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9 Seiten

Blinde Leidenschaft

Romane/Serien · Romantisches
Wie sehr sich dieser blutjunge Frauenkörper auch an mich schmiegte, meine Gedanken waren weit fort, weit weg. Ich streckte meine Hand dem Fenster entgegen, versuchte, nach den Sternen, die am Himmel den Abend beleuchteten, zu greifen. Meine Gedanken waren nur bei ihm ...

Ich erinnere mich zu gut an den Abend, an dem ich ihn das erste Mal traf. Es war in einer völlig überfüllten Diskothek gewesen. Es war Wochenende, und obwohl ich diese Massenansammlungen hasste, und zudem auch die Musik nicht meinem Geschmack entsprach, quälte ich mich durch die Schar von Leuten. Ich fragte mich, was ich hier suchte. Tief in mir wusste ich es, doch ich wollte es mir nicht eingestehen.
Und dann erblickte ich ihn.Er stand an eine Wand gelehnt und sah apathisch durch den Raum. Er beobachtete nicht einmal die Tanzfläche, in der Tat das einzig interessante hier, nein, er sah völlig planlos durch die Gegend, als wären seine Gedanken in einer anderen Welt. Neben ihm sah ich ein Pärchen. Ein dunkelhaariger Junge mit einem ebenso dunkelhaarigen Mädchen. Diese knutschten hemmungslos herum, doch den Jungen, der auffällig blondes Haar hatte, schien es gar nicht zu stören.
So unauffällig wie möglich näherte ich mich dem blonden Jungen und dem Pärchen. Ich wollte sie genau betrachten. Sie reizten mich. Na, ich muss zugeben, der blonde Junge reizte mich am meisten.
Ich sah, wie er sich ungeduldig drehte, wie sich sein Körper von der Wand, an der er lehnte, abstützte und losmarschieren wollte. Doch er zögerte. Er blieb stehen und sah hilfesuchend in die Richtung des Pärchens. Dann streckte er seine Hand vorsichtig aus und berührte das dunkelhaarige Mädchen an der Hüfte. Sie schreckte zusammen und löste sich von dem Jungen mit den dunklen Haaren. Böse sah sie den Blonden an.
„Kannst du nicht aufpassen!“, fauchte sie. Der Blonde zuckte zusammen.
„Es tut mir leid!“, sagte er zähneknirschend. Der Dunkelhaarige zog seine Freundin etwas bei Seite und sah den Blonden böse an.
„Nimm’ deine Pfoten von ihr!“, bekam er zu hören. Die Schultern des Blonden senkten sich.
„Ich wollte doch nur ...“
„Ach, Marvin ...“ Der Dunkelhaarige schüttelte den Kopf, drehte sich um und zog seine Freundin mit sich. Nun war der Blonde alleine. Marvin! Es war meine Chance!
Zielstrebig trat ich auf ihn zu und lehnte mich neben ihn an die Wand, dorthin, wo noch eben das Pärchen stand, doch zu meiner Enttäuschung schien dieser Marvin gar nichts davon zu bemerken. Er beachtete mich nicht. Er zeigte keine Reaktion auf meine Anwesenheit. Stattdessen versuchte er noch einmal, diesen Platz an der Wand zu verlassen. Er sah sich um. Erst nach rechts, dann nach links, und dann setzte er einen Fuß vor den anderen. Doch es war so zögernd, dass ich mich wunderte. Seine Hände tasteten die Luft ab. Er griff um sich, doch um ihn herum war nichts. Er hatte keinen Halt mehr. Die Wand hatte er längst hinter sich gelassen. Und als er noch einen Schritt weiter ging, bemerkte ich, dass er recht orientierungslos war. Er sah den breitschultrigen Diskjockey nicht, der aufgeregt mit einer Handvoll CDs an ihm vorbei wollte. Marvin rannte ihm genau in die Arme, so dass die CDs krachend zu Boden fielen.
„Hast du keine Augen im Kopf!“, brüllte der Diskjockey los.
„Oh, es tut mir leid!“, erwiderte Marvin. Starke Verbitterung machte sich in seinem Gesicht bemerkbar. „Ist etwas kaputt gegangen? Ich kann es bezahlen ... Wirklich!“
Marvin erhielt keine Antwort mehr, denn der Diskjockey war schon längst wieder hinter seinem Pult verschwunden. Ich wunderte mich erneut. Marvin schien es gar nicht registriert zu haben.Er wandte sich dann wieder um, doch ziemlich unschlüssig. Ich bemerkte, wie sein Gehirn arbeitete, wie er überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte. Seine Stirn glänzte schon von Schweiß. Kleine Fältchen bildeten sich auf seinem Gesicht, um seine Augen, um seinen Mundwinkel. Er wusste nicht, wohin. Das war eindeutig. Er stolperte voran, und es ließ sich offensichtlich nicht verhindern, dass er noch mehr Leute anrempelte. Er stieß unsachte gegen sie oder wurde von den unliebsamen Gästen geschubst und durch die Gegend gedrängelt.
Er tat mir leid, und ich konnte mir die ganze Situation schwer erklären. Selbst wenn er die Disko nicht kannte, konnte er nicht so orientierungslos sein. Ich überlegte, ob er betrunken sein könnte ... Ich kam zu keinem Entschluss.
Als ihn schließlich so ein aufgestylter Macho anbrüllte, weil Marvin auch ihn angerannt hatte, wusste ich, dass ich einschreiten musste. Ich trat dicht an Marvin heran und fragte:
„Soll ich dir helfen? Du scheinst dich hier nicht auszukennen!“
Marvin fuhr erschrocken herum. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, doch schon wieder hatte ich das Gefühl, als würde er mich gar nicht wahrnehmen. Seine Augen, mit ihrem wunderschönen Blau, sahen an mir vorbei. Sein Körper war mir nicht einmal direkt zugewandt.
