33


16 Seiten

Eine schottische Geschichte

Romane/Serien · Spannendes
Nach einer viel zu langen Autofahrt, bei der das Wetter immer schlechter wurde, je weiter ich nach Norden vorgedrungen war, sehe ich endlich – weit nach Glasgow – die Abzweigung vor mir, die nach Blackstone Manor zeigt. Ich war schon mehr als zehn Jahre nicht mehr hier gewesen und kann mich fast nicht mehr an das Anwesen erinnern.

Blackstone Manor, das ist der Stammsitz meiner Familie. Ich stamme von einem echten schottischen Clan ab, wofür die natürliche Kuperfarbe in meinen Haaren ein Beweis sein könnte. Aber die Familienbande waren locker geworden, nur mehr mein Großvater Donald McPherson hatte in den letzten Jahrzehnten noch hier gelebt. Nun war auch er tot und ich hatte ein Schreiben vom Familienrechtsanwalt erhalten, in dem für morgen die Testamentseröffnung mitgeteilt wurde.

Es schüttet es schon seit Stunden ununterbrochen, zeitweise, wie wenn ich mit meinem Wagen direkt unter einer Dusche stehen würde. Ich fahre daher sehr langsam, die schmale, uneben wirkende Straße entlang, während der Regen auf die Windschutzscheibe gepeitscht wird. Als ich in den Rückspiegel blicke, sehe ich plötzlich ein Scheinwerferpaar sehr schnell näher kommen.

Ich fahre weiter, ignoriere die Lichter, die mich blenden und den Drang, schneller zu fahren, der mich durchpulst. An einer Stelle, wo die Straße etwas breiter ist, rast das Fahrzeug endlich an mir vorbei. Ich frage mich, wer hier bei diesen Verhältnissen wahnsinnig genug ist, so schnell unterwegs zu sein.

Eigentlich können es nur mehr wenige Meilen sein, denke ich, als ich eine über eine Hügelkuppe fahre, vor mir in einiger Entfernung Lichter sehe. Als ich eine Brücke überquere, sehe ich die Lichter schon knapp vor mir. Auch hier ist es sehr düster, der Regen – so kommt es mir zumindest vor – peitscht noch viel härter auf das dünne Blech des Leihwagens.

Das Haus steht mitten am hier flach wirkenden schottischen Hochland, ich kann weder Bäume noch eine Begrenzung, zum Beispiel einen Zaun, rundum erkennen, vielleicht auch wegen der Düsternis. Nichts, nur das Haus und einige Autos davor, darunter der weiße Sportwagen, der mich so riskant überholt hatte.

Na ja, jetzt werde ich ja bald wissen, wer der Idiot ist, der mich fast umgebracht hat, kommt mir in den Sinn, als ich meine Sachen aus dem Auto nehme und mich beeile, in das Haus zu kommen. Das große Tor ist verschlossen, es gibt nur einen Klopfer in Form eines Drachenkopfs, den ich zweimal gegen das verwitterte Holz schlage.

Der Klang, den das zierlich wirkende Metall erzeugt, ist durchdringend, hallt sehr laut. Ich muss nicht lange warten, dann höre ich Schritte. Ein Mann in einem sehr altertümlich wirkenden Anzug steht vor mir, er sieht aus wie ein klassischer Butler. Und er redet auch so, mit einem noblen Unterton: „Sie müssen Ellie McPherson sein. Treten sie ein.“

Ich betrete die Halle, die sich öffnet, als er beiseite tritt, ziehe meine dunkelblaue Sporttasche hinter mir her. Drinnen herrscht eine herrschaftliche Atmosphäre, wenn ich auch den Eindruck habe, dass das Haus schon einmal bessere Zeiten gesehen haben muss.

Der Butler, ich bilde mir ein, mich erinnern zu könne, dass er James heißt, geleitet mich weiter. Wenigstens gibt es schon elektrischen Strom und nicht nur Fackeln, denke ich in einem Anfall von Sarkasmus. Der Butler öffnet eine breite Holzschiebetüre, dahinter befindet sich eine Halle, die mehr als fünfmal so groß sein muss wie die Eingangshalle.

An der vorderen Front befindet sich ein Kamin, in dem ein großes Feuer brennt, anschließend ein Tisch, an dem mehrere Personen sitzen. Ich erkenne sofort meine Tante Susan, sie ist mit ihren blond gefärbten Haaren und der schrillen Garderobe auch unverwechselbar. Neben ihr sitzt ein älterer Mann mit dichten grauen Haaren, die ihm wirr vom Kopf stehen.

