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4 Seiten

Requiem for Reality

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Daniel
Terrorisier mich. Bitte. Denn dann bin ich wichtig. Wieso kann ich kein Wolkenkratzer sein? Wieso fliegt kein Flugzeug in mich hinein? Existiere ich überhaupt? Wer nimmt Notiz?

I understand. In death, a member of Project Mayhem has a name.

Zu dumm, ich bin heute schon wieder aufgewacht und lebe immer noch. Genau wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Und dem Tag davor. Und dem Tag vor dem Tag davor. Und überhaupt, gab es je eine Zeit, in der ich nicht gelebt habe? Lebe ich jetzt? Sind diese Gebäude nicht gestern erst eingestürzt? Und warum geht das so langsam? Ah, eine Wiederholung in Zeitlupe. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Eventuell ein surreales interaktives Gemälde von Dahli. Vielleicht aber auch Realität, lässt sich schwer beurteilen durch den Fernseher. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch... hey, ein neuer Blickwinkel, das Video gab’s bisher noch nicht zu sehen. Flugzeug in’s World Trade Center? Ein Computerspiel? Terror-Simulation? Player 1: USA. Player 2: Please Enter Name. Player 2 Wins. Game Over. Reset.

Fernseher an. CNN. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine.
Bush hält eine sehr schöne Rede mit sehr gut gewählten Worten, und er sagt folgendes: „Blablabla. blabla, blablabla! blablablablablablablabla!!!“
U! S! A! U! S! A! U! S! A! U! S! A! U! S! A! U! S! A! U!

Zahl der Vermissten auf irgendeine noch höhere Zahl gestiegen. Bla bla bla bla bla blablablabla... oh, ich sollte zuhören. Wichtig. Bedeutend.

„..........und wir fühlen mit den Familien der Opfer..........“ Blablablablablablabla.......... oh, traurig, ich sollte mittrauern. Es ist traurig. Ich kann nicht heulen. Ich zünde keine Kerze an. Ich breche nicht zusammen. Schlechter Mensch. Zahl der Vermissten auf 6 Milliarden gestiegen.

Fernseher aus. Computer an. Wow, neuerdings alles Terrorismusexperten mit den cleversten Strategien. Und jeder verfügt über einen noch besseren Informationsstand als der andere. Nur noch Genies auf der Welt. Militärschlag. Kein Militärschlag. Pazifist. Dritter Weltkrieg. Was weißt du über Trilogien? Im dritten Teil kann alles passieren. Der Täter hat übermenschliche Kräfte, man kann ihn nicht töten. Habe ich noch eine Kassette um den Film aufzuzeichnen? Blablablablablablablablablarecordblablablablablablablablablawerbung.Stop.

Keine Werbung auf RTL. Toll. Ich bin gerührt. Ist mir doch scheißegal, was interessiert’s mich ob die Wichser KEINE Werbung bringen. KEINE Werbung als Ausdruck der Trauer? Fickt euch in’s Knie. Oh, das kann ich so nicht schreiben. Umformulieren. Wahrhaftige Gedanken umformulieren? Fickt euch in’s Knie! Blablablablablablablabla. Und noch eine. Und noch eine. Zahl der Lebenden auf einige wenige gesunken.

Welche Formulierungen darf ich verwenden um als normal formulierender Mensch zu gelten? Wie sehr muss ich trauern um normal zu sein? Wann darf ich wieder über andere Themen reden? Wieviel Werbung muss ein TV-Sender auslassen um als pietätvoller TV-Sender zu gelten? Wie sehr muss ich erschüttert sein um als normal erschütterter Mensch zu gelten, wie normal muss ich sein um noch als Mensch zu gelten, wie unnormal will ich sein um als Individuum zu gelten? Zahl der Vermissten etwa 5000. Zähle ich zu den Vermissten?

Und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine, diesmal mit warmherziger Musik und Bildern von staubigen Feuerwehrmännern unterlegt, ein Musikvideo auf CNN. God bless America. God bless the world, God kill alle Leute, die mich nerven. Danke, Gott. Vielen Dank.

