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5 Seiten

Am Schwarzen Berg

Trauriges · Kurzgeschichten
*




AM SCHWARZEN BERG

Foto von Sven Hartkorn
*


Karin sagt zu Tim, dass sie aus der Stadt hinausfahren wolle. Müsse. Einmal wieder so richtig Luft schöpfen, frei atmen. Da draußen. Laufen, laufen ... trotz Schneematsch und eisigem Wind. Weil sie sonst in der Wohnung langsam und sicher ..., sie müsse endlich wieder Weite spüren.
Der Junge nickt: „Wir können gleich losfahren.“
Er hatte es ihr schon oft angeboten.

Mit seiner klapprigen Karre kommen sie zum Stadtrand.
„Und jetzt biegen wir ab!“ sagt Karin und zeigt in Richtung Westen.

Der ‚Schwarze Berg‘ – waldbewachsen - ist die höchste Erhebung im Umkreis. Ganz oben der kastenförmige Turm aus hellem Beton leuchtet von weit her über der Stadt. Ein Wahrzeichen.

„Was willst du dort, mitten in der schneedurchwehten Pampa? Da ist doch nichts! Wir sollten ... ich kenne ein tolles Lokal hier in der Nähe, wir könnten etwas essen, einen heißen Kaffee trinken.“
„NEIN!“
„Los, dann auf zu deinem komischen Hügel."

Januar. Düster verhangener Tag. Klirrende Kälte. Das Land ist unter Eis und Schnee begraben. Am Winterhorizont ragt der Schwarze Berg mit seinem Turm.
Dass da keine normale Straße hinauf führt! Irgendwann holpern sie über zugeschneite Stege, weglose, weiße Flächen, Waldschneisen. Aber sie kommen vorwärts.
Tim, der Scout! Sagt: "Lass mich nur machen!"

Ab und zu verliert ein Reifen den Halt auf rutschglatter Strecke und sie geraten bös ins Schlingern. Böschungen sind unter der reinen, frischen Schneedecke halb verborgen ... Absturzgefahr?
„Pass auf“, jammert Karin. Der Junge lacht: "Mit dem Volvo schaff ich jedes Gelände."
Sie nickt.
Er habe ihn second hand gekauft. Für zwei Hunderter, sagt Tim stolz.

Die Straße ist unter Schneeverwehungen eher nicht auszumachen. Kann sein, dass der kühne Autolenker auf dem Holzweg ist und sich dem Ziel von der falschen Seite her nähert, dort, wo es womöglich bald überhaupt kein Durchkommen mehr gibt. Karin will unbedingt hinauf zu diesem Turm. Obwohl die Weglosigkeit des verschneiten, verharschten Terrains und das stetige Schlingern der Karosserie jetzt zusetzt. Irgend etwas am Fahrwerk scheppert metallisch.

Wir hätten doch woanders hinfahren sollen, denkt Karin ... obwohl ... auf Bergen kann man besser atmen als unten in der versmogten Stadt. Und es gibt noch einen Grund, da hinauf zu wollen ...

Irgendwie langen sie nach fünfundvierzig Minuten tatsächlich auf dem Gipfel an. Es friert Stein und Bein. Ein brutaler Wind drängt sich schneidend durch die dicken Pullover.

Am grauen Himmel hängen die Wolken tief. Schneegeruch ist in der Luft. Sie stemmen sich gegen den Sturm. Laufen eine Weile durch den Winternachmittag. Außer ihnen ist hier kein Mensch unterwegs.

Dann steigen sie in den Turm. Der ist ein heller, massiger, rechteckiger Klotz und ähnelt einem dieser alten Hochbunker aus Beton. Zweiter Weltkrieg.
RAF-Kampf-Parolen hat man an die verwitterten, beigen Außenmauern und innen an die Wände gesprüht und bunte, psychodelische Blumenmuster ... Symbole einer Zeit, die seit fünfundzwanzig Jahren vorbei ist. Aber ihre Zeichen und Runen sind immer noch da. Das dichte, wirre, wandfüllende Bilder- und Parolengekritzel bricht jedoch abrupt genau dort ab, wo ein Mann mit gerecktem Arm auf einer Leiter stehend, nicht mehr hinreichen kann.

