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4 Seiten

Alles wird gut

Trauriges · Kurzgeschichten
© Fuchsal
Es ist der 25.11.2002, draußen schneit es ein wenig. Es ist das erste mal in diesem Winter, aber der Schnee wird nicht liegen bleiben. Sie starrt aus dem Fenster in den grauen Himmel, während sie die Packung mit den Tabletten in der Hand hin und her dreht. Gleich wird sie einige von ihnen nehmen, genug, damit sie nicht wieder aufwachen muss. Schlafmittel sind eine gute Art abzutreten, denkt sie. Ihre Hand fängt an zu zittern. Sie stellt die Tablettenpackung auf die Fensterbank. Sie weiß, dass sie nicht zögern wird sie zu nehmen. Der Fehler, den sie begangen hat, ist nicht wieder gut zu machen. Mord verjährt nicht, das weiß sie. Vor drei Wochen war ihre Welt noch in Ordnung. Da war sie noch keine Mörderin.
03.11.2002: Die Luft im Wartezimmer ist abgestanden und sie fühlt sich nicht wohl. Eine Schwangere sitzt ihr gegenüber und blättert in einer Zeitschrift. Sie kann sich nicht vorstellen auch so auszusehen. Sie ist keine Mutter. Wahllos greift sie nach einer Illustrierten, um sich abzulenken. Auf dem Titelblatt steht in großen Lettern „Eltern“. Ihre Hand zittert und sie legt die Zeitschrift weg. Nach zehn Minuten wird sie aufgerufen. Zwanzig Minuten später steht sie vor der Praxis. Ihre Augen sind wässrig. Schwanger, ausgerechnet sie. Ende zweiter Monat, ungefähr 8. Woche. Das Ultraschallbild in ihrer Hand wird nass. Es regnet. Ihr Herz beginnt zu rasen und sie steigt in ihr Auto. Unkonzentriert schafft sie den Weg zu ihrer Wohnung. Beinahe hätte sie einen Unfall gebaut.
Er ist nicht zu Hause. Es ist gut so, denkt sie. Sie weiß nicht, was er dazu sagen wird. Er will kein Kind, er studiert. Sie studiert auch, will sie ein Kind? Sie kramt das Ultraschallbild hervor. Ja, sie könnte es auch mit Kind schaffen. Ein Lächeln gleitet über ihr Gesicht. Vielleicht ist sie ja doch eine Mutter.
Am Abend sitzt sie mit ihm am Essenstisch. Sie schweigen. Sie hat es gerade ausgesprochen und wartet auf eine Antwort. Er isst weiter. Als er fertig ist, sagt er, dass sie kein Platz für ein Kind haben. Ihr Herz pocht heftig gegen ihre Brust. Er fragt sie, wie das passieren konnte. Sie weiß es nicht. Er fragt sie, ob sie das Kind behalten will. Sie weiß es nicht. Er fragt sie, warum sie nicht aufpassen konnte. Sie weiß es nicht. Seine Augen sind stechend und fordernd. Er will hören, dass sie es nicht haben will. Aber sie sagt es nicht. Er steht auf und sagt, dass er das Kind nicht will. Sie hat jetzt Angst vor ihm und zögert. Er drängt sie zu einer Antwort und sie sagt, dass es doch ihr gemeinsames Baby sei. Sein Kopf wird rot und er gibt ihr eine Ohrfeige. Das hat er noch nie getan und sie weint. Er schreit sie an, aber sie versteht seine Worte nicht. Als er fertig ist, verlässt er die Wohnung. Er wird erst spät in der Nacht wiederkommen und sein Alkoholgeruch wird auch morgen noch da sein. Sie weint. Sie versteht nicht, warum er sie geschlagen hat. Er war immer gut zu ihr und er hat sie niemals angeschrieen. Sie liebt ihn. Er hat bestimmt nur Angst, dass sie sich mit dem Kind ihr Leben zerstört. Er will nur ihr Bestes. Das hat er immer gewollt.
04.11.2002: Sie hat mit ihrer Mutter telefoniert. Auch sie ist der Ansicht, dass sie das Kind nicht behalten soll. Sie ist doch erst 22 und studiert noch und für ein Kind ist später auch noch Zeit, sagt sie. Sie glaubt ihrer Mutter. Ihre Mutter hat doch immer recht. Wahrscheinlich hat auch er recht.
06.11.2002: Sie hat sich noch nicht entschieden. Er redet seit jenem Abend nicht mehr mit ihr. Sie muss jetzt oft weinen. Sie redet sich ein, dass er ihr nur helfen will. Er liebt sie doch. Heute wird sie ihm sagen, dass sie es wegmachen lässt. Dann wird alles wieder gut.
Er ist froh, als sie die Worte ausspricht. Er küsst und umarmt sie und sagt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Sie schlafen miteinander, aber dieses Mal ist es nicht schön. Sie kann sich nicht konzentrieren und lässt ihn machen. Als er fertig ist, legt er sich neben sie und schläft ein. Sie weint, aber er merkt es nicht. Er soll es auch nicht merken. Alles wird wieder gut, wenn es weg ist.
12.11.2002: Heute hat sie den Termin. Um zehn Uhr morgens wird alles wieder gut. Das Beratungsgespräch hat sie bereits hinter sich gebracht. Die freundliche Frau hat viel geredet und sie hat immer nur genickt. Sie hat nicht zugehört. Warum auch? Die Frau hat keine Ahnung von ihren Problemen. Sie weiß nicht, dass er sie geschlagen hat und sie soll es auch nicht wissen. Sie ist froh als das Gespräch zu Ende ist. Alles wird wieder gut.
