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3 Seiten

Hinter der Maske

Trauriges · Kurzgeschichten
© Dajara
Prolog:
Die letzten Blätter fielen von den Bäumen, aber sie konnte sie nicht sehen, sie hörte nur das Rascheln, wenn sie auf dem Boden aufkamen. Es war Nacht, so dunkel als hätte sich ein Schleier aus schwarzem Samt über ihre Augen gelegt und sie hörte nichts außer ihren eigenen Schritten. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, sie fuhr herum, konnte aber nichts erkennen. Die Angst kroch in ihr hoch. Sie beschleunigte ungewollt ihre Schritte, wurde immer schneller, rannte schließlich fast panisch zur nächsten Straßenlaterne. Doch das Gefühl, von fremden Augen durchbohrt zu werden, hörte nicht auf. Wie aus dem Nichts schoss eine Männerhand in den Lichtkegel der Laterne und packte sie an der Schulter. Für einen kurzen Moment sah sie sein Gesicht, bevor er sie in den Schatten der Sträucher zerrte und über sie herfiel. Was dann passierte, nahm sie nur verschwommen wahr, doch dieses, sein Gesicht würde sie niemals vergessen.

5 Jahre später:
„Warum hasst du mich, Mama?“ fragte der kleine Junge mit der Maske.
„Du hast es nicht anders verdient! Du hast sein Gesicht, “ war die Antwort der Mutter, deren Augen vor Wut und Hass glühten. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dieses Wesen nie geboren zu haben. Doch ihr damaliger Freund, welcher sie kurz nach der Geburt verlassen hatte, und die Tatsache, dass es ebenso sein Kind hätte sein können, hatten sie von einer Abtreibung abgehalten. Sie hatte den Jungen nicht immer gehasst, anfangs sogar geliebt. Doch dann hatten sich die Ereignisse überschlagen: Langsam aber deutlich sichtbar hatte das Kind die Gesichtszüge ihres Vergewaltigers angenommen. Erst dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich doch mit der Zeit begann sich ihr Verdacht immer mehr zu erhärten. Für sie war er von da an nicht mehr ihr Kind, sondern nur das Abbild ihres Peinigers, das sie immerzu verfolgte und schließlich in den Wahnsinn trieb. Aus Angst vor diesem Gesicht zwang sie den Jungen eine Maske zu tragen, die es verdeckte. Sogar den Namen, den sie ihm einst gegeben hatte, wollte sie nun nicht mehr benutzen. Daher nannte sich der Junge selbst „mein Kind“, genau das was er für seine Mutter sein wollte. Sein sehnlichster Wunsch war, anders zu sein, so dass seine Mutter ihn lieben könnte.

