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3 Seiten

9 Tage

Trauriges · Kurzgeschichten
"Ich bleibe nicht lange," sagte sie mir bei der Umarmung auf dem Bahnsteig. Ich fragte nicht, was sie damit meinte, stattdessen schlug ich vor, in dem kleinen Bistro, dass sie immer so gemocht hatte, etwas Essen zu gehen. "Gerne!" antwortete sie und strich sich dabei mit einer flüchtigen Handbewegung eine Strähne aus ihrem Gesicht, genau so, wie sie es immer gemacht hatte, so, als wäre sie nie weg gewesen.
Die Stadt war überfüllt, so wie jeden Freitag Abend. Normalerweise hätte es mich gestört, doch heute, zusammen mit ihr, war es mir egal. Wir fuhren mit der U-Bahn, denn ich wusste, dass sie Autofahrten nicht mochte. Aus genau diesem Grund hatte ich meinen Wagen auch vor der Haustüre stehen lassen, als sie mich heute Nachmittag überraschend anrief.
"Ich bin um 19 Uhr am Bahnhof," sagte sie, "Hast du Zeit? Würdest du mich abholen?" Natürlich hatte ich "Ja" gesagt, auch wenn ich etwas erstaunt über ihren plötzlichen Anruf war. Ich fuhr mit der S-Bahn zum Bahnhof, so wie ich es damals auch immer gemacht hatte, wenn ich sie abholte. Mein Gott, wie lange war das jetzt her? 2 Jahre? Ja, diesen April mussten es schon 2 Jahre sein. Drei Jahre ohne jeglichen Kontakt. Kein Brief, kein Anruf, keine Erklärung. Sie war einfach aus meinem Leben verschwunden.
Und jetzt? Jetzt war sie plötzlich wieder aufgetaucht, saß mir gegenüber an dem großen, runden Bistrotisch, lächelte verlegen und griff nach ihrem Cola-Glas.
Ich schaute sie an ohne etwas zu sagen. Ich wollte sie fragen, was damals passiert was, warum sie so plötzlich verschwunden war. All die Fragen, die mir seit dem Zeitpunkt, als sie einfach gegangen war, im Kopf umherschwirrten, doch ich war mir nicht mehr sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte, die Wahrheit wirklich verkraften konnte. Sie hatte mir damals einfach zu sehr wehgetan, hatte mein Herz zertrümmert, mich ohne eine Erklärung stehen lassen.
"Wie geht es dir?" fragte sie mich jetzt. "Gut," antwortete ich knapp, "Ich hab einen neuen Job. Bei einer Versicherung, weißt du?" "Das klingt sehr vernünftig." "Na ja, es ist vielleicht etwas langweilig, aber ich verdiene ganz gut und die Kollegen sind auch alle sehr nett!" "Das freut mich für dich," erwiderte sie und griff nach ihrer Handtasche. "Entschuldigst du mich bitte kurz?" "Klar," antwortete ich und sah ihr hinterher, wie sie in Richtung Toiletten verschwand. Sie trug ihre Haare jetzt kurz, das war mir als Erstes aufgefallen, als sie aus dem Zug stieg. Aber es stand ihr mindestens genauso gut, wie die langen dunklen Haare, die ihr damals fast bis zur Taille gingen. Ich hatte ihre Haare immer geliebt, den Duft und das schöne Gefühl ihre weichen, samtigen Haare zwischen den Fingerspitzen zu berühren.
Warum war sie plötzlich wieder da? Gab es einen Grund für ihren unerwarteten Besuch? Ich beschloss, abzuwarten.
Nach dem Essen fuhren wir zu mir, saßen lange stumm Arm in Arm auf der Couch und hörten Musik. Ich war mir fast sicher, dass sie nur darauf wartete, dass ich sie fragte, warum sie damals ohne eine Vorwarnung weggegangen und nun ebenso plötzlich wieder aufgetaucht war. Doch ich war im Moment nicht dazu in der Lage, wollte einfach nur den Moment mit ihr genießen, den Augenblick festhalten, um all das nachzuholen, was uns in den letzten Jahren verwehrt geblieben war. Als ich auf die Uhr sah, war es halb drei. Ich spürte an ihrem ruhigen, gleichmäßigen Atmen, dass sie eingeschlafen war. Vorsichtig nahm ich sie in den Arm und trug sie ins Schlafzimmer, wo ich sie behutsam zudeckte. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und legte mich auf die Couch. Ich bin mir sicher, dass ich in dieser Nacht mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief.

Sie blieb neun Tage. Als der Arzt mir einen Tag nach ihrem Tod mitteilte, dass sie einen Gehirntumor hatte, reagierte ich ziemlich gefasst. Als ich jedoch in ihren Sachen den Brief fand, begann ich zu weinen.



Liebster Dirk!

Ich hätte es dir viel eher mitteilen müssen, aber es war die schwerste
Entscheidung, die ich je in meinem Leben treffen musste.
Und glaub mir, es war nicht einfach. Als mir die Ärzte damals mitteilten,
dass ich Krebs hätte und die Chancen nicht gut stünden, wollte ich dich nicht
damit belasten. Die 674 Tage, in denen wir getrennt waren, habe ich jede Stunde
gezählt, immer an dich gedacht, mir überlegt, was du wohl machst, ob wenigstens du ein glückliches Leben führst.
Ich wollte nicht, dass du dir wegen meiner Krankheit Sorgen machst, deshalb habe ich
mich nie gemeldet, aber sei dir sicher: Mit meinen Gedanken war ich immer bei dir.
Und als mir die Ärzte mitteilten, dass es zu Ende gehen würde, wusste ich, dass ich
dich um alles in der Welt noch einmal sehen musste; mich davon überzeugen
musste, dass es dir tatsächlich gut geht.
Bitte sei mir nicht böse, für das, was ich dir angetan habe, ich habe es nur für dich getan.

In ewiger Liebe, Eva



Es war nur eine sehr kurze Zeit, doch diese Tage waren all das wert, was ich in den zwei Jahren vermisst hatte. Sie blieb nur neun Tage – und doch eine Ewigkeit!
 
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