„Oh, das wäre nett, ja!“, kam es jedoch über seine Lippen. Sie waren ganz sanft geschwungen und leuchteten rosa.Ich fasste ihn am Arm.
„Lass mich raten, du wolltest bestimmt zum Klo, nicht wahr?“
Er nickte verlegen und senkte den Kopf.
„Die Toiletten sind gleich dort drüben, links von der Theke ... gerade durch!“
Er hob den Kopf wieder an, doch seine Augenwimpern blinzelten aufgeregt.
„Theke? Welche Theke?“
Meinte er das ernst? Ich sah ihn ungläubig an.
„Na, die Bar dort drüben!“ Ich zeigte nach links. Sein Blick folgte nicht.
„Ich ...“ Er sah betrübt zu Boden.
Ich erkannte seine Hilflosigkeit, obwohl mir alles doch ein wenig suspekt erschien.
„Soll ich dich hinbringen?“, fragte ich. Er nickte schüchtern. Ich griff ihm unter den Arm und nahm ihn in Schlepptau. Er wankte nicht, von Betrunkenheit keine Spur, doch er ging so schleppend, so zögernd, dass es mich schon ein wenig nervte.
Ich brachte eine Menge Geduld auf, um ihn an der Theke vorbeizuführen, um mich bei den vielen Jugendlichen zu entschuldigen, weil Marvin alle anstieß oder ihnen auf die Füße trat. Was war mit diesem Jungen bloß los?
Ich war froh, als ich mit ihm beim Herren- WC ankam. Ich zog ihn in den Raum und wartete. Er stand da und wusste wieder nicht wohin. Mir riss der Geduldsfaden. Ich packte ihn fest und zerrte ihn zu den Porzellanbecken an der Wand. Er griff zögernd danach und stützte sich ab.
„Danke...“, kam es flüsternd über seine Lippen. Ich ließ ihn los, sah ihn jedoch an, wie einen Außerirdischen.
„Sag’ mal, kann es sein, dass du...“ Ich verstummte. Es auszusprechen brachte eine akute Blockade in meine Kehle.Es war so fremd, so ungewöhnlich. Ich konnte es nicht aussprechen.
„Ja“, sagte er gefasst. „Ich bin blind!“
Ich schluckte.
„Oh, das tut mir leid“, sagte ich.
Unbewusst nahm ich von ihm Abstand. Es war absurd, doch im ersten Moment war ich so schockiert, dass ich mit diesem Jungen gar nichts mehr zu tun haben wollte. Ich fragte mich, was ein Blinder in der Disko wollte. Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich abwartend an die kühlen Kacheln. Ich war froh, dass Marvin wenigstens seine Hose alleine öffnen konnte und nicht auch noch an anderen Stellen behindert war.Ich sah ihm beim urinieren zu. So etwas hatte ich noch nie zuvor getan. Doch in diesem Moment war es mir egal. Ich kam mir vor, wie ein Voyeur. Ich betrachtete ihn haargenau. Sein blondes Haar war glänzend und gepflegt. Auch seine Kleidung war adrett und passte unheimlich gut zu seiner schlanken Figur. Ich fragte mich, wer ihm die Klamotten kaufte, wer ihm beim Anziehen half. Als er fertig war und seine Hose geschlossen hatte, drehte er sich unsicher um.
„Bist du noch da?“, fragte er zögernd. Ich stieß mich von der Wand ab und trat wieder auf ihn zu.
„Klar bin ich noch hier“, antwortete ich. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihm vor den Augen herumzufuchteln, vor ihm Grimassen zu schneiden und zu prüfen, ob er auch wirklich blind war. Doch alles deutet darauf hin. Ich musste ihm wieder unter den Arm greifen, um in die Diskothek zurück kehren zu können. Er stellte sich nicht mehr ganz so ungeschickt an, ließ sich bereitwillig von mir führen. Mittlerweile war es mir auch egal, dass wir von allen Seiten angestarrt wurden, dass getuschelt wurde. Ich brachte Marvin zurück an die Wand, wo auch der Dunkelhaarige mit seiner Freundin wieder erschien. Die Musik war laut und nervig, doch ich wollte nicht, dass der Abend für Marvin zum absoluten Reinfall wurde.
„Wollen wir tanzen gehen?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. Versuchte, mich zu fixieren, doch er sah eher über meine Schulter hinweg. Er war blind wie ein Maulwurf.
„Ich kann nicht tanzen ... Außerdem ... renne ich alle an.“ Erneut senkte er den Kopf, schien sich für seine Behinderung gänzlich zu schämen. Ich fasste spontan an seine Schulter.
„Ich mag auch nicht tanzen. Wir könnten ja um die Ecke in eine Kneipe, oder?“
Unsicher nickte er. Er war so ehrlich, konnte seine Enttäuschung von diesem Diskobesuch nicht kaschieren.
„Klingt gut ... Doch meine Freunde ...“
„Ich sag’ ihnen Bescheid“, fiel ich ihm ins Wort. Ich merkte, wie ich anfing, für Marvin die Initiative zu ergreifen. Ich nahm mir vor, diesen Abend für Marvin so schön wie möglich zu gestalten.
Spontan drehte ich mich zu dem Pärchen um und lächelte freundlich.
„Ich geh’ mit Marvin in eine Kneipe. Ihr braucht nicht warten.Ich bringe ihn auch nach Hause!“
Bei den Worten kam ich mir vor, wie ein heiliger Samariter. Umso mehr schockierten mich die Worte, die Marvins Freund mir entgegen brachte.
„Nimm’ ihn bloß mit“, sagte er abfällig und drückte seine Freundin an sich. "Der versaut einem nur den Spaß!“
„Bitte?“ Ich glaubte, schlecht gehört zu haben. Doch das Pärchen verschwand schon kichernd in der Menschenmenge.

