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Der See

Trauriges · Kurzgeschichten
© Aya
Marie setzte leichtfüßig einen Fuß vor den anderen, erfreute sich an ihrer wundervollen Umgebung. Die rauschenden Blätter, die sich in der Sonne spiegelten, der Gesang der vielen Vögel, der Gras und die Erde unter ihren Füßen, das sie durch die Schuhe hindurch fühlen konnte, die vielen Bäume, die ihr Schutz boten und der ganze Wald schien sie in sich aufzunehmen. Sie wurde ein Teil dieser Natur, in der nichts von all dem zählte, was in der „anderen Welt“ so von Bedeutung war. Hier gab es keine Schönheitsideale, keinen Schwächen und Verrücktheiten, keinen Neid oder Stolz oder andere menschliche Eigenheiten, keiner würde sie hier auslachen oder auch nur eines abfälligen Blickes bedenken. Hier war Marie frei, konnte sich so geben wie sie war, gleichbedeutend mit all den anderen Wesen, vereint mit der natürlichen Umgebung, in der sie nun Teil war. Sie genoss die Ruhe und den Frieden, die diese Umgebung in ihr auslösten und schritt weiter durch den breiten Waldweg zu einer kleinen Lichtung, die den Blick zu einem kleinen natürlichen See freigab. Er war nicht sehr groß, doch wirke beruhigend und einladend, lag abseits der menschlichen Zivilisation und strahlte eine tiefe Ruhe aus. Kleine grasbewachsene Uferböschungen säumten diesen und junge Bäume streckten ihre Triebe über ihn, wodurch es schien als würden sie den See mit ihren Armen umschließen wollen, ihn beschützen. Winzige Wellen, vom Wind erzeugt wurden an das Ufer getragen und ließen den See wie ein kleines vergessenes Meer erscheinen. Die Sonne, die Wolken und der Wald spiegelten sich in der ruhigen Wasseroberfläche des Sees wieder, auf dem nur unzählige kleine Wasserflöhe ihre Runden zogen.
Hin und wieder tauchte ein Fisch auf und versuchte einer der Wasserflöhe zu erwischen, was nicht immer von Erfolg gekrönt war.
Marie zog ihre Schuhe und Socken aus und ging durch den Schlamm des Ufers bis die ersten kleinen Wellen ihre Zehen berührten. Sanft schienen sie ihre Zehen zu streicheln, umschlossen sie als sie tiefer ging und die Kälte des Wassers langsam durch die Haut spürbar wurde. Sie spürte die Wellen bereits an den Beinen, als sie kurz innehielt und ihren Blick gen Himmel richtete. Sie blinzelte, als sie sah wie die Sonne nur mehr leicht und schwach hinter einer dunklen, mächtigen Wolke hervorlugte. Winzige, kristallklare Regentröpfchen bahnen sich ihren langen Weg von den Wolken zur Erde und schlugen auf der Wasseroberfläche des Sees auf. Sie bedeckten die Grashalme, die sich unter ihrem Gewicht zu biegen begannen, die Erde, die dadurch feucht und schlammig wurde und auch Marie, die noch immer in den Himmel sah und die Regentropfen beobachtete. Sie hörte das Zischen und dumpfe Aufklatschen der Tropfen auf der Erde und dem See und folgte den einzelnen Tropfen bis sie auf dem See zerschellten. Kreisrunde, symmetrische Wellen ließen den Tod eines Tropfens erkennen, wenn er seine Reise geendet hatte. Immer mehr Wellen gaben dem See ein eigenartiges Muster, ein Rhythmus, indem der Tanz der Regentropfen stattfand. Marie war wie gefesselt von diesem Tanz, diesen Geräuschen und deren natürliche Kraft. Doch nach einer Weile bewegte sie sich wieder und schritt weiter in die Tiefen des Sees. Ihr weißes Kleid begann sich mit dem See zu verbinden und sog das Wasser in sich auf. Sie schien die Eiseskälte des Sees nicht zu spüren, den Marie ging immer weiter, bis auch ihre Hände das kühle Nass berührten und kleine Tröpfchen darauf kleben blieben, als sie sie zeitweise hob.