Das Krankenhaus kommt ihr kalt vor. Sie zittert ein wenig und ihr Herz klopft wild. Das tut es in letzter Zeit oft. Aber sie glaubt fest daran, dass es richtig ist.
Während des Eingriffs denkt sie an ihn. Er sitzt jetzt bei einer Vorlesung. Er denkt bestimmt nicht an sie und auch nicht an das Kind. Er liebt das Kind nicht. Sie verkneift sich ihre Tränen, niemand darf sehen, dass sie weinen will.
Schon bald danach, kann sie wieder nach Hause gehen. Sie fühlt sich leer und ausgelaugt. Jetzt ist es endlich weg. Sie verlässt das Krankenhaus und fährt nach Hause. Sie legt sich ins Bett und weint. Endlich kann sie weinen. Sie denkt, dass es besser wird durchs weinen, aber das stimmt nicht. Nach einer Stunde sind ihre Augen rot und sie fühlt sich noch ausgelaugter und noch müder. Irgendwann schläft sie ein. Als er nach Hause kommt wacht sie kurz auf, aber sie tut so, als würde sie schlafen. Sie will ihn nicht sehen. Er hat das Kind nicht geliebt.
13.11.2002: Sie reden nur wenig miteinander, aber er ist glücklich. Er schenkt ihr Blumen und Süßigkeiten. Von dem Geruch der Rosen wird ihr schlecht. Sie isst die Schokolade, obwohl sie keinen Hunger hat und lacht. Er will dass sie lacht, also lacht sie. Er erzählt ihr, dass er einen Urlaub geplant hat. Er will nach Ägypten, für zwei Wochen. Ab dem 25.11. würde es gehen, sagt er. Sie nickt. Sie sagt, dass sie sich freut. Er umarmt sie. Alles ist wieder gut, denkt sie.
21.11.2002: Nichts ist wieder gut. Sie muss jetzt jeden Tag weinen. Seit ein paar Tagen war sie nicht mehr bei den Vorlesungen. Wenn er nicht da ist, liegt sie im Bett und wartet. Sie wartet auf das Ende des Tages. Oft muss sie jetzt auch Schlafmittel nehmen. Sie schläft schlecht und träumt von dem Kind. Er bemerkt es nicht. Sie ist eine gute Schauspielerin. Am 26.11. fliegen sie nach Ägypten, hat er gesagt. Er hat schon gebucht und redet fast jeden Tag davon. Es ist fast das Einzige worüber sie sich unterhalten.
Am Abend will er mit ihr schlafen und sie lässt es über sich ergehen. Sie hat keine Gefühle dabei und wartet, bis es vorbei ist. Er bemerkt nicht, dass sie keinen Spaß hat. Er benutzt kein Kondom und er weiß, dass sie die Pille nicht nimmt. Sie fragt sich, ob es ihm egal ist. Er wird wieder wollen, dass sie es wegmachen lässt. Das kann sie nicht zulassen.
25.11.2002: Sie hat ihren Entschluss gefasst. Sie kann morgen nicht nach Ägypten fliegen. Er wird sauer sein, das weiß sie. Vielleicht wird er sie wieder schlagen. Das wäre aber nicht schlimm, besser als nach Ägypten zu fliegen, mit ihm, denkt sie. Gestern Abend, als sie wieder eine Schlaftablette nehmen musste, wurde ihr klar, dass sie es nie schaffen würde, es zu vergessen. Sie wird bis an ihr Lebensende Schlaftabletten nehmen müssen. Das will sie nicht. Sie will dafür bezahlen, dass sie ihr Kind getötet hat. Sie fragt sich, wie andere Frauen damit leben können. Warum ist sie nicht auch so eine Frau? Warum quält es sie zu jeder Sekunde des Tages?
Mit zitternder Hand schreibt sie einen Abschiedsbrief. Sie findet, dass sie das tun muss. Er muss wissen, warum sie sich das Leben nimmt. Wäre sie doch nur stark genug gewesen, aber unter dem Deckmantel der Liebe hat sie gedacht, dass er es nur gut mit ihr meint. Er hat es nicht gut mit ihr gemeint, er hat es nur gut mit sich selbst gemeint. Das weiß sie jetzt. Sie wünscht sich, dass er nun genauso leiden wird wie sie. Sie schämt sich nicht für diese Gedanken. Sie legt den Brief auf ihr gemeinsames Bett und geht ans Fenster. Ein letzter Blick noch, dann wird sie es tun. Die Tablettenpackung in ihrer Hand fühlt sich gut an. Ihre Hand zittert und sie stellt die Packung auf das Fensterbrett. Nein, jetzt darf sie nicht mehr zögern. Es wird gut sein, dem ein Ende zu machen, denkt sie. Langsam und ohne zu zögern öffnet sie die Schachtel. Sie setzt sich aufs Bett und nimmt so viele Tabletten, wie sie kann. Es dürften genug sein. Bald schon wird sie müde, vielleicht wacht sie an einem Ort auf, an dem es ihr besser geht, aber eigentlich ist es ihr egal. Alles wird gut.
Er findet sie leblos am Abend auf dem Bett liegen. Zunächst denkt er, dass sie schläft. Das tut sie in letzter Zeit oft. Er streicht über ihre Wange und merkt, dass sie kalt ist. Er schüttelt sie. Aber sie wird nicht aufwachen. Nie mehr. Er findet die Tablettenpackung und den Brief. Vielleicht wird ihm nun bewusst, dass auch er eine Schuld trägt, vielleicht aber auch nicht. Nachdem er den Brief gelesen hat, weiß er, dass nichts wieder gut wird. Nie mehr.