Ich schenkte ihm ein, ich brach das Brot für ihn, ich half ihm, den Salat ordentlich auf die Gabel zu befördern. Wir lachten viel. Wir machten uns einen Spaß daraus, dass Marvin nichts sah. Er lenkte den Löffel mit meinem Schokoeis in meine Richtung, während ich die Augen schloss. Ich wollte plötzlich wissen, wie es war, blind zu sein. Das Eis landete auf meinem Hemd, doch ich konnte Marvin nicht böse sein. Seine Augen funkelten. Er amüsierte sich. Es war ungewöhnlich, dass er die Augen stets offen hielt und nur ab und zu ein wenig blinzelte. Doch seine blauen Augen waren viel zu schön, um sie zu verstecken. Er hatte nur einen leichten „Silberblick“, ansonsten war von seiner Behinderung nichts zu sehen.
Als wir mit dem Essen fertig waren gingen wir wieder zu den Toiletten. Die auffälligen Blicke der anderen Gäste beachtete ich nicht. Da war nur noch Marvin, mit seinem unsicheren Gang und seinen Augen. Auch ich musste nun „Wasser lassen“, doch ich konnte währenddessen meinen Blick nicht von Marvin wenden. Ich sah ihm wieder dabei zu, und ein Hauch von Erregung streifte meinen Körper. Er war etwas Exotisches, was ich unbedingt besitzen wollte.

