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6 Seiten

Träumer

Kurzgeschichten · Romantisches
© Fuchsal
„Kennst du den Geruch einer blühenden Wiese im Sommer?“ Hatte er damals im Frühling gefragt, jener Frühling, der so warm und voller Leben war. Ich hatte nicht sofort geantwortet, natürlich wusste ich, wie eine Wiese im Sommer roch, aber ich wusste nicht, wie seine Wiese im Sommer roch. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er alles anders sah, roch, schmeckte, hörte und fühlte, als andere Menschen. Vielleicht roch er auch genau das gleiche wie ich, aber er hatte diese Fähigkeit. Diese Fähigkeit, jede noch so unwichtige Kleinigkeit so zu beschreiben, als wäre sie etwas ganz großes und so wunderbares, dass die ganze Menschheit davon erfahren müsste. Ich war so fasziniert von ihm, von seinen Worten, ich liebte ihn einfach.
An jenem Tag saßen wir auf einem Spielplatz und schaukelten. Meine Schaukel schwang vor und zurück, vor und zurück, viel langsamer als seine und ich sagte: „Wie riecht die Wiese denn?“ Und er erklärte es, bunt und lebendig und plötzlich schaukelten wir nicht mehr. Wir lagen auf dieser blühenden Wiese im Sommer, es war warm und wir fühlten die Sonne auf unsere Gesichter scheinen. Ich schloss die Augen und atmete tief ein, es roch süß und saftig und alles lebte. Das Gras war warm und weich, wie ein Bett. Ich öffnete wieder die Augen und sah ihn neben mir im Gras liegen. Sein Gesicht war entspannt und er sah mich an. Hätte ich gewollt, dann hätte ich das Glück einfach nur greifen müssen, so nah war es. Ich rieche die Wiese heute noch. Es ist ganz einfach, man braucht bloß die Augen zu schließen und schon liegt man dort.
„Ich muss jetzt nach Hause, bin schon viel zu spät“, sagte er plötzlich und ich schaukelte wieder vor und zurück.
„Schon? Es ist doch erst halb acht.“
„Ja, du weißt doch, dass ich nicht so lang darf.“ Es war ihm sichtlich peinlich und er sprang von der Schaukel, um meinem fragendem Blick zu entgehen.
„Bis morgen“, sagte ich schließlich und warf ihm noch einen mitleidigen Blick zu.
„Wir sehen uns.“ Er rannte über den Spielplatz und verschwand schließlich hinter einer Hecke.
Ich hasste es, dass seine Eltern so streng waren. Er durfte nie lang draußen bleiben und pünktlich um halb eins musste er nachmittags zu Hause sein, wenn es Mittagessen gab. Abends durfte er nur bis sieben. Auch im Sommer, wenn es länger hell war, musste er um sieben zu Hause sein.
Manchmal hatte er blaue Flecken und kam Tagelang nicht zur Schule. Ich wusste, dass sein Stiefvater ihn schlug, aber ich sprach ihn nie darauf an. Ich konnte es einfach nicht und ich wusste, ja ich wusste, dass er deshalb ein Träumer war. Wenn er träumte entkam er dieser Welt, die ihm so kalt erschien, die nichts für ihn übrig hatte, sich einen Dreck darum scherte, wenn er mit gebrochenem Arm und blutender Nase in einer Zimmerecke hockte, heulte wie ein Schlosshund und sich in die Hosen pinkelte. Der Welt war das egal und er entträumte sich ihr nur allzu gern. Nur für mich kehrte er zurück, holte mich ab und wir flohen in seine Welt, die so viel schöner war, als alles, was uns der Alltag bieten konnte.
Ich saß noch eine halbe Stunde lang auf der Schaukel, dachte über ihn und mich nach und wusste, dass wir eigentlich nur uns und unsere Träume hatten. Welchen Grund ich zu träumen hatte? Nun, viele und doch keinen, aber der wichtigste war wohl, dass ich ihn einfach nur liebte und bei ihm sein wollte. Ich fragte mich oft, warum es einem so wunderbaren Menschen so oft so schlecht ging und dass ich nichts dagegen tun konnte. Ich war erst zwölf Jahre alt, wie hätte ich ihm helfen können? Ich hasste es Kind zu sein, hasste es allem schutzlos ausgeliefert zu sein, hasste es, dass ich so nutzlos war. Plötzlich erkannte ich eine Gestalt im fahlen Licht der Laternen. Andy war es und er blutete aus der Nase. Ich sprang auf.
„Was... wieso bist du wieder hier?“
„Sie haben mich vor die Tür gesetzt.“
„Was? Wieso das denn?“ Ich konnte es nicht fassen und sah ihn aus großen Augen an.
„Ich bin zu spät gekommen, da haben sie gesagt, wenn ich so gern draußen bin, dann kann ich gleich draußen schlafen. Na egal, manchmal muss man eben einstecken.“ Er wischte sich mit dem Handrücken vorsichtig das Blut von den Lippen.
„Du steckst immer ein, das wird niemals besser, wenn du dich nicht wehrst“, sagte ich entrüstet.
„Das geht vorbei, irgendwann geht es vorbei.“
Ich verstand nicht, was er damit meinte.
„Weißt du, die haben auch Probleme“, sagte er mit auf den Boden gerichtetem Blick.
„Das ist kein Grund... dich... dich so zu behandeln!“, rief ich.
„Du verstehst das nicht“, sagte er „dir geht es doch gut zu Hause, jemand wie du... jemand wie du kann das nicht verstehen. Sie sind nicht nur schlecht, verstehst du?“ Das war gemein und er wusste es, vielleicht verschwand er deshalb so schnell, wie er gekommen war. Er drehte sich nicht noch einmal um, sondern ging einfach. Ich sagte nichts, es hätte wohl nicht viel gebracht, ihn jetzt noch zu rufen oder ihm gar hinterherzulaufen. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach und erst heute, nach vier Jahren, kann ich wirklich verstehen, was er eigentlich hatte sagen wollen. Es gab kein gut oder böse, kein schwarz oder weiß, die Grenzen waren fließend und ihre Farben waren stets grau. Auch seine Eltern waren nicht immer nur das personifizierte Böse, für das ich sie früher immer gehalten hatte. Aber wen interessierte das, Angesichts dessen, was sie seiner Seele antaten?