~ENDE~
 
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Kommentare  

Halli hallo...

mit dem thema abtreibung hast du bei einigen menschen bestimmt einen wunden punkt getroffen, da dies ja heutzutage mehr oder weniger zu unserer gesellschaft dazugehört. Da diese geschichte voll und ganz meine eintslleung zu dem thema teilt finde ich sie gleich nochmal besser :)

Der Staccato Stil und die Art das Thema so kühl wie möglich darzustellen überzeugen auf jeden fall. Großartig!

liebe grüße, kathi


Kathixf (06.08.2006)

OK nun habe ich mir deine Geschichte auch einmal zu Herzen genommen. Ich finde sie wirklich sehr gut. Die Idee, den Charakteren keine Namen zu geben find ich sehr interessant. Auch wenn es manchmal etwas seltsam ist wegen der vielen kurzen Sätze und der raschen Folge eben dieser. Ansonsten sehr gut gelungen weiter so!

Sebi (26.06.2004)

Gut geschrieben und formuliert.
Ich bewerte jedoch nicht nimm es mir nicht übel, ich bewerte nie eine Geschichte ;-)


Gast81 (25.05.2004)

Eine Klasse Geschichte.Richtig fesselnd!
Darum 5 Punkte!


SemperFidelis (07.05.2004)

Gute Geschichte ^_^
hab die andre auch schon gelesen.Hier riechts nach Talent


NoYaFoes (27.04.2004)

Schließe mich da den anderen an!

-AlfredO- (24.04.2004)

Spitze!Find ich sehr gut!

D@rkBlood (23.04.2004)

Schöne Geschichte sehr gut!!!

Emil (19.04.2004)

Also erstmal hat mir die Geschichte sehr gut gefallen! Erst meinte ich noch Widersprüche zu erkennen, aber da habe ich mich wohl geirrt! Super Geschichte!

Anika (12.04.2004)

Find die Geschichte sehr gut.
Kompliment an den Autor


Mjoellnir (08.04.2004)

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