Ich atmete die kühle Luft ein. Marvin kicherte immer noch. Zusammen hatten wir eine Flasche Wein getrunken. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich Marvin unmöglich noch nach Hause fahren konnte.
Bereitwillig ließ er sich zu mir nach Hause einladen. Ich wohnte ein paar Straßen weiter. Ohne zu fragen nahm ich ihn bei der Hand. Er ließ es zu. Ich überlegte, ob ich einen Umweg gehen sollte. Er würde es kaum bemerken, und ich wollte meine Hand einfach nicht von ihm lösen. Doch ich hinterging ihn nicht. Fairplay war angesagt.
In meinem Zimmer war es angenehm warm. Ich löste die Hand von Marvin, wir nahmen Platz. Erst jetzt bemerkte ich, wie jung Marvin noch war und wie gutaussehend.
„Hast du eine Freundin?“, fragte ich direkt. Er schüttelte sofort den Kopf.
„Schon mal gehabt?“ Erneut verneinte er.Ich nickte nachdenklich. Das Thema schien ihn verlegen zu machen. Seine helle Haut verfärbte sich rosig.
“Hättest du gerne eine?“ Ich ließ nicht locker. Er zuckte mit den Schultern.
„Ehrlich gesagt ...“, fing er an. „Ich wüsste nicht, was ich mit einer Frau machen sollte.Ich kenne mich gar nicht aus!“
Er wurde noch roter, zupfte ungeduldig in seinem Haar herum.
„Brüste, heiße Schluchten ... Kein Thema für dich?“ Ich konnte es nicht glauben.
„Hab’ noch keine Brust gesehen oder gefühlt“, gestand er.Er senkte wieder den Kopf, wie er es in der Disko getan hatte. Ich setzte mich spontan zu ihm auf das Bett.
„Muss dir doch nicht peinlich sein“, sagte ich. "Ich mach’ mir auch nicht viel aus Frauen.“
Ein kleines Zucken ging durch seinen Körper. Sein Gesicht drehte sich zu mir um.Er kniff die Augen fest zusammen, schien sich zu konzentrieren. Er versuchte, vielleicht einen Hauch von Konturen erkennen zu können, doch es war anscheinend zwecklos. Er seufzte tief. Ich spürte die Anspannung in seinem Leib.
„Ich will dich sehen“, sagte er verzweifelt. Die Spannung wurde immer größer. Ich spürte, wie eine Hitze in mir aufstieg und sich zusammenraffte, in meinem Schoß zur Flamme wurde.
„Ja ...“, sagte ich bedrückt.
„Darf ich dich fühlen?“, fragte Marvin. Ich nickte still. Marvin nahm es nicht wahr. Deshalb griff ich seine Hände und legte sie auf meinen Schultern ab. Marvin staunte.
„So groß... ?“ Tatsächlich war ich ein paar Zentimeter größer und kräftiger als Marvin. Seine Hände wanderten hoch an meinen Hals. Er schluckte aufgeregt, und meine Hitze wurde unerträglich. Sanft strich er über mein Haar, ertastete meine hohe Stirn, meine langen Wimpern ganz vorsichtig, dann berührte er meine Wangenknochen, meine vollen Lippen. Seine Hände begannen zu zittern.
„So schön...“ Fast verängstigt nahm er die Hände von mir. In der Tat war ich ein recht schöner Mann, doch ich prahlte nicht damit, aber Marvin schien es zu beeindrucken. Wie erstarrt saß er vor mir und atmete hektisch.
„Hast du schon mal geküsst?“, wollte ich wissen. Mein Herz schlug hoch bis an meinen Hals.
„Nein...“ Seine Stimme war kaum hörbar.
Ich riskierte es. Mein Drang, ihn zu berühren wurde unerträglich. Ich rutschte dicht an ihn heran. Fast wie durch Zufall legte sich meine Hand zwischen seine Beine. Ein tiefer Seufzer kam aus seinem Mund. Ich presste meine Lippen auf seine. Er ließ sich von mir auf die Matratze drücken. Wieder diese Hilflosigkeit, und doch eine Sehnsucht, wie nie zuvor. Meine Küsse waren zart. Seine Lippen lieblich. Dass ich der erste war, der ihn küsste, erregte mich ins Unendliche. Ich fühlte seine Männlichkeit wachsen. Ich durfte ihn ausziehen. Sein Körper brannte in meinen Armen.
„Ich kann dir Lust geben“, flüsterte ich in sein Ohr, „Lust, wie nie zuvor...“
„Ja...“ Er umarmte mich gierig. Ich zog die Decke über unsere Körper und legte mich dicht an seinen Leib. Ich verwöhnte ihn mit Küssen, Streicheleinheiten, mit liebreizenden Worten, bis ich nur noch stöhnte. Ich bat ihn um Einlass. Wir gerieten in Ekstase, als ich in seinen jungfräulichen Körper eindrang und ihn zärtlich penetrierte. Er sollte keine Schmerzen spüren. Ich war behutsam, wie nie zuvor. Es wurde ein langer Liebesakt, der mit einer großen Erfüllung endete ...
Ich war noch benebelt, quasi im Rausch, als Marvin sich am frühen Morgen ein Taxi bestellte und mich verließ.Wir sprachen nicht über ein Wiedersehen, wir sprachen nicht über unsere Gelüste ...