Am Ende des Tisches glaube ich meinen Großvater Donald zu erkennen – aber er soll doch gestorben sein! Ich gehe weiter, bin gespannt, frage mich, was das soll. Nachdem ich immer noch durch die riesige Halle gehe, schaue ich auch den Mann an, der auf der anderen Seite des Tisches sitzt, Susan gegenüber.

Gerade Susan und er scheinen in einen Streit verwickelt zu sein, ich kann aber nur einige Wortfetzen und Wörter hören: „Was soll…“, „Wer…“, „…ich fasse es nicht, fahre noch heute zurück…“
Als sie mich endlich registrieren – meine Sportschuhe hinterlassen auf dem blanken Boden fast keine Geräusche – fahren alle herum, blicken mich an. Nur der alte Mann an der Frontseite des Tisches hat seine Augen geschlossen, scheint zu schlafen oder zu meditieren.

Indem ich laut ‚Großvater’ sage, ignoriere ich die Blicke der anderen Personen am Tisch. Als er die Augen aufschlägt und mich anblickt, gehe ich weiter, stelle mich neben ihn. Er ist es eindeutig, ich erkenne seine Stimme, als er ‚Ellie, meine Kleine, du bist auch hier. Willkommen.’ sagt. Was ist hier wirklich los?

Laut sage ich: „Großvater, was ist los? Ich habe ein Schreiben erhalten, in dem stand, dass du gestorben bist.“ Ich umarme ihn, merke, dass er im Rollstuhl sitzt. Er fühlt sich sehr dünn, sehr zerbrechlich an, sieht unglaublich alt aus.

Statt ihm antwortet meine Tante: „Wir alle haben ein solches Schreiben erhalten, nicht nur du. Und wir wissen es nicht, keiner von uns hat eine Ahnung, wer und wozu jemand einen solchen Brief schreiben sollte.“

Ich gehe weiter zu Tante Susan, die aufgestanden ist, mich ihrerseits umarmt. Sie ist immer noch ihrem alten Modestil treu, trägt einen sehr kurzen Minirock, helle Strümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie hat immer noch ihre Topfigur, obwohl sie schon in den Fünfzigern sein muss.

Susan stellt mich den Mann neben ihr vor, es ist tatsächlich John McPherson, der Bruder des Schlossherrn und mein Großonkel. Ich küsse ihn auf die Wangen, der übliche Gruß im Clan Personen gegenüber, die man nicht kennt. Der dritte Mann am Tisch hat mich schon die ganze Zeit abschätzig angesehen, reicht mir über den relativ schmalen Tisch die Hand, zieht mich dabei fast mit Augen aus.

Ich bin froh, dass ich sehr rustikal angezogen bin, Jeans und einen sagenhaft bequemen, sehr weiten Pullover trage. Er muss es gewesen sein, der mich so rasant überholt hat. Der Mann nennt mir seinen Namen, Iain, teilt mir mit, dass er der Sohn des Schlossherrn und damit mein Onkel ist. Irgendwie hat Iain einen arroganten, aber auch grausamen Zug, der mir besonders an seinen dünnen Lippen auffällt.

Ich setze mich unschlüssig neben meinen Großonkel, während am Tisch wieder die Diskussionen aufflammen. Iain beginnt wieder heftig mit Susan zu diskutieren, ich höre nur am Rande, worüber sie so laut streiten, weil mich James fragt, ob ich einen Drink möchte. Ich bejahe, lasse mir einen Scotch on the Rocks bringen.

Als ich mich wieder den Gesprächen am Tisch widme, steht Iain gerade auf, schreit schon fast: „Mir reicht es, ich gehe, es interessiert mich nicht, wer dieser Idiot war – und warum er uns hierher gelockt hat.“
Ich kann sehen, dass er eine Tasche vom Boden nimmt, seine Jacke überstreift, dann, ohne einen Gruß, den Raum verlässt. Wenige Sekunden später höre ich die äußere Türe zufallen.

Auch Susan und John stehen auf. Nach einigen Worten, die sie leise mit dem Schlossherren wechseln – ich bin abgelenkt, weil James meinen Scotch bringt – verabschieden auch sie sich von mir, gehen. Ich bleibe mit meinem Großvater alleine in der riesigen Halle zurück, während die Flammen im Hintergrund knistern.