Er war seit Tagen in seinem Zimmer eingeschlossen; hämmerte, rüttelte, kratzte an der Tür, bis seine Nägel splitterten und tiefe Furchen im Holz zurückließen. Er kreischte, weinte, schrie verzweifelt nach seiner Mutter, doch niemand hörte ihn.
Schließlich, irgendwann, verließen ihn seine Kräfte und er fiel in einen rastlosen Dämmerschlaf. Stunden später wurde er vom Geräusch des Schlüssels in seinem Türschloss geweckt. Er war überglücklich, seine Mutter war wieder da, doch ohne nach ihm zu sehen, ging sie in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür.
Sowie ihre Schritte verklungen waren, nahm er seine Maske, öffnete zaghaft die Türe, spähte hinaus und betrat den dunklen Gang, der in die Küche führte um seinen unerträglichen Hunger zu stillen. Dort sah er einen Teller auf dem Tisch stehen, auf dem ein Stück Brot und eine Käsescheibe lagen. Begierig stürzte er sich auf das Essen, stopfte es sich mit beiden Händen in den Mund und schlang es ohne zu kauen hinunter. Die Maske fiel unbeachtet zu Boden.
Plötzlich stand seine Mutter vor ihm, leichenblass starrten sie einander in die Augen; er hatte sie nicht kommen hören. Wie gelähmt stand sie da, der Anblick seines Gesichts versetzte sie so sehr in Rage, dass sie ohne nachzudenken nach einem Messer griff. Den Jungen packte die Angst, panisch, fast hysterisch stolperte er rücklings aus der Küche. Da spürte er einen schneidenden Schmerz an der rechten Wange, neben ihm fiel das Messer zu Boden und blieb mit blutiger Klinge liegen. Das Kind stürzte voller Angst in sein Zimmer, kauerte sich zitternd in eine Ecke und krallte sich an seiner schmerzenden Wange fest.
Er wartete bis sich die Zimmertüre seiner Mutter abermals geschlossen hatte und schlich sich in die Küche um seine Maske zu holen. Auf dem Rückweg erblickte er das Messer, in dem er, als er sich darüber beugte, den immer noch blutenden Schnitt auf seiner Wange sehen konnte. Langsam begann ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihm aufzukeimen: Vielleicht könnte seine Mutter ihn lieben, wenn er ihr Werk vollenden würde. Immerhin schien es ihr Wunsch zu sein, sein Gesicht mit diesem Messer zu vernichten. Von diesem Gedanken gefesselt hob er das Messer auf und brachte es in sein Zimmer. Dort angekommen strich er sich noch ein letztes Mal über seine Wange, bevor er zum Schnitt ansetzte.

Die Mutter saß gerade im Wohnzimmer und blätterte geistesabwesend in einer Zeitschrift, als sie vom Gang her zaghafte, stolpernde Schritte vernahm. Schon wollte sie aufstehen um die Türe zu schließen, doch da erschien schon der kleine Kopf mit der ausdrucklosen Maske im Türrahmen. Er taumelte langsam auf sie zu, strauchelte, fiel zu Boden und blieb regungslos liegen. Als die Mutter ihn schüttelte, rutschte die Maske von seinem Gesicht. Entsetzt schrie sie auf und ließ das Kind fallen. Sein Gesicht war übersät mit Narben und frischen, blutverkrusteten Schnitten; einige waren entzündet und eitrig. Als sie an ihm hinuntersah, sah sie, dass seine Hand den Griff eines schmutzigen, blutverschmierten Messers umklammerte. Sie erkannte es als jenes Messer wieder, mit dem sie das Kind vor einigen Wochen ohne nachzudenken verletzt hatte. Erschrocken glitt sie zu Boden. Der Junge rappelte sich stöhnend auf und kroch auf sie zu, aber seine Kräfte verließen ihn und sein Kopf sank in ihren Schoß. Mit rauer, zittriger Stimme fragte er: „Bin ich jetzt dein Kind, Mama?“ Sie sah in seine Augen und kämpfte mit den Tränen, als sie erkannte, wie sehr sie den ihren glichen. Leise antwortete sie: „Nein. Das warst du schon immer.“ Da bemerkte sie, dass das Leben bereits aus seinem Körper gewichen war. Ob er ihre letzten Worte gehört hatte, würde sie niemals erfahren.
Ende
 
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Kommentare  

das ist ja schrecklich, ich bin nur am heulen.
danke, stefan, für den tip.
lg
rosmarin


rosmarin (29.12.2005)

Manno! Ist hier so ein Kleinod versteckt und ich finde es durch puren Zufall!
Ich muss mal wieder wie in alten Zeiten in den Archiven von Webstories surfen gehen...

Sehr gut geschrieben. Du hast die Aussichtslosikeit, die die kleine Kinderseele kaputt macht und sie zu ihrem letzten drastischen Schritt treibt, sehr gut eingefangen. Ich musste beinahe weinen.

5 Punkte dafür und den Preis hast du zu Recht gewonnen.


Stefan Steinmetz (29.12.2005)

Anm.: Diese Geschichte hat bei einen Literaturpreis den ersten Preis gewonnen.

commentor (05.06.2004)

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