Das Leben hatte ihm zweifellos übel mitgespielt, aber als er dann in dieser Nacht auch noch einen schweren Autounfall hatte, empfand ich dies zunächst als Gipfel der Ungerechtigkeit. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass ich an seiner Stelle vor das Auto gelaufen wäre und es mich erfasst hätte. Nein, er starb nicht, sondern er fiel ins Koma. Am Anfang war ich froh, dass er nicht gestorben war, aber jetzt, nach vier Jahren, denke ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre.
Oft dachte ich darüber nach, dass er tief in seinem Innern wahrscheinlich gar nicht wieder aufwachen wollte. Dort wo er jetzt war, ging es ihm vielleicht besser. Fernab von all den Schmerzen, die hier auf ihn warteten. War es dann egoistisch zu wollen, dass die Ärzte ihn nicht aufgaben und alles taten um ihn am Leben zu erhalten? Immer öfter fragte ich mich dies. War es leichter mit der Hoffnung zu leben, als mit der Gewissheit, dass er tot war?
Jeden Tag, seit vier Jahren, fuhr ich in dieses Krankenhaus, setzte mich für einige Stunden an sein Bett und redete mit ihm, aber er wachte nicht auf. Vor zwei Wochen war sein sechzehnter Geburtstag, er war so groß geworden, hatte sich immens verändert, für mich jedoch, war er immer noch der zwölfjährige Andy. Ich wusste, dass ich ihn immer noch liebte. Es würde wohl niemals vorbeigehen, dachte ich und das einzige was mir von ihm blieb, waren ein paar Stunden, nichts weiter als Erinnerungen und ich fragte mich, ob sie für ein Leben ausreichten. So viel mehr Zeit hätte ich mir mit ihm gewünscht, so viel mehr Lachen und Fröhlichkeit.
Seine wunderbaren Träume fehlten mir oft, besonders dann, wenn ich nachts im Bett lag. Nachts fehlte er mir am meisten. Wenn es dunkel war, kamen all die guten und bösen Gedanken wieder und hinderten mich am schlafen.
Wenn ich ihn ansah, erkannte ich noch etwas von dem schönen Lächeln, dass mein Herz stets zum rasen brachte. Morgen im Krankenhaus würde ich ihm etwas vorlesen, vielleicht ein Gedicht. Gedichte waren schön, wie Träume.
An diesem Abend musste ich viel an ihn denken, es war schon komisch, manchmal schien er mir viel näher, als an anderen Tagen. Als das Telefon klingelte, nahm ich gedankenverloren den Hörer ab. Eine Krankenschwester war am Apparat.
„Spreche ich mit Josephine Häuser?“
„Ja, wieso?“
„Es geht um Andreas Fiedler. Er ist soeben aus dem Koma erwacht und er hat sofort nach ihnen gefragt. Sie sind als seine Vertrauensperson angegeben.“ Ich ließ den Hörer fallen, mein Puls schnellte ins Unermessliche und ich fing an zu zittern. Die Frau erlaubte sich einen dummen Scherz, so glaubte ich. Im gleichen Moment noch wurde mir übel und ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Innerstes einen Ausflug nach draußen erlauben wollen.
„Hallo?“, hörte ich sie aus weiter Ferne sagen. Ich setzte mich hin und nahm den Hörer wieder in die Hand.
„Kann ich vorbeikommen?“, krächzte ich, darauf bedacht, dass mir der Hörer kein zweites mal aus den Händen glitt.
„Natürlich.“