Und dann wache ich schon wieder auf, schaue aus dem Fenster, schalte es ein, sehe, wie mein Kopf mit atemberaubender Geschwindigkeit in’s World Trade Center rast, auf der anderen Seite als Fernseher wieder herauskommt und fühle nichts mehr. Nur noch Hass. Und Wut. Wie lange darf ich hassen und wütend sein um als normal hassender und wütender Mensch zu gelten? Wie lange muss ich im hassenden Ausnahmezustand verharren, bevor ich wieder in das normale Leben zurückkehren darf? „Der Alltag muss weitergehen. Ich meine, wenn wir jetzt in eine Lethargie verfallen, dann haben die Terroristen ihr Ziel doch erreicht.“ Halt die Fresse du Vollidiot, ich bin so lethargisch wie ich will, was scheren mich die Terroristen irgendwo weit weg in einem fernen Land vor der Haustür? Danke, Gott.

Reden, Trauergottesdienste, Schweigeminuten, Tränen, zitternde Stimmen. Wie lange muss ich schweigen um...............<Schweigen>...............

Und wir schweigen munter weiter. Schweigende Reden, schweigende Trauergottesdienste, schweigende Minuten, schweigende Tränen, schweigende zitternde Stimmen. Und alles wiederholt sich. Zum achtundneunzigbillionsten mal auf CNN. NBC. RTL. ZDF. Oder irgendeiner anderen Kombination von drei Buchstaben. In Zeitlupe schweigen wir. Mit musikalischer Untermalung schweigen wir. Damit das Schweigen noch betretener wirkt. Geniale Inszenierung, muss man schon sagen. Und noch einmal schweigen wir, und noch einmal, und noch einmal. Also in der US-Originalversion kam diese Schweigeminute ja viel besser rüber, die deutsche Synchronisation des Schweigens war ja mal wieder sowas von schlecht. Blabla.

Und wann ziehen wir schweigend in den Krieg? Krieg der Wahrnehmung? Was sagt Bush? Die USA befinden sich schon im Krieg? Oh. Na dann. Ab wieviel Jahren ist so ein Krieg eigentlich freigegeben? FSK 16? FSK 18? Frei für alle Altersgruppen? Wer führt Regie? Wer schreibt das Drehbuch? Wer komponiert die Musik? Ich meine, ohne Musik kommt so ein Krieg doch gar nicht richtig rüber. Am besten Krieg in Panavision und THX-Sound. Die Kriege in den USA sind ja ohnehin viel besser als sonstwo. Ich denke, ich geh mal in’s Kino um mich abzulenken.

Mensch. Maschine. Mensch. Maschine. Menschmaschine. Menschmachinerie. Menschen missbraucht als Maschinen. Einmal Krieg zum Mitnehmen, bitte.

Bitte, lass den Krieg kommen, denn Zeiten mit Krieg sind wichtige Zeiten, und wenn ich selbst schon nicht wichtig bin, möchte ich ich wenigstens in wichtigen Zeiten leben. Bitte einmal ‘ne große Portion Apocalypse Deluxe mit Armageddon-Sauce. Wer hat das eben gedacht? War ich das? Kann nicht sein, muss das Fernsehen gewesen sein. Das muss das Flugzeug gesagt haben, das eben rückwärts aus dem World Trade Center herausgeflogen ist und es im unversehrten Zustand zurückließ. Wo ist die Rücklauftaste für’s Leben? Wo ist der Reset-Knopf?

Kein Rücklauf. Function is not available at the moment.

Kein Reset. Schwerer Ausnahmefehler im Modul LEBEN.DLL. Sollte das Problem weiterhin auftreten, kontaktieren Sie Ihren Hersteller.

Wo ist der Hersteller?

Immer weiter.

Und weiter, weiter, weiter, weiter, weiter. Und noch weiter, so weit, dass wir uns selbst nicht mehr sehen können. Und dann...

...wache ich in einem Traum auf, den manche „Leben“ nennen. Ich lebe tatsächlich noch. Zum Glück. Morgen wahrscheinlich auch noch. Und übermorgen. Und überübermorgen. Und den Tag darauf auch noch. Und an dem Tag, der danach kommt. Und überhaupt, wird es irgendwann mal eine Zeit geben, in der es mich nicht mehr gibt? Wohl kaum. Immerhin bin ich ja der Mittelpunkt des Universums. Jedenfalls aus meiner Sicht.
 