Ich drängelte diesen Frauenkörper jetzt von mir. Ich konnte sie nicht mehr ertragen. Schon seit Tagen nicht mehr. Meine Hände reckten sich immer noch nach den Sternen, doch sie waren unendlich weit entfernt, so weit und fremd. Und ständig dachte ich an ihn ...

Nach meiner ersten Begegnung mit Marvin, fühlte ich mich wie ein neuer Mensch. Ich lief durch die Straßen und genoss meine Instinkte, meine Sinne, meine Wahrnehmungen. Ich sah die Menschen mit anderen Augen. Ich prüfte sie gründlich. Ich prüfte ihre Ehrlichkeit, ihre Toleranz.
Und immer wieder ertappte ich mich, wie ich die Augen schloss und in eine Welt der Dunkelheit entfloh. In Marvins Welt. Ich wollte fühlen können, wie er. Ich wollte ihn verstehen können. Ich wollte meine Meinung zu einer Behinderung ändern, ich wollte die Meinungen der anderen ändern. Ihre Vorurteile schüren. Und ganz neuartig brachte ich eine arbeitsreiche Woche hinter mich, doch ebenso aufgeregt fieberte ich dem Samstagabend entgegen. Ich hoffte insgeheim, Marvin wiederzutreffen. Ihn erneut zu verführen und mich selbst entführen zu lassen, in die Welt der Blinden.
Als dann der Abend gekommen war, stolzierte ich voller Erwartung durch die Disko, doch Marvin traf ich nicht. Lediglich das dunkelhaarige Pärchen lief mir über den Weg. Ich sah sie an und grüßte freundlich, dann erkundigte ich mich nach Marvin. Der Typ des Pärchens winkte sofort ab.
„Marvin ist nicht hier! Ist auch besser so! Der ist doch nur ein Klotz am Bein!“
Ich glaubte, zu träumen.
„Wie kannst du so ewtas sagen?“, fragte ich erschüttert.
„Ist doch wahr! Mit Marvin bist du doch nur gehandikapt!“
Er ließ mich sprachlos zurück.

