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"Brief an die Jugend"

Kurzgeschichten · Erinnerungen
„Tach au, ihr lieben Rentensystemaufrechterhalter!“

Nun ja, vielleicht ist das nicht ganz die eisbrechende Anrede für eine Zielgruppe, deren Sprache ich vor rund 17 Jahren noch fließend beherrschte.
Kein cooler Spruch, keine geheimnisumwitterte Abkürzung war mir/uns fremd und genau so sollte es für immer bleiben. Uns war klar, wir sind die Besten!

Natürlich haben auch wir nicht immer alles richtig gemacht.
Beispielsweise wurde auf Feten häufig festgestellt, dass übermäßiger Alkoholgenuß in Verbindung mit Triebhaftigkeit und den Versuchen komplette Sätze sinnvoll aneinander zu reihen, selten ein harmonisches Ganzes bildeten.
Okay, zwei Pfund Nudelsalat und ´n Liter Mariacron waren wohl noch nie die glücklichste Kombination, um seiner Traumfrau endlich den Hof zu machen.
Aber hatte auch jemals einer von uns an einem „Flirtkurs“ teilgenommen oder Fachliteratur Marke „Erfolgreich Anmachen“ studieren können? Gab es doch nicht!
Selbst wachrüttelnde Sätze, wie „Keine Macht den Drogen“ wurden erst Jahre später geprägt und zeigen noch heute Schwächen. Ergo – Selbstversuch!

Die angesprochene „Weg mit den Hemmungen – Technik“ war jedoch spätestens dann zum Scheitern verurteilt, wenn sich beim intimen Tête-à-tête die Alkfahne nicht ohne den kompletten Mageninhalt ins Freie traute und man prompt ahnte, „Oops, werden wir jetzt womöglich doch kein Paar ?!“
Nach unzweideutiger Stellungnahme der Angebeteten konnte man seine nächsten Annäherungsversuche getrost etwas tiefer auf der nach unten offenen Angela-Merkel-Skala ansetzen! (die Älteren werden sich an die seinerzeit gültigen Alice-Schwarzer-Referenzwerte erinnern)

Das fiel einem damals allerdings auch nicht sonderlich schwer.
In der Turnschuhgeneration verbarg sich die Schönheit der meisten Frauen ohnehin unter üppigen, dunkelblauen Sweatshirts mit pfiffigen Harvard-University-Aufdrucken
oder ähnlichen „Da-werde-ich-wohl-nie-hinkommen-Bildungsstätten“.
Während beim Schminken das Motto „Viel hilft viel“ zählte, waren die Dauerwellen von solcher „Eleganz“ und Gleichförmigkeit, dass – aus heutiger Sicht – die gesamte
Friseurinnung wenigstens zehn Jahre lang nicht einen Pfennig Geld hätte verdienen dürfen. Und die Clearasilforschung steckte auch erst in den Anfängen ...

Fitnesstudios gab es weltweit etwa zwölf, überwiegend in den USA. Damals war ein Bauch noch ein Bauch und ein Waschbrett zum Waschen, Hilfsmusizieren oder bestenfalls als wedelnder Blasebalgersatz bei Grillfesten tauglich.
Eine Assoziation zur erweiterten (damals noch ungepiercten) Nabelregion war weitgehend unbekannt.

Rückwirkend muß man sich fragen, wie diese Generation überhaupt geschlechtlich zueinander gefunden hat. Sex war schließlich eins der schlimmen Worte und wurde
einem seinerzeit nicht so vorgebetet, wie in den heutigen Medien.
“Her mit den kleinen Engländerinnen“ und „Klimbim“ waren die visuellen Erotikhighlights einer vor Potenz trotzenden, semiaufgeklärten Jugend. Mein Gott, mußte man sich da im Kreise seiner Lieben unter Kontrolle halten!
Kamen dann endlich die spannenden Momente, wurden die zehn Sekunden Möpsegehoppel der Steeger im elterlichen Wohnzimmer so stoisch und angestrengt reglos konsumiert, als schaue man eine Werbung vom Persilmann.
Dabei hätte man freihändig eine Fliege von der Stubendecke schießen können ...
Eigentlich mußte es seinerzeit heißen: „Ingrid Steeger, da weiß man was man hat !!“

Aber lustig war’s schon – damals!
Bei drei politisch korrekten TV-Kanälen und DDR1 in schwarz/weiß, war Nonstop Nonsens jede Woche ein echtes Glanzlicht deutscher Unterhaltungskunst.
Heutzutage lacht man wohl eher, wenn einer den nervigen Meisenkaiser endlich mal mit der Pumpgun aus den Schuhen hebt und im Wald verteilt!

Ein Ohrstecker beim Mann war in jenen Tagen eine Revolution, eine Auflehnung gegen die Gesellschaft, gegen die Familie, gegen die Politik und gegen alles
andere auch und überhaupt ...
Na ja, „Anti-“ war halt irgendwie cool.

Und heute? Heute hat doch jeder Sechzehnjährige durch mannigfaltige Piercings mehr Körperöffnungen als ein Beulenpestpatient im Endstadium.
In unserem Abi-jahrgang haben zwei bis drei Leute gehascht. Mann waren die abgefahren und wir begegneten ihnen mit skeptischer Anerkennung und Respekt.
Einen heutigen Oberschüler ohne Drogenerfahrung zu finden, ist fast so aussichtslos, wie die Hoffnung, dass die Waschmaschine in einem männlichen Singlehaushalt eine gerade Anzahl von Socken wieder freigibt .

Und wie geht’s weiter ?
Was kommt nach Techno, Piercing, Branding, Barbiebondage und Amokrunning ?
Dopen sich die Stars der Generation Next auf der Bühne zu einem künstlichen Epilepsieanfall? Vierhundert Zuckungen per minute kommen doch bestimmt geil!
Dazu ein gecovertes „Heidschi Bum Beidschi Bum Bum, Bum Bum, Bum Bum Bum ...“ , natürlich im Warp Speed Rave Mix Sound.

Okay, Hein Simons wird sein Werk wohl nicht mehr erkennen,
aber vielleicht erhält er ja ein paar Tantiemen und kann dafür den ein oder anderen Rentnerbus ohne Singsang wieder nach Hause schicken und auf die Gage von sechs Gulden fuffzig verzichten.

Hey, das wär’s doch, so helfen am Ende die Jungen wieder den Alten und der Kreislauf ist geschlossen! So düster sieht’s also gar nicht aus.
Ich versteh‘ zwar nicht mehr alles, aber auf diese Jugend kann man wohl doch bauen.
Und wenn nicht, dann bleibt mir wenigstens Nina Ruge und die Hoffnung - „Alles wird gut“ !!!


cu
der Dennis
 
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Kommentare  

Brief an die Jugend - den Titel fand ich irgendwie voll daneben, Marke Laienprediger. Aber immerhin, er hat mich dazu gebracht, die Geschichte zu lesen. Und da auch ich ein Relikt aus dieser Zeit bin, habe ich jeden Satz genossen und finde Deine Art, Dich bzw. unsere Generation auf die Schippe zu nehmen, einfach köstlich. Ich wünsche mir mehr Gescichten von Dir; Deinen Namen habe ich mir notiert.
Grüße aus dem Schwarzwald


Gabi Mast (04.06.2004)

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