Endlich, endlich konnte ich wieder mit ihm sprechen. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich bebte vor Glück und versuchte das Gefühl der Angst zu unterdrücken. Wie wird es ihm gehen? Was fühlt er? Was sage ich zu ihm?
Unendlich zäh zog sich die Fahrt zum Krankenhaus hin. Glücklicherweise hatte sich mein Vater sofort bereit erklärt mich hinzufahren. Doch obwohl mein Vater seinen alten Wagen bis an die grenzen der Belastbarkeit triezte, ging es mir nicht schnell genug. Noch war es nicht wahr, noch hatte ich Andy nicht mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommen. Es waren die längsten fünfzehn Minuten meines jungen Lebens und ich heizte schließlich mit einem Tempo die so vertrauten Flure und Treppen hinauf, das selbst einem durchtrainierten Sportler alle Ehre gemacht hätten.
Vorsichtig öffnete ich seine Zimmertür. Er lag auf dem Bett und blickte mir direkt in die Augen. Sofort fing ich an zu weinen.
„Hey, du sollst dich freuen und nicht weinen“, witzelte er. Ich lachte und weinte gleichzeitig.
„Du hast mir so gefehlt“, platzte es aus mir heraus und ich fiel ihm um den Hals. Er war noch schwach, aber er schaffte es, mich ebenfalls zu umarmen.
Einige Minuten saßen wir nur da und umarmten uns, aber es musste auch gar nichts gesagt werden, denn wir beide wussten, wie viel dieser Moment bedeutete.
Ich hatte Angst, ihn zu sehr zu beanspruchen und ließ ihn schließlich los. Er sank in das Kissen zurück und schaute zum Fenster in die dunkle Nacht hinaus.
„Es tut mir so leid“, sagte er matt.
Ich verstand nicht, er war doch der letzte Mensch, der sich für irgendetwas entschuldigen musste!
„Was tut dir leid?“
„Du dachtest ich würde nie wieder aufwachen oder?“ Er drehte den Kopf zu mir und behaftete mich mit diesem nur allzu bekannten melancholischen Blick.
„Manchmal.“ Ich nahm seine Hand und besah sie wie ein antikes Fundstück.
„Es wäre zu vieles ungesagt geblieben.“ Andy drückte meine Hand, dass es schon fast schmerzte. Ich sah ihn liebevoll, fast zärtlich an. „Zum Beispiel, dass du immer der wichtigste Mensch in meinem Leben sein wirst“, sagte er und lächelte.
Natürlich sagte er nicht die Worte, auf die ich schon so lange wartete. Es kam kein „Ich liebe dich“ von ihm und ich schämte mich dafür, dass ich es erwartet hatte.
„Ich brauche erst mal einen Kaffee“, sagte ich plötzlich zu meiner eigenen Verwunderung und sprang auf.
Vor seiner Zimmertür sank ich wie ein nasser Sack zusammen. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und weinte leise Tränen. Warum war ich nur so egoistisch? Nach vier langen Jahren wachte er auf und ich hatte nichts besseres zu tun, als an mich zu denken! Seine verlorene Zeit konnte ihm niemand wiedergeben. Er liebte mich doch, nur auf eine andere Art. War das nicht genug?
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich viel, sehr viel Zeit mit ihm verbracht hatte und es auch weiterhin tun konnte. Kraftlos stand ich auf und ging zum Kaffeeautomaten in der Eingangshalle des Krankenhauses. Mein Vater hatte sich auf den Besucherbänken niedergelassen und beobachtete mich besorgt. Gierig trank ich ein Schluck nach dem anderen und fühlte mich gleich viel besser, obwohl ich den bitteren Geschmack eigentlich hasste, aber er war es auch, der meine Gedanken klarer werden ließ und ich machte mich wieder auf den Weg nach oben.