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Kommentare  

Interessanter Text. Da steckt einiges hinter, denke ich

 (29.06.2007)

World-Trade-Center, Krieg, Leid...darum gehts ja in Daniels Kritik , nicht wahr ?? Was das betrifft , finde ich sie überaus passend und ohne zu übertreiben gut .....aber was ich schrecklich beängstigend finde ist , dass er sein Leben so in seiner Story wiedergibt , als wäre er schon längst eine Matrix-Routineleben-Maschine .........das tut mir weh.....und ich finde gar nicht , dass ich jetzt naiv klinge , wenn ich sage , dass die Welt toll ist . Jeden Tag steh ich auf und danke Gott ( ohne Scheiss ) , dass er den Himmel oder das Wasser oder die Temperatur erschaffen hat .....es fasziniert mich , dass man Mensch sein darf !!! Und ich danke ihm dafür !!! Und jedes Mal wenn ich schwimmen gehe , oder wandern ...denke ich mir ....Oh mann ....diese Welt ist so irre schön ....ich meine jetzt nicht die Leute , die diese Welt regieren ...aber die Zustände , die Tiere , unsere Sinne mit denen wir alles wahrnehmen .....jedes mal wenn ich aufstehe will ich aufs neue die digitalkamera nehmen und von meinem Fenster aus den schönen sich immer wiederholenden Sonnenuntergang fotografieren....und jedes mal wenn ich aufstehe denke ich mir ...Gott , was hab ich für ein Glück zu leben ...zu spüren und wahrzunehmen .....Danke Gott für all diese Chancen , die du mir gibst ...ich liebe mein Leben ...und die Routine , die Daniel hier so schrecklich beschreibt kommt davon , weil wir im stress nichts mehr realisieren ...... ein Rat an alle : geht mal raus in die Natur , lasst auf euch die Sonne oder den Regen scheinen ....spürt was um euch geschieht ....lächelt die Leute in der U-Bahn an ( sie werden erstaunt zurücklächeln ) und setzt euch bewusst in den Park auf eine Bank um Mitternacht um zu erfahren , was diese tolle welt an großen Kleinigkeiten zu bieten hat . Ich wette , alle denken jetzt, man....ein kleiner naiver Mensch , der das schreibt ....aber mal ganz ehrlich , ...hab ich nicht einen Funken Recht ???

Liebe Grüße


Anonym (18.10.2004)

Also, ich persönlich finde die Story gar nicht so übel und ich glaube auch nicht, daß der Verfasser an "einem großen Thema gescheitert" ist und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen ist der Text ausschließlich aus der Perspektive des Fernsehzuschauers geschildert und erhebt keinerlei analytischen Ansprüche, zum anderen kann einen das ganze Betroffenheitsgewinsel über die 5000 Toten angesichts der Tatsache, daß in der sog. 3. Welt täglich 30000 Menschen verhungern, tatsächlich gewaltig auf den Senkel gehen. Das ist der wahre Zynismus der Berichterstattung.

Jan (28.02.2002)

Ich jedenfalls finde die "Geschichte" geschmacklos. Noch nicht einmal wirklich packend geschrieben, denn sie langweilt. Aber das ist nur meine Ansicht...

Maegumi (10.01.2002)

Es ist keine Story, es ist eine Kritik an dem Umgang mit den Geschehnissen des 11. Septembers (stimmt doch, Daniel, oder?).
Ich finde Diese Kritik sehr treffend, denn langsam geht es einem doch sehr auf den Keks, finde ich zumindest, und die Ausdrucksweise, die der Autor hier gewählt hat ist sehr gut.


s.cure (09.12.2001)

Hey!
Die Story ist spitze!
Und was labert ihr da eigentlich? (neuhold, arthur,s.cure)



die_Biene (08.12.2001)

Ich will dir nicht zu nahe treten, aber dem Thema scheinst du nicht gewachsen zu sein. Nachdenken und dann schreiben... nimm dir einfach mehr Zeit. Aber einen Trost gibt es ja... a) das ist meine Meinung und b) es sind schon andere an großen Themen gescheitert!

Neuhold (14.11.2001)

Eine gute Kritik.

Arthur (07.11.2001)

Geil. Treffend.

s.cure (06.11.2001)

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