Die Sterne waren immer noch unerreichbar, doch mein Traum wurde langsam Wirklichkeit. Ich wollte zu ihm, sosehr. Ich schob den Frauenkörper von mir.
„Es geht nicht“, sagte ich und zog mich wieder an.
„Aber ... wieso nicht?“ Ihre Enttäuschung war nicht zu überhören, doch es war nichts neues. Seit dem ich Marvin kannte, hatte ich für diese Frau nichts mehr übrig.
„Ich kann eben nicht!“, sagte ich eindeutig. Dann verließ ich das Haus.

Ich war froh, als ich das Haus, in dem Marvin wohnte, endlich fand. Und ich war sehr aufgeregt, als ich die Klingel betätigte. Eine Frau öffnete. Ich sah sofort, dass sie in einem bedauernswerten Zustand war. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht schien mitgenommen und traurig. Ich dachte mir jedoch nichts dabei, denn ich wollte zu ...
„Marvin!Ist er da?“
Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. Sie konnte mir nicht antworten. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Dann kam ein Mann und schob die Frau sachte zur Seite, er riet ihr, sich hinzulegen und zur Ruhe zu kommen. Erneut fragte ich nach Marvin. Der Mann, wohl sein Vater, sah mich ernst an.
„Marvin hatte einen Unfall“, erzählte er mir. Betroffen schüttelte ich den Kopf.
„Nein, was ist passiert?“ Ich ahnte nichts Gutes.
„Er geht sonst nie alleine raus“, schilderte der Mann, „Doch am Samstag ist er weg ... Wollte zur Disko. Er wurde angefahren!“

Ich war verwirrt wie lange nicht mehr, und als ich Marvin im Krankenbett liegen sah, drohte mein Herz vor Schmerz zu zerreißen. Ich beugte mich über ihn, streichelte seine Wange und küsste ihn zaghaft. Seine Augen „sahen“ wirr durch den Raum.
„Bist du es?“, fragte er verstört.
„Ja, natürlich.“ Ich umarmte ihn zärtlich. „Was machst du denn für Sachen, Marvin?“ fragte ich sogleich. Marvins Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich wollte doch so gerne zu Dir ...“
„Aber, alleine auf der Straße ...“, erwiderte ich ermahnend und schüttelte betroffen den Kopf.
„Ich werde vielleicht nie wieder laufen können“, sagte Marvin plötzlich. Mir stockte der Atem.
„Wie? Wer sagt das?“, fragte ich entsetzt.
„Die Ärzte sagen das.Wenn ich Pech habe, bleibe ich gelähmt“ Er schluckte verbittert. "Vielleicht müssen sie operieren. Der Arzt sagt, es wird schmerzhaft werden ... Ich muss ganz viel Krankengymnastik machen, neu Laufen lernen ... wochenlang in die Reha und vielleicht wird alles umsonst sein...“
Ich konnte erst nichts sagen. Ich stellte mir vor, wie es wäre mit diesem blinden Jungen im Rollstuhl durch die Gegend zu fahren. Ja, und? Es war mir plötzlich so egal.
„Wir schaffen das schon“, sagte ich und drückte ihn fest an mich.
„Wir?“, fragte er erstaunt. Er trocknete seine Tränen.
„Ja, natürlich... Ich werde immer für dich da sein...“
 
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Kommentare  

Eine wunderschöne Geschichte, wie auch "Lydia". Freue mich immer wieder, wenn ich etwas von dir finde. Genau wie deine Bücher sind sie eine Klasse für sich.