Ich rede mit dem Schlossherrn, frage ihn, ob er sich vorstellen kann, wer solche unangebrachten Scherze treibt und wieso. Der alte Mann ist scheinbar geistig nicht mehr sehr auf der Höhe, antwortet mir nur träge und unbestimmt, während James überhaupt nicht mehr auftaucht.

Aber ich komme sowieso nicht weit mit meinen Fragen, bald schon ertönt wieder der durchdringende Klopfer, reißt mich aus meinen Gedanken. Als James zurückkommt, hat er alle drei Verwandten im Schlepptau, die einmal mehr lautstark streiten.

Wieder ist mein Onkel der Lauteste, schimpft haltlos vor sich hin. Erst von Tante Susan erfahre ich, dass die einzige Zufahrt unpassierbar ist, weil die Brücke weggerissen wurde. Niemand kann mehr weg. Wenigstens hatte ich es nicht einmal vor, wollte sowieso bis morgen warten.

Dieses Mal ist es James, der die Situation rettet. Er schlägt vor, allen Anwesenden Zimmer herzurichten und ein Abendessen zu kochen. Ich willige sofort ein, bin froh, bei diesem Wetter nicht raus zu müssen. Die anderen Anwesenden brauchen länger, sich mit der Situation abzufinden, aber letztendlich bleibt ihnen nichts anderes übrig.

Mein Großvater scheint wieder zu schlafen, als ich James folge, mir das Zimmer, in dem ich übernachten werde, zeigen lasse. Wir gehen ein Geschoß höher, durchqueren mehrere lang gestreckte, schlecht beleuchtete Flure, bei denen man das Alter und den schlechten Zustand des gesamten Gebäudes sehen, fast schon spüren kann. Ich frage mich, wie arm Großvater ist.

Der Raum, den er mir öffnet, strahlt hingegen eine Atmosphäre zwischen Luxus und Schönheit aus. Es ist ein riesiges Zimmer, mit einem großen, wunderschönen Himmelbett mit blauen Vorhängen und einer Decke aus Stuckwerk. Drinnen befinden sich auch noch ein Tisch mit Einlegearbeiten, ein Kristallluster, mehrere große Lehnsessel. Die Vorhänge im Raum, die ich vor die hohen Fenster ziehe, passen zum Himmelbett.

James bleibt einen kurzen Moment, zündet im Kamin ein Feuer an, während ich meine wenigen Habseligkeiten in einen großen, kunstvoll bemalten Schrank räume. Der Butler verlässt den Raum, sagt noch: „Miss Ellie, kommen sie in einer Stunde nach unten, es gibt dann Abendessen.“

Er verneigt sich noch, schließt die Türe – ich bleibe zurück, frage mich weiter, was das alles soll. Ich nütze die Zeit noch, um einiges für die Prüfungen an der Universität vorzubereiten. Als ich nach unten gehe, sind schon alle versammelt. James trägt das Essen auf, ich wundere mich, wie er es so schnell zubereiten konnte.

Beim Essen wird weiter über die Briefe gerätselt, manch Verwandter wird genannt. Aber der Clan der McPhersons ist seit dem vorigen Jahrhundert stark geschrumpft, die hier Anwesenden sind schon die einzigen Erwachsenen aus der einstmals großen Familie. So ergibt sich nicht einmal eine realistische Mutmaßung, während draußen weiterhin der Regen auf die Scheiben klatscht.

Nach dem Essen sitzen wir noch einige Zeit zusammen, es bilden sich zwei Gruppen. Ich sitze mit Tante Susan zusammen, höre mir den neuesten Klatsch aus London an, während die drei Männer – Großvater scheint wieder unter den Lebenden zu sein – über Pferderennen sprechen. James taucht nur auf, um den Anwesenden Scotch zu servieren und verschwindet wieder in der Küche.

Als ich auf die Uhr sehe, ist es schon 01:00 AM durch. Ich verabschiede mich, lege mich in das große, trotz des Feuers immer noch sehr kalte Zimmer schlafen, höre den Flammen zu. Während ich langsam in einen Dämmerschlaf falle, bemerke ich plötzlich trotz der dicken Holztüre einen lauten, durchdringenden Schrei.