Von der steinernen Wendeltreppe aus, die, nur mit Geländer gesichert, durch die Mitte des kahlen Turms bis nach oben führt, kann man die Wände nicht mehr erreichen. Deshalb gibt es dort keine Grafitti. Schmutzig-weiß blecken Tim und Karin jetzt die nackten Betonwände entgegen, während sie Meter für Meter im Inneren emporsteigen. Der Turm ist hoch.

Schwer atmend stehen sie dann draußen auf der oberen Plattform. Sturm braust, heult ihnen um die Ohren. Karin sieht steil hinunter auf das kahle Areal der winterlichen Wälder. Das dehnt sich bis in graue Fernen. Klein sehen von hier oben die Baumriesen aus, mit ihren Skelettästen. Frostklirrend starr ist die Welt, so weit das Auge reicht. Es schneit wieder. In großen, wirbelnden Flocken.

Im JULI sprang Alexander Seidel von dieser Plattform. Trotz der schulterhohen, schwer übersteigbaren Brüstung, die angebracht ist, um so etwas zu verhindern. Denn todbereite Menschen, wenn sie sich entschlossen haben, ihr Leben mit einem Sprung zu beenden, stürzen sich stets von den höchsten Brücken und Türmen, das wissen Fachleute und versuchen, dem entgegen zu wirken.

Mitten hinein ins Hochsommergrün der tausend Baumkronen sprang Alexander. War er so sehr eins mit der Natur, dass er darin aufgehen musste?
Er breitete die Arme aus und flog da hinunter, ins Herz der strotzenden Vegetation, denkt Karin. Als wollte er ein Teil sein davon.

Niemand war dabei, als er sprang. Tage später fanden sie ihn. Karin weiß nicht einmal, ob er auf der Erde lag oder im Baumgeäst verfangen hing wie der abgestürzte amerikanische Bomberpilot, den sie als Kind gegen Ende des Krieges gesehen hatte ...

"Alexander Seidel war krank", sagten die Leute. Nicht dass er ein körperliches Leiden gehabt hätte. Das war es nicht, was sie meinten. Und er war dreiundzwanzig Jahre alt.

Wenn er zu Karin gekommen war, hatte er Kassetten von Bob Dylan mitgebracht. Die hörten sie dann ... stundenlang. Denn er wollte den Wortsinn bis ins Kleinste erfassen. Sie sprachen beide Englisch. Sie besser als er. Aber die Texte klangen undeutlich. Und waren schwer zu übersetzen. Sie mussten oft einen einzigen Song zehn-, fünfzehnmal abspielen, mussten die Silben wie Puzzles zusammenfügen, bis sie den Sinn ganz verstanden hatten.


Bob Dylan. Alexander liebte die Musik und Poesie des amerikanischen Sängers und melancholischen Liedermachers über alles. Karin hingegen kannte ein halbes Dutzend Interpreten, die sie lieber hörte. Aber das sagte sie Alex nicht. Sie ließ ihn in dem Glauben, dass Bob auch für sie der Größte sei.

Karin hatte den Jungen gern. Nicht wie eine Frau einen Mann gern hat. Sein flaumig-weiches, blondes Haar fand sie schön. Es reichte ihm in engelhaften Locken bis auf die Schultern.
„SEIDELHAAR“, nannte sie es.
Er mochte es, wenn sie das sagte. Er lachte.

