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4 Seiten

Kleiner großer Bruder

Romane/Serien · Erinnerungen
© Kajolee
Knallend fiel die Zimmertür hinter ihr ins Schloss. Die zornigen Drohungen ihrer Mutter drangen nur gedämpft von unten herauf an ihr Ohr.
„…und das Türknallen hört auch auf, sonst kriegst du drei Monate lang kein Taschengeld mehr!“
Wütend schmiss sich die Siebenjährige auf ihr Bett. Dann kriegt sie eben kein Taschengeld mehr, ist ihr doch egal! Glaubt ihre Mutter etwa, ihr damit wirklich weh tun zu können? Ha! Völlig egal ist das ihr. Sie wird weiterhin mit den Türen knallen, das wird sie ihr schon zeigen!
Zitternd vor Aufregung griff sie nach ihrem Teddybär. Blöde Kuh! Ihre Gedanken kreisten noch immer um die Auseinandersetzung, die sie gerade mit ihrer Mutter hatte. Warum muss sie immer den Abwasch machen? Warum muss sie immer den Müll raus bringen? Sie hatte noch zwei Schwestern, aber die brauchten das ja nicht tun. Die kamen ja gerade erst aus der Schule heim, die mussten erst einmal ordentlich essen. Was konnte sie denn dafür, dass sie nicht in die Stadt fahren brauchte, um zur Schule zu gehen? Sie würde auch mit dem Bus fahren wollen, wenn man sie nur ließe. Aber nein, sie hatte ja das „Glück“, hier in der eigenen Schule zur Schule gehen zu dürfen. Glück. Pah! Unter ständiger Kontrolle hatten ihre Eltern sie damit! Als Hausmeisterehepaar waren sie immer da, wussten immer, was ihre Jüngste gerade machte.
Heidi und Lilli, die hatten es gut. Die konnten aus dem Haus gehen, konnten tun und lassen, was sie wollten. Erst nachmittags, nach der Schule, waren sie wieder unter Beobachtung der strengen Elternaugen. Gabi biss in ein Ohr des Teddybären. Oh, wie wütend sie war! Sie wollte auch tun, was die älteren Schwestern taten. „Nein“, hörte sie immer wieder ihre Mutter sagen, „nein, dazu bist du noch zu jung. Deine Schwestern sind sechs und neun Jahre älter als du, wenn du in ihrem Alter bist, darfst du auch mehr. Jetzt aber noch nicht.“
Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie fühlte sich so hilflos! Warum konnte sie nicht selbst entscheiden, was sie für Richtig und was sie für Falsch hielt? Ihr Blick streifte durch das Zimmer, das sie sich mit der sechs Jahre älteren Heidi teilte. Sie wollte auch ihr eigenes Zimmer haben, so wie Lilli. Aber nein, sie musste sich das Zimmer mit der blöden, aufgeblasenen, neunmalklugen Hexe von Schwester teilen! Ihr Blick verschwamm, sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Wuttränen“, so nannte Heidi das immer. Ja, Wuttränen. Die hatte sie oft. Und hinterher war ihr immer elend zu Mute. Sie bekam Kopfschmerzen davon und fühlte sich müde und ausgelaugt. Dann wurde sie oft traurig und legte sich mit ihrem Teddybär aufs Bett und schlief ein paar Minuten. Oder sie ging hinunter, wenn ihre Mutter und ihr Vater sich fürs Mittagsschläfchen aufs Sofa legten. Denn dann musste es immer sehr still im Haus sein, denn die halbe Stunde zwischen Zwei Uhr und halb Drei nutzten die Eltern zur Entspannung. Schließlich hatten sie einen „Full-Time-Job“, was auch immer das heißen mochte.
Und auch jetzt schlich sie sich die Treppe hinunter. Sie wusste genau, welche Stufen der alten Holztreppe knarrten, sie berührte sie kaum. Sie horchte, ob aus dem Wohnzimmer irgendwelche Geräusche kamen – nein, die Eltern schliefen bereits. Ihre Schwestern aßen in der Küche das aufgewärmte Mittagessen. Sie unterhielten sich leise über ihre aufregenden Erlebnisse in ihren jeweiligen Schulen. Lilli hatte gerade mit der 11. Klasse begonnen, sie wollte ihr Abitur machen. Da gab es wohl viel Neues, und Heidi fragte sie neugierig aus.
Doch die Grundschülerin schlich an der geöffneten Küchentür vorbei, sie wollte jetzt nichts davon hören. Sie brauchte Trost und keine neuen Streitereien.