Liesel (24.10.2005)

das ende ist wirklich etwas weit hergeholt, aber sonst ist die geschichte wunderschön!!! ;D

soyutlama (28.05.2005)

*griiiiiins*
So unrealistisch sie ist, so schön ist sie doch.
Gut, das Ende is ein wenig dick aufgetragen... Blind UND Rollstuhl is schon ein wenig heftig für ein Schicksal in einer Kurzgeschichte.
Aber die Geschichte läd doch zum träumen ein!

Ach, und zu dem Kommentar von Teleny: Naja... schwul bin ich auch... das macht die Geschichte nicht besser oder schlechter. Ich glaub, emotionen können alle Leute haben


caliban (16.10.2004)

Wirklich schön geschrieben. Die Gefühle des
Ich-Erzählers sind gut dargestellt, besonders auch
seine anfänglichen Zweifel Marvins Behinderung
gegenüber.
Blind und im Rollstuhl, das ist ein hartes Schicksal
Auch wenn es nur Charaktere einer Kurzgeschichte
sind, hoffe ich doch, dass Du ihm dieses Schicksal
nicht zugedacht hast!


Silberchen (09.01.2004)

Wunderschön, aber zum heulen kitschig und unrealistisch. Wie wärs mit einer Geschichte, die glaubhafter ist?

erikajulia (04.06.2002)

Hallo Skylark!

Endlich bin ich dazu gekommen mal eine andere Geschichte, außer Deiner Leseprobe zu lesen....
Eine wunderschöne Geschichte, sie berührt einen wirklich emotional, vor allem, der Schluß. Eine traurige, aber sehr bewegende Geschichte! Wirklich erste Klasse! Ich finde sie wunderschön!
Alles Liebe


Merit-Amun (06.01.2002)

Die meisten meiner Vorredner haben diese Geschichte nicht mit den Augen eines schwulen Mannes gelesen. Natürlich, das ist auch nicht notwendig. Nur, aus den Augen... den sinnlichen Gedanken... Gefühlen eines Schwulen...liest sich Deine Geschichte um ein Vielfaches schöner und gefühlvoller...als eben meine Vorredner zu verbalisieren fähig waren! Ihnen fehlt diese Stimmung... Die Situation, das der schöne blonde Junge blind ist, vielleicht sogar gelähmt... verstärkt alles nur noch.
Bin sehr berührt!


Teleny (02.12.2001)

Komischer Schreibstil....Kann mich mit der Thematik und diesem komplzierten Geschreibe nicht anfreunden!

Anne (03.10.2001)

Erst nach einigen Zeilen bemerkte ich, dass ich die Geschichte vor mir hatte, von der Du mir einmal erzähltest.
Sie gefällt mir.


Nio (17.09.2001)

Bewegend... diese Geschichte. Der gute Aufbau der Geschichte und ein sehr guter Schreibstil geben dieser Geschichte „Leben“. Die Thematik ist sehr gut beschrieben worden, wenn auch etwas ungewöhnlich. Die Tatsache, dass es sich hier um eine Männerbeziehung handelt, lässt die Sensibilität der Beschreibungen nicht schwinden, das Wichtigste sind die Gefühle, die hier wundervoll beschrieben sind. Der Autor vermittelt seine Gefühle perfekt.
Lesenswert... mehr brauche ich nicht hinzuzufügen!


SabineB (Jurorin) (01.09.2001)

Sehr interessante Geschichte, wie sie sich nach und nach aufbaut. Ich muss sagen, einige Male war ich wirklich überrascht. Gute Idee. Aber es sind zu viele umgangsprachliche Wörter drin, wenn die nicht wären, würde die Geschichte besser klingen und rüberkommen!

Marco Frohberger (09.08.2001)

Ich kann mich Nina nur anschließen! Sehr schön geschrieben! Behinderung sollte in der heutigen Gesellschaft wirklich kein Problem mehr sein...leider ist es oft noch so! Weiter so

esmias (06.08.2001)

Die Einfühlsamkeit mit der Marvin beschrieben wird, geht erst mitte der Geschichte hervor.
Ich habe die Geschichte gerne gelesen und fand sie wirklich gut!!


Nina (03.08.2001)

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