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4 Seiten

Tobias und die Schattenwelten

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ich bin seit ca. 10 Jahren Psychotherapeut. Mit eigener kleinen Praxis und festem Klientel. Mir liegt jeder Patient sehr am Herzen. Jeden nehme ich ernst und jeden behandele ich gleich. Allein in den Angehungsweisen und Therapiemöglichkeiten unterscheide ich.
Jeder Psychose, Neurose oder Phobie konnte ich schnell einen Lösungsvorschlag zuordnen. Glaubte ich zumindest. Alles hatte seinen Sinn, meine therapeutischen Werkzeuge funktionierten gut und nichts wich von meinem Wissen ab. Es war alles für mich erklär- und therapierbar. Bis Tobias in meine Praxis kam.

Er hatte eine hagere Gestalt, wache und intelligente Augen, seine Worte waren gut gewählt und deutlich gesprochen. Seine Haltung, Kleidung und Stimmlage deuteten auf einen sehr extrovertierten und selbstbewussten Menschen hin. Kurzum sah er aus, wie ein gesunder 30 jähriger Mann und nichts ließ auf eine psychische oder physische Krankheit schließen.
Er war jedoch nicht freiwillig zu mir gekommen. Die Auflagen eines Gerichts hatten ihn gezwungen, mich aufzusuchen. Tobias erzählte ganz frei von seiner Anklage wegen „Störung des öffentlichen Friedens“ und dem Urteil, das ihm diese Auflagen beschert hatte.
Mir war natürlich nicht bekannt, was er genau gemacht hatte. Er erzählte viel; aber eigentlich nichts. Als Tobias gegangen war, forderte ich vom Gericht weiterführende Akten an.
In dieser ersten Sitzung hatte ich nicht viel aus ihm herausbekommen. Ich erfuhr, dass er alleine lebt, arbeitslos ist und die Natur liebt. Mein erstes Bild von ihm, war noch lückenhaft, aber etwas böses, wahnsinniges konnte ich ihm nicht zutrauen.
Eine Woche darauf kam er wieder. Seine Bewegungen waren eindeutig hastiger und sein Blick schweifte ruhelos umher. Er sah durch mich hindurch und auf meine Fragen antwortete er nur gedrückt und kurz. Pausen, die bei der ersten Sitzung nicht auftraten, überbrückte ich. Er erschien mir, wie vollkommen ausgewechselt. Tobias war weit weg, abwesend und gar nicht bei der Sache. Ich unterließ es, ihn darauf anzusprechen.
Dann ging er und war fort, aber diese beklemmende Enge war geblieben. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass ich eine Stufe weiter in den jungen Mann hineingetaucht war.

Die nächste Sitzung absolvierte ich allein mit meinem Diktiergerät, denn Tobias war nicht gekommen. Als zufälliger Ersatz flatterte aber Gerichtspost ins Haus. Ich erkannte Tobias nicht wieder.

Am 12.02.03 riefen mehrere Bürger die Polizeistelle 6 um Hilfe an. Daraufhin fuhr ein Streifenwagen zum Ort des Geschehens. Gemeldet wurde ein offensichtlich verstörter Mann, der sich sehr merkwürdig verhält. Die Beamten brauchten nach dieser Person nicht lange suchen.
Neben einem kleinen Zeitungsladen stand der Mann. Seine Kleidung war zerrissen, er blickte auf eine Stelle an der Decke und murmelte leise irgendwelche Wörter. Um ihn herum hatte sich ein Pulk Menschen gebildet, aber so wie es aussah, bemerkte er sie gar nicht. Auch als die zwei Polizisten versuchten ihn anzusprechen, erfolgte keine Reaktion. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn anzufassen. Als einer der Polizisten ihm am Arm nahm, schlug er, ohne auf sein Ziel zu schauen, einfach in die Richtung des Beamten und dieser fiel. Der zweite Polizist stürzte dazu und mit vereinten Kräften schafften sie es den Verwirrten Handschellen anzulegen. Er zitterte und schwitzte am ganzen Körper.
Im Streifenwagen kam er wieder zu sich und fragte die Beamten, was denn geschehen sei.

Für mich deutete alles, was ich lesen konnte, auf eine Psychose hin. Eine Psychose mit starken Wahnvorstellungen. Dies war mit mehreren Medikamenten behandelbar.
Nur wie behandeln, wenn der Patient fehlt?

Eine Woche später.
Ein Kollege aus dem Gefängnis rief mich an. Tobias hatte in einem Einkaufscenter eine Passantin angefallen. Ihr war nichts passiert, aber sie hatte ihn angezeigt. So war er in Untersuchungshaft gekommen. Der Fall war somit abgegeben. Ich ertappte mich trotzdem öfter dabei, dass ich an diesen Patienten dachte. Als diese Nachwehen schon fast verebbt waren, hatte ich eine Überraschung im Briefkasten.
Es war ein Brief aus dem Gefängnis, ein Brief von Tobias. Wundern tat es mich wenig, denn meine Patienten schrieben mir auch aus Justizvollzugsanstalten. Als ich den Brief jedoch öffnete, stockte in mir etwas. Auf einem riesigen A4-Blatt stand in sauberer Handschrift:

„Mach Dir keine Sorgen. Den Abschied fühlte ich, wie die Tränen. Behüte deinen Schlaf. Ich warte auf das Wiedersehen.“