Wieder in seinem Zimmer angekommen setzte ich mich zu ihm ans Bett und tätschelte fast hingebungsvoll seinen Arm.
„Weißt du, du hast recht, es wäre wirklich zu viel ungesagt geblieben“, sagte ich sanft.
„Ja“, er lächelte matt und drückte meine Hand, dann fügte er hinzu: „zum Beispiel, dass du sehr hübsch aussiehst, aber das warst du ja schon immer.“
Unweigerlich traten dicke Tränen aus meinen Augen. Warum sagte er so etwas zu mir? Eigentlich hatte ich diese Worte gar nicht verdient, das wusste ich und doch... und doch hörte ich sie gern, süß wie Honig waren sie und nur zu gern hätte ich meine Gefühle vor ihm ausgebreitet, aber ich musste ihn schonen.
„Nicht doch...“ Er machte Anstalten zu mir zu rutschen und wischte die Tränen von meinen Wangen. Ich seufzte hörbar und sah ihn mit einem gequälten Lächeln an.
„Weißt du noch, wie eine blühende Wiese im Sommer riecht?“, fragte er mich jäh und ich zog die Augenbrauen zusammen. Was hatte eine Wiese denn damit zu tun?
„Wie riecht die Wiese denn?“ Ich beschloss auf sein Spiel einzugehen und schloss die Augen.
Er erzählte es, erzählte es, wie vor vier Jahren im Frühling und wir lagen wieder auf dieser Wiese. An diesem Ort, wo die Zeit stillstand und alles so voller Leben war. Ich sah sein wunderschönes Gesicht im Gras liegen und sank zurück auf das weiche Bett der Natur. Das Gras hatte den wunderbarsten Geruch, den es auf der Erde zu finden gab. Wie lange hatte ich mich danach gesehnt, einmal, nur ein einziges mal noch in seine Träume eintauchen zu dürfen, weich, zart wie Watte fühlte es sich an und ein Schauer überkam mich und endlich begriff ich das, was mir all die Zeit verborgen geblieben war. Er sagte nicht „Ich liebe dich“, diese Worte wären viel zu einfach für das gewesen, was er fühlte. Er sagte es mit seinen Worten, mit seinen Bildern, seiner Welt, an der er mich teilhaben ließ. So oft hatte er es mir auf seine Art gesagt, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte. „Ich liebe dich“ waren nicht nur drei kleine Worte, es lag eine ganze Welt dahinter.

~ENDE~

Für Yvonne, die stets zu träumen wagte...

by Fuchsal
 
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Kommentare  

Oh, das ist purer Zufall... wirklich! War ein spontaner Einfall... XD

anonym (18.10.2008)

Hö, wie kommst darauf die Hauptperson nach mir zu benennen? *lach* mein name ist geschützt *grinz* Ne, mal im Ernst: Wie bist du auf "Josephine Häuser" gekommen? Ist das nurn Zufall, dass ich genau so heiße???

anonym (12.10.2008)

Kann mich den Vorrednern eigentlich nicht anschließen. Hat mir leider nicht so gut gefallen.

Alex (22.11.2006)

Der Anfang gefiel mir extrem gut, danach flachte es etwas ab.

Punkt und Komma (12.07.2006)

Alles in allem eine süße Geschichte :D
Ich mag deinen Schreibstil..


SacredHeart (16.01.2005)

Nett, irgendwie süß

FriendlyGhost (07.01.2005)

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