Noch immer regnete es und es durchnässte Maries goldene Haare, ihr weißes Kleidchen und ihren kälter werdenden Körper. Kleine, perlende Tränen rannen ihre kleine Wangen hinunter, bis sie sich nicht mehr halten konnten und in den See fielen. Das Wasser hatte ihren Hals erreicht und die Kälte des klaren, ruhigen Sees fuhr Marie in die Glieder, ließ ihre Schritte immer träger und zäher werden, doch sie nahm von all dem nichts wahr. Spürte nichts, fühlte nichts. Dann hatte das Wasser ihren kleine Kopf erreicht und sie hielt den Atem an, als das Wasser sie vollkommen einhüllte, der See sie in sich aufnahm und sie mit seinen unbändigen Tiefen verführte, die ruhige, zeitlose Atmosphäre sie völlig einnahm. Sie hielt noch einen Augenblick den Blick auf das klare Wasser, die Fische und das trübe Licht, das von oben herabschien stand, bevor sie ihre blauen Augen schloss und gar nicht erst versuchte sich aus dieser tödlichen Umgebung zu befreien. Sie konnte nicht schwimmen, wollte es auch nicht – ganz ruhig stand sie da, inmitten des Sees, der sie so viele Momente in ihrem Leben beruhigt und getröstet hatte. Seine Schweigsamkeit und sein Frieden hielten sie stets gefangen und so wurde er ihr treuer, einziger Begleiter. Ein Gefährte, der beständig war, auf den sie stets zurückgreifen konnte und der sie nie in seiner Ruhe, seinem Frieden und seiner Zeitlosigkeit enttäuschte. Nur er sollte ihre letzten Minuten teilen, er sollte sie mit seinen kalten, ewigen Armen umfassen und sie in den Tod wiegen. „Schlaf ein, meine kleine Marie“, schien er zu flüstern, im Rauschen der Wellen und dem dumpfen Tropfen des Regens. Auch jetzt schien seine Ruhe und seine Sanftheit sie zu beruhigen, ihr Mut geben auf ihrem letzten Weg, sie führen auf dem Weg in die Ewigkeit, von der ein Teil er bereits war. Er war beständig, ein Teil einer unzerstörbaren Welt, einer Ruhe die nichts erschüttern konnte, einem Frieden, den rein gar nichts trüben konnte. Und in diese Welt wollte Marie sich führen lassen, von ihrem Begleiter, dem See, dem Wächter der Ruhe und der Beständigkeit, dem Herrscher über ihrem Leben und ihrer Seele. So legte sie ihr Leben in seine Hände und ihr Herzschlag vermischte sich mit dem Rhythmus der Wellen, dem stetigen Tropfen des Regens und dem Rauschen des Wassers. Bis es schließlich für immer aufgehört hatte zu schlagen...
 
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Kommentare  

wunderschön! ach das sagte der möchtegernpoet ja schon... aber ich schließ mich ihm mal an. aber ein bisschen muss ich auhc meckern, denn selbstmord und selbstmitleid gehören nun mal zusammen! tjaaa gefällt mir jedenfalls sehr gut;)
lg darkangel


darkangel (10.02.2007)

Wunderschön. Hypnotische Beschreibung haben mich ganz in ihren Bann gezogen. Viele anderen, die so einen Tod beschreiben, würden in Selbstmitleidige Erklärungen und Abschweifungen geraten (liest man hier auf webstories zu oft), aber du lässt das alles ausen vor und beschreibst einfach mit wunderschönen Worten und Sätzen die kleine Odysee von Marie, ohne zu werten.
Toll gemacht, mein Respekt -fünf Punkte


der kleine Möchtegernpoet (31.12.2005)

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