Alex machte nicht den Eindruck eines todunglücklichen Menschen. Wo er hinkam, mochte man ihn. Er genoss die Sommertage, die Wanderungen mit Freunden, das Schwimmen im Freibad, das bunte, abendliche Kneipengetümmel um den alten Markt. Karin wusste es, weil sie ihn - auch selbst in Gesellschaft – hier und dort antraf. Was seine Person betraf, da gab es zwei Dinge, die bedeuteten ihm sehr viel und er führte sie stolz und auf naive Art vor: sein blondes Haar und gut sitzende, hautenge Blue-Jeans.
Und immer hatte er irgend ein Buch bei sich, an dem er gerade las: Faust, von Hesse den Steppenwolf und Siddharta, auch Kerouac, Castaneda.
Er dachte oft und mit großem Ernst - gepaart mit viel Sehnsucht und Mystik - über das Leben nach.
In letzter Zeit trug er immer Tarot-Karten mit sich herum und machte eine Menge damit her: Karte des Teufels. Karte des Todes ...
Manches über die Kunst und Magie des Kartenlegens erklärte er Karin. Damals begriff sie es. Später merkte sie: sie hatte wieder alles vergessen.

Alex war früher mit einer jungen Frau zusammen gewesen, Marie, die ihn aber irgendwann verlassen hatte. Das war noch vor Karins Bekanntschaft mit ihm gewesen. Seither war er oft zu Karin gekommen. Er brachte ihr rote Rosen. Das war ihr irgendwie peinlich. Sie hätte leicht seine Mutter sein können.
Sie sagte ihm: „Ich habe einen Freund.“
Ja, sie hatte einen.
Dass sie sich dennoch in der Seele allein fühlte, behielt sie für sich.
Der Junge verlor kein Wort über den Freund.

Alexander war nicht in Karin verliebt. Nicht wie ein Mann in eine Frau verliebt ist. Sie hielt sich für erfahren genug, das zu wissen. Zu spüren. Oder dachte sie, es könne einfach nicht sein, was sie nicht wahrhaben wollte?
Vielleicht hatte er nur darauf gewartet, dass sie den ersten Schritt mache und ihn erlöse? Die roten Rosen!

Eines Tages, als er bei ihr Tee trank, kam unverhofft Karins Freund ... er ... im gesetzten Mannesalter von vierundvierzig Jahren mit seinem Macho-Gehabe und ... mir-gehört-die-Welt-Grinsen, mit breiten Schultern und all dem ...
Lässig nahm er Karin in die Arme, küsste sie.
Alexander wurde blass und verabschiedete sich schnell unter einem Vorwand.
Karin sah ihn nicht wieder.

Er hat in mir menschlichen Halt gesucht und fand ihn nicht‘, denkt sie traurig, ‚eigentlich sind wir uns fremd geblieben.

Wer sich so leicht dem Tod anheimgibt, für den bedeutet das Leben nichts .... hat schon lang nichts mehr bedeutet ... redet sie sich ein ... nur ein Traum von vielen, den festzuhalten es nicht lohnt. Vielleicht hat er gehofft, dass auf ihn neue, bessere Träume warteten, jenseits von diesem. Es hat auch etwas Freies, Beschwingtes, denkt Karin, wenn jemand einfach so springt.

Der Turm auf dem Schwarzen Berg ist, wenn man oben steht, grauenvoll hoch, vor allem für einen, der sich zum letzten Flug entschlossen hat. Furcht kann Alexander Seidel nicht gekannt haben, als er wie ein Adler abhob an jenem heißen Tag im Juli.

„Weißt du, dass man den Turm hier Selbstmörderrampe nennt“, murmelt Tim, „ich hab mal in der Zeitung gelesen, wie viele Leute hier in den letzten zwanzig Jahren gesprungen sind ... fünf Männer und drei Frauen!“
„Komm, wir gehen jetzt doch in der Stadt einen Kaffee trinken“, sagt Karin, als sie vom Turm herabsteigen.

Es schneit wieder wie verrückt und der Automotor springt auch nicht an ...


*


Copyright Irmgard Schöndorf Welch, August 2002
 
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Kommentare  

Gefällt mir auch. Romantisch und nachdenklich. Einfach schön geschrieben.

Petra (18.01.2010)

Wirklich eine tolle melancholische Story. Fängt erst ganz harmlos an, aber dann...!

Jochen (18.01.2010)

Einfach toll. Eine nachdenklich machende, wunderschöne Geschichte voller Gefühle und Sehnsucht.

doska (10.01.2010)

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