Und diese Anteilnahme holte sie sich von ihrem „großen Bruder“. Seufzend setzte sie sich auf die oberste Stufe der kleinen Treppe, die in Vaters Büro und zum Keller führte. Sie brauchte nur ein paar Augenblicke dort sitzen, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt, dann kam Toby von ganz allein. Sie brauchte ihn nicht rufen - er spürte immer, wenn sie traurig war und seine Gesellschaft nötig hatte.
Diesmal war er im Keller gewesen, im Partyraum. Ganz langsam kam er die paar Stufen hoch gelaufen, als ob er ihr damit zeigen wollte, dass er bereit war, ihre Last mit zu tragen. Ihre Augen waren wieder voll Tränen, sie hielt sie noch tapfer zurück. Langsam drehte er sich auf dem Treppenabsatz, drückte seinen kleinen Kopf unter ihren linken Arm durch und setzte sich mit einem leisen Seufzer neben sie. Sie wollte nicht gleich losheulen, aber die Wut war noch zu frisch und ihr Frust zu groß. Als die Tränen liefen, drückte sie ihr nasses Gesicht in seinen weichen Nacken. Hier war sein Fell ganz dick und warm. Ihr linker Arm umklammerte ihn, aber sie erdrückte ihn nicht. Dann würde er weg gehen, dass wusste sie. Ganz tief grub sie ihre Nase in sein warmes Fell. Sie genoss den Geruch, den er ausströmte, wenn er gerade geschlafen hatte. Sie schluchzte leise, beruhigte sich langsam wieder. Er hielt ganz still, ließ sie gewähren. Er war die Schulter, die sie brauchte, um sich auszuweinen. Er war ihr großer Bruder! Und dabei war er nur ein kleiner Mischling, mit leicht krummen Beinen, aber mit ganz viel Kraft und Willensstärke. Ihre Eltern beschrieben ihn immer als „abgebrochener Schäferhund mit Dackelbeinen“ – sie fand das gemein. Für sie war er ein Held, der beste Freund, den sie hatte. Sie konnten zusammen spielen, toben und auch kuscheln. Manchmal war er auch grob zu ihr, aber wenn sie dann beleidigt war, kam er an und steckte seinen Kopf unter ihren Arm. So saßen sie oft nebeneinander, dann waren sie fast gleich groß. Gabi hob den Kopf, die Tränen versiegten. Mit der anderen Hand rieb sie sich die Nase und wischte die Tränenspuren aus ihrem Gesicht. Keiner sollte sehen, dass sie geweint hatte! Toby hob kurz den Blick, sie entspannte sich. Da legte er ihr seine rechte Pfote auf den Oberschenkel, und automatisch streichelte sie ihn. Sie bedankte sich dafür, dass er immer da war, wenn sie ihn brauchte.
Sie musste ihm nichts erzählen, nichts erklären. Er verstand sie ohne Worte. Manchmal hatte sie es satt, immer alles erzählen zu müssen. Ihre Eltern und auch ihre Schwestern verstanden sie überhaupt nicht! Die Welt war so kompliziert, in ihrem Kopf schwirrten die vielen Gedanken herum und keiner war in der Lage, sie zu ordnen. Sie verschlang Buch um Buch, doch anstatt dass ihre Fragen beantwortet wurden, kamen neue Fragen auf. Und dann explodierte sie manchmal. Dann gab es Streit und alle schrieen sich an. Oh, sie hatte es so schwer! Sie hasste es, die Jüngste zu sein. Sie hasste es, immer klein beigeben zu müssen. Und ja, sie hasste ihre Schwestern dafür, dass sie älter waren und so viel mehr wussten wie sie selbst. Nur Toby, der hielt immer zu ihr. Der wollte nichts von ihr, nur spielen und glücklich sein!
Sie beruhigte sich. Ist doch alles Quatsch, warum regt sie sich bloß immer so auf? Sie hätte den dicksten Kopf der Familie, hatte ihre Mutter gesagt. Na, und? Dann ist das eben so. Sie ist wie sie ist, damit müssen die anderen eben klar kommen. Toby akzeptierte sie schließlich auch so - er mäkelte nie an ihr rum. Er war ihr großer Bruder – obwohl er kleiner und vier Jahre jünger war als sie.

Dreizehn Jahre später stand Gabi in der Haustür, auf dem Weg zur Arbeit. Sie verharrte noch einen kurzen Moment in der Tür, blickte zurück auf den Flur.
Toby lag zusammengerollt mitten im Weg. Er hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging flach aber gleichmäßig. Sein Fell war immer noch weich und dicht, das Alter aber hatte die braunen Flächen teilweise mit grauen und weißen Strähnen durchzogen. Sie zögerte, als der kleine Körper erzitterte und sich dann wieder beruhigte. Sie musste los, durfte ihren Bus nicht verpassen. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken runter, und sie bekam eine Gänsehaut. Schnell drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich. Sie wusste, sie hatte ihren kleinen, großen Bruder das letzte Mal gesehen.
 
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Kommentare  

Eine traurige und doch gleichzeitig schöne Geschichte. Ist sie autobiografisch? Fast kommt es mir so vor.
Normalerweise sind die Ältesten die Deppen in der Familie, die Aschenputtel, die die ganze Arbeit machen müssen, für alles die Verantwortung tragen müssen und von den Eltern als Babysitter missbraucht werden.
Zum ersten Mal lese ich, dass das jüngste Kind das Dumme war. Traurig das!
Die Freundschaft zum dem Hund hast du sehr gut und lebendig rübergebracht und der traurige Schluss hat mir den guten alten Toby noch lebendiger werden lassen, auch wenn ich seine letzten Schnaufer miterlebte.
Klasse Geschichte. Von dir könnten sich viele Möchtegernautoren mal eine Scheibe abschneiden!
Wenn man es schafft, selbst einen so kurzen Schrieb mit Leben und Gefühlen zu füllen, dann hat man es drauf. Ich wäre auf deinen ersten Roman gespannt.
5 Punkte und die SPITZE! dazu!


Stefan Steinmetz (04.01.2005)

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