ich faßte sie fest und zog dann kräftig daran.
Fahles bleiches Mondlicht durchflutete das Zimmer und verwandelte es in eine irreale Traumlandschaft. Mit zittrigen Fingern öffnete ich das Fenster und trat einen Schritt zurück. Ein eisiger Windhauch fand seinen Weg in mein Zimmer. Ich erschauderte und schlang die Arme fest um meinen nackten Oberkörper, als könnte ich die Wärme so ein wenig länger halten.
Ich lauschte in die Nacht hinaus. Es schien alles so ruhig, so friedlich. Nur die Bäume erzählten ihre nächtlichen Geschichten – doch ich wußte, daß der Eindruck täuschte. Denn er trieb dort draußen sein Unwesen...
Frierend setzte ich mich auf die Bettkante und wartete. Doch es würde nichts passieren, wenn ich es nicht tat. Unruhe kribbelte bis in die Fingerspitzen.
Mit einem leisen Seufzer schloß ich die Augen. Ja, gib nach. Gib dich hin.
Ich entspannte mich ein wenig. Augenblicklich kehrte die Wärme in meine Fingerspitzen zurück. Eine fremde Schwere bemächtigte sich meines Körpers und zog ihn nach unten. Ich hatte das Gefühl durch den Boden sinken zu müssen, doch ich wußte, daß ich mich keinen Zentimeter bewegt hatte.
Dann öffnete ich all meine Sinne und ließ sie durch das geöffnete Fenster in die Nacht strömen.
Meine Suche dauerte nicht lang – oder doch eine E w i g k e i t ?
Ich stieß auf eine undurchdringliche Gedankenbarriere und wußte, ich hatte ihn gefunden. Panik erfaßte mich, und ich mußte mich zwingen, nicht sofort die Flucht zu ergreifen und mich zurückzuziehen. Reglos verharrte ich. Und wartete. Ich spürte ihn. Doch seine Gedanken blieben mir verborgen. Ich hatte keinen Zugang.
Dann plötzlich – war er verschwunden.
Enttäuscht öffnete ich die Augen wieder. Hatte ich ihn verloren? War meine Kraft nicht stark genug? Ich wagte nicht darüber nachzudenken. Dann war alles umsonst. Nein verdammt, das durfte einfach nicht sein. Ich spürte die Enttäuschung durch meinen Körper beben. Ein fester Ring schloß sich um meinen Hals.
Benommen stand ich auf und schloß das Fenster, denn mittlerweile war es in meinem Zimmer unangenehm kalt geworden.
Ich fluchte leise. Wahrscheinlich hatte ich mir jetzt eine nette Erkältung eingefangen. Den Tod holte ich mir, weil ich mir einbildete, eine fremde Macht auf mich aufmerksam machen zu können. Den Tod, ja, den Tod...
Wenn meine Kraft nicht ausreichte, war alles umsonst gewesen; alles Leid, alle Schmerzen – dann hatte ich umsonst g e t r ä u m t.
Mit diesem Gedanken legte ich mich zurück ins Bett. Es war keine Einbildung. Verdammt – er existierte. Ich hatte ihn gesehen, hatte ihn gefühlt. Er existierte – das wußte ich.
Ich schluckte, erlaubte wütenden Tränen jedoch nicht, zu fließen. Frustriert zog ich die Bettdecke bis zum Kinn, und es verwunderte mich nicht, daß mir bald darauf die Augen zufielen. Einsamer Schlaf übermannte mich.
Wie lange hatte ich geschlafen – oder war ich nur kurz eingenickt? Erschrocken riß ich die Augen auf; mein Herz klopfte schmerzhaft in meinem Hals. Ich war nicht allein. Doch ich hatte das Fenster wieder geschlossen; dessen war ich mir ganz sicher. Diese Erkenntnis ließ mich erstarren. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich wäre nicht in der Lage gewesen auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
Ich schluckte. Hoffentlich war alles nur ein Traum – oder? – Nein, er war gekommen. Niemand anders konnte es sein. Nur er. Ich wußte es, doch ich wagte nicht, die Dunkelheit meines Zimmers nach seinem Schatten abzusuchen. Mein Herzschlag war ein wildes Hämmern in meinem gesamten Körper. Er mußte wissen, daß ich nicht mehr schlief. Er mußte es hören.
