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2 Seiten

Andreas

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Andreas schaut gerne aus dem Fenster. Unentwegt murmelt er dabei, stemmt sich mit seinen dünnen Ärmchen auf das Fensterbrett und neigt seinen strubbeligen Kopf von links nach rechts und rechts nach links. Immer wieder.
Seine geringe Körpermasse schlafft zum Boden. Seine Haut ist grau und durch keine Zärtlichkeit gedüngt. Zwischen seinem Gemurmel purzeln laute Seufzer über die Lippen.
Er versteht seine Umwelt, er kann sehen, riechen, fühlen und denken. Das Problem ist, dass er sich nur auf eine dieser Fähigkeiten konzentrieren kann. So bleibt er immer nur auf einer Welle und wenn er sieht, so kann er nicht hören und wenn er hört, so kann er nicht denken.
Doch in seiner Monotonie erlebt er alles viel intensiver, weil kein Nebengeräusch, kein Nebengedanke stören kann. Das macht ihn für die Umwelt im Umfeld dumm. Nichts anderes.

Schaut er aus dem Fenster, sieht er, das Flirren der Luft, winzige Ameisenstrassen in der Ferne und er sieht den Birkenknospen beim erblühen zu. Er kann sich gut in so eine Knospe hineindenken oder in ein Flugzeug, dass einen Wolkenstreifen hinter sich malt.
Nur stören darf man ihn nicht. Nichts darf sein Bewusstsein lenken. Nichts einschränken. Wenn dann eine Krankenschwester laut in ihn hineinruft und ihn schüttelt, öffnet er seinen zahnlosen Mund, grummelt ärgerlich und stolpert mit unsicheren Schritten davon. Irgendwohin, wo er in Ruhe weiter beobachten kann. Wo er eins mit den Dingen werden kann.

Manchmal steht er vor der geschlossenen Stationstür und schaut zu, wie all die Schuhe die Treppen hoch und wieder hinunter gehen. Mit seinen Fingern macht er das Dribbeln der Sohlen auf dem Glas nach. Die Nase breitgequetscht an der Scheibe, die Augen auf den Stufen ruhend.

Dass eben, das waren schwere Schuhe. Mit ganz dicken Sohlen. Die machen ihm ein wenig Angst und die, die jetzt hochklappern, die gehören zu einer weichen Stimme. Andreas kennt sie schon. Die machen „Klipp, Klapp, Klipp, Klapp“ und die Stimme ist wie warmer Zuckerguss am Finger.
Wenn viele Schuhe die Treppe bewandern konzentriert er sich darauf, wie der Boden sich wohl fühlt oder das Leder, dass den Fuß festhält. Gleichzeitig speichert er sie ab. Nach Gewicht, Farbe und Bewegung.
An den Schuhen mag er am liebsten die Schnürsenkel. Er kann mitfühlen, wie sie durch die Luft surren, den kalten Treppenstein anstreichen und sich dann wieder nach oben abstoßen. Am liebsten sind ihm die weißen Senkel.
Es klingelt. Ein Schwerthieb entzweit Andreas aus seiner Welt. Die Hand auf seiner Schulter. Ein Peitschenhieb. Er weicht aus. Den Händen und diesen fordernden Augen. Die Glastür öffnet sich, er wird zur Seite gedrängt, ein wagen rollt herein. Das Mittagessen kommt mit seinen überwältigen Gerüchen.

Andreas flieht den langen Gang entlang. Von einem Ende zum anderen Ende. Hin und zurück und zurück und hin. Schwestern und Patienten tauchen als Schemen auf, werden sichtbar als Barrieren, die er umgeht.
Das Linoleum atmet seine Schritte, zieht die Sohlen seiner Schlappen magnetisch an und spuckt dann wieder aus. Die Gemälde an den Wänden sausen wie Farbtupfen an ihm vorbei. Er bemerkt sie nicht. All seine Aufmerksamkeit ist auf seine Füße gerichtet.
Er zählt seine Schritte. 351. Hier kann er nach rechts. Den Türdrücker streicheln und zwei Meter weiter ist das Fenster nach draußen. Zu den Birken und den Ameisenstrassen.
Gerade öffnet er sich und wird eins mit der Außenwelt, da ein erneuter Peitschenschlag.
Andreas weiß, was jetzt kommt. Er hat die Stunde ständig abgezählt.
Einen Stich in seinen Po und dann fassen vier kräftige Hände den dünnen Leib. Heute ist die Stunde zu Ende. Das war die Beruhigungsspritze und er wird schlafen bis zur nächsten freien Auslaufstunde in der Psychiatrie.
 
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Kommentare  

wow, gefällt mir sehr gut... ich mache mir auch oft gedanken, was die menschen die in einer psychatrie sind denken, ich glaub es wird viel zu sehr unterschätzt....

banshee (02.05.2004)

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