Wie versteinert saß ich da. Nicht den Sinn, sondern den Menschen hinter den Zeilen hatte ich erkannt. In mir wirbelten die Gefühle. Mir war zum weinen und zum lachen. Ich konnte nichts von Beidem.
Nicht Tobias hatte dies geschrieben. Es war wohl seine Handschrift, aber in meinem Inneren wusste ich, dass es Elisa war. Noch immer stellen sich mir die Nackenhaare hoch. Der Gedanke, dass ich mir das eingebildet haben könnte, ist abstruser, als das was ich glaubte.
Meine Frau war vor einem Jahr gestorben. Der Krebs hatte seine Wurzeln tief in sie gestreckt. Und in ihrer letzten Stunde fehlte ich. Sie war allein und ich war nicht für sie da. Ihren letzten Atemzug hätte ich mir in meinen Armen gewünscht. Ganz nah bei ihr.
Als sie ging, zerbrach eine Welt. Die Sonne war zertrümmert und die Luft drückte von allen Seiten. Jede Minute war die ihre. Nur an sie gingen meine Gedanken. Jeden Abend kramte ich in den Erinnerungen. Wir am See, im Urlaub und da die Kinoeintrittskarte vom ersten Treffen.
Mit der Nacht kamen die Tränen und nur der Schlaf versprach Befreiung. Ich weiß nicht warum, aber als ich die Zeilen aus dem Gefängnis las, spürte ich meine Elisa. So nah und intensiv, als stünde sie neben mir.
Ich musste Tobias zurückschreiben und mir letztendlich Gewissheit verschaffen. Größte Mühe gab ich mir beim formulieren. War mir doch eine Antwort viel mehr als wichtig. Negativwörter benutzte ich nicht und auch seine Psychose sprach ich nicht an. Ich versuchte es auf eine freundschaftliche Art. Nur versteckt in Metaphern fragte ich nach meiner Frau. Dem Umschlag packte ich noch ein paar Briefmarken bei und steckte ihn dann ein.
Wie eine Räderung empfand ich das Warten. Dabei war mir bewußt, dass der Postweg nur schleppend verläuft. Gerade in Untersuchungshaft, wo jeder Brief erst einmal vom Richter gelesen wird.
Die Patienten, die ich in der Zwischenzeit hatte, behandelte ich nur peripher. Ständig dachte ich an Elisa. Nicht ein Mikrometer Gehirn war von ihr nicht beseelt. Die Sehnsucht nach meiner Frau, hatte sich in die Sehnsucht nach dem Brief verwandelt.
Und endlich, es war Samstag, kam er.

Bevor sie diesen meinen Brief lesen, denken sie daran, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt. Ich war lange Zeit wie sie. Nahm das Leben als einziges Leben und bemaß die Existenz nach Geburt und Tod auf Erden. Lebte mein Leben dahin. Nur um irgendwann einmal zu sterben. Diese Zeit, das war meine alleinige Existenzgrundlage, wollte ich so gut wie möglich hinter mich bringen.
Das ist lange her. Nach meinem ersten Eintritt, meiner Reise in die Dunkelheit, hatte sich alles um mich herum in Luft aufgelöst. Die Welt, die sie kennen, war für mich verblasst. In der Schattenwelt seh ich mehr. Hier kann ich Gefühle riechen und mit Gedanken schreien.
Diese Reisen häuften sich. Mein unnutzer Körper blieb zurück und nur meine Seele bereiste die Schwärze. Hier bei Ihnen bin ich nur noch selten.
Das mich Nichtwissende für krank halten, liegt in der Natur des Menschen, der für Nichtwissen einfach Regeln einsetzt, die nichts gelten. Sie sehen nur die Oberfläche und nicht das Innere.
Ich schreibe Ihnen, weil sie mir glauben werden. Ich bin nicht allein und sie spüren, wen ich in der Schattenwelt traf.
In allem Schwarz und Dunkel entdeckte ich diesen verirrten Engel. Ihr Geist war noch nicht ganz rein. Irgendwas lastete auf ihren Schultern. Etwas war unerledigt. Sie schrieb durch mich und allein ihr Glaube, lässt ihre Frau die Brücke von der Schattenwelt ins Licht finden. Erst dann wird sie Ruhe finden. Glauben sie, freuen sie sich auf das richtige Leben nach dem Leben mit ihrer Frau. Das Band der Liebe wird weiter bestehen. Selbst im Reich der Schatten war es fühlbar.
Lange bleibe ich nicht mehr. Mein Geist wird bald übertreten und es wird besser sein. Hier ist es ein Sterben. Im Schattenreich eine Geburt.
Warum im flachen Wasser ankern, wenn es da draußen so viel zu erleben gibt!!

Ich habe den Brief noch immer. Auf dem Nachttisch, hinter dem Foto meiner Frau. 3 Monate nach diesem Brief erreichte mich ein Anruf von meinem Kollegen aus dem Gefängnis. Tobias lag im Koma. Einfach so. Es gab keine körperlichen Komplikationen. Er hatte es wahr gemacht.
Meinen Beruf hab ich an den Nagel gehängt. Krank und Gesund konnte ich nicht mehr richtig unterscheiden. Ich war mir nicht mehr sicher, dass eine Wahnvorstellung wirklich eine war. Warum sollte es nicht mehr Menschen wie Tobias geben? Mein studiertes Wissen war zu einem kläglichem Ahnen geworden. Was ich gewusst hatte, wusste ich jetzt nicht mehr. Tobias hatte mich geändert. Mein Horizont war nun auf eine andere Art erweitert. Ich, der eigentlich Gebende, hatte bekommen. Mit seiner Erzählung über die Schattenwelt und den Kontakt zu meiner Frau hatte er mir meine Schatten genommen. Endlich kann ich leben, habe keine Angst mehr vor dem Tod und freue mich auf Elisa.

Danke Tobias.
 
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