Plötzlich flammte ein Licht auf. Ich blinzelte geblendet. Ein kleiner Schrei wollte sich aus meiner Kehle lösen, doch ich hinderte ihn daran.
Langsam drehte ich den Kopf und sah in zwei erwartungsvolle, forschende Augen.
Mein Gott. Ich hatte es geschafft. Ich hatte es wirklich geschafft. Er war bei mir.
Vorsichtig setzte ich mich auf, wissend, daß er mich beobachtete. Und ich beobachtete ihn. Er sah anders aus als in meinen Träumen, doch er faszinierte mich – wie das Wesen in meinen Visionen. Groß, marmorweiße Haut und sehr schlank. Er war es.
Mit einer raschen, katzenartigen Bewegung strich er sich die langen fast schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr. Diese Bewegung kam so unvermutet, daß ich erschrak.
Seine feinen schmalen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln.
„Wieso konntest du mich finden?“ fragte er leise. Seine Stimme klang sanft, fast schüchtern – doch auch vorwurfsvoll.
Mein Hals war plötzlich so trocken, daß ich kaum sprechen konnte.
Doch ich antwortete mit rauher Stimme: „Ich habe eine telepathische Gabe, seit meinem sechsten Lebensjahr. Die hat mich zu dir geführt.“
Er musterte mich erstaunt. Seine grünblauen Augen nahmen mich gefangen. Es gab kein Entkommen. Und er war hungrig. Seine Augen verrieten es mir.
Doch soweit durfte es nicht kommen. Ich war mehr, ich war besser. Ich wollte nicht einer von Unzähligen sein, die er einfach benutzte, um seine verzehrende Gier zu stillen.
Es war, als hätte er meine innere Stärke aufflackern sehen, denn seine Augen ließen mich los.
Geschmeidig stand er auf und kam auf mich zu. Seine Bewegungen waren die eines Raubtiers – gelassen, doch gleichzeitig gespannt. Er war wie ein schwarzer Panther, edel und arrogant.
Vorsichtig berührte er mein Gesicht mit den Fingerspitzen. Sie waren so kalt, daß ich zusammenzuckte.
Mutig faßte ich seine Hand und zog ihn zu mir hinunter. Seine Haut war glatt wie Seide und kühl wie Marmor.
„Was willst du von mir?“ fragte er, und ich spürte seinen kalten Atem im Gesicht. Seine Nähe, sein harter Körper erregte mich.
Ich antwortete nicht, denn er wußte es bereits.
Es gab nur einen einzigen Grund, warum ich ihn zu mir gerufen hatte. Ihn, dieses edle und abgründige Geschöpf. Ich hatte die Kraft gehabt, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Diese Erkenntnis weckte ein ungeahntes Triumphgefühl in mir. Meine Großmutter hatte unrecht gehabt; sie hatte es nicht verstanden. Sie war nur eine alte, abergläubische Frau gewesen. Diese Gabe war nichts Verderbtes – sie war göttlich.
Ich sah in sein Gesicht und es war, als sähe ich es zum ersten Mal. Und ich streckte die Hand aus, um die hohen Wangenknochen, die schmale Nase und die feingeschwungenen Lippen zu berühren.
Er war mein – so wie ich ihm gehörte.
Ich drängte meinen Körper an seinen, ließ die Kälte von mir Besitz ergreifen. Ich spürte seine Hand in meinem Nacken, als er mich zu sich zog. Ich hätte mich nicht mehr wehren können.
Sein Kuß war leicht wie ein Frühlingswind, und ich ließ mich vertrauensvoll in seine Arme sinken.
Dann gruben sich seine dolchartigen Fangzähne in die weiche Haut meines Halses. Mit einem leisen Seufzer gab ich mich ihm hin. Das war mein Traum... meine Vision... Ewigkeit.
Und als das Leben sich von mir verabschiedete, spürte ich ein Lächeln auf meinen Lippen – denn das war erst der Anfang.