Ich setze mich auf, glaube im ersten Moment, einer Täuschung erlegen zu sein. Trotzdem öffne ich die Türe, höre jetzt ein Weinen und Schluchzen, wenige Zimmer entfernt. Ich ziehe rasch meine Schuhe über, gehe im Pyjama den Flur entlang. Der leere, schwach beleuchtete Flur und der starke Wind, der durch alle Ritzen des Gebäudes bläst, jagen mir Schauer des Unbehagens über den Rücken.

Am anderen Ende des Ganges wird eine Türe geöffnet, Iain McPherson tritt – scheinbar hatte er schon geschlafen – aus dieser, sieht mich kommen. Ich rufe ihm zu: „Hast du auch den Schrei gehört?“
Gerade, als die Türe geöffnet wurde, hatte das Weinen und Schluchzen ein Ende. Aber er nickt.
Ich frage ihn: „Wo sind die anderen untergebracht?“
Er deutet um die Ecke, sagt: „Susan hat ihr Zimmer den Gang hinunter.“

Mein Onkel wendet sich ab, geht in die angegebene Richtung, ich folge ihm. Aber wir müssen nicht so weit gehen. Schon die erste Türe um die Ecke ist einen Spalt offen – das Weinen und Schluchzen kommt aus dem Raum dahinter. Als Iain die Türe öffnet, sehe ich Tante Susan – noch in ihrer Tagesbekleidung – am Boden liegen, oberhalb von ihr hängt John an einem Strick von der Decke.

Ich registriere all diese Details in einem Bruchteil einer Sekunde, muss mich würgend abwenden, weil mein Magen seinen Inhalt entgegen der Schwerkraft abgeben will. Mein Onkel hat bessere Nerven als ich, ich sehe, dass er zu Tante Susan geht, seine Arme um ihre Schultern legt.

Während ich meinem Magen in dem Badezimmer neben dem Raum mit meinem toten Großonkel nun doch seinen Willen lassen muss, nehme ich noch wahr, dass James den Toten von der Decke schneidet und Iain versucht, Tante Susan wieder zu sich oder zumindest zu Bett zu bringen.

Schließlich muss auch mich jemand zu Bett gebracht haben, aber ich träume in der restlichen Nacht immer wieder davon, wie ich sehe, dass John McPherson seinen Pyjama anzieht, um dann in den Tod zu springen und sich selbst zu strangulieren.

Als ich am nächsten Morgen erwache, ist mein erster Gedanke: Warum zieht jemand einen Pyjama an, um sich aufzuhängen? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, wieso John sich erhängen sollte – es gab keinerlei Anzeichen dafür in den Stunden davor. Bald hält es mich nicht mehr im Bett, ich gehe nach unten, stelle fest, dass auch heute der Sturm nicht nachgelassen hat und der Regen immer noch gegen die Scheiben prasselt.

Heute bin ich offensichtlich die Erste, aber außer einem Kaffee bringe ich nichts hinunter. Niemand sonst lässt sich blicken. Es ist bis auf den Dauerregen und James, den ich einige Räume weiter arbeiten höre, sehr stil. Bis zu jenem Augenblick, an dem ich plötzlich hochschrecke. Ich habe ein Geräusch gehört, dass ich nicht zuordnen kann, ein Art Gedröhne oder Gepolter, völlig abseits der Richtung, in der der Butler aktiv ist.

Ich befürchte nach der letzten Nacht das Schlimmste, gehe die relativ enge, gewendelte Treppe nach oben. Schon nach wenigen Stufen sehe ich den Körper Tante Susans über mehrere Stufen schräg nach unten liegen. Sie trägt heute wieder die Schuhe mit den hohen Absätzen, aber ein Kleid statt dem Rock, registriere ich. Aber als ich näher komme, sehe ich, dass der Winkel, den ihr Hals im Vergleich zum Körper einnimmt, unmöglich ist.

Ich fühle ihren Puls, weil sie völlig bewegungslos daliegt und finde nichts. Nein, schreit es in mir, nein – nicht schon wieder! Ich denke an mein autogenes Training, versuche, eine Panik zu vermeiden, gehe nach dem ersten Schock weiter nach oben, sehe fünf Stufen oberhalb ihres Körpers auf der schmalen Innenseite der Treppe einen schwarzen, dünnen, ausgezogenen Streifen auf dem glatten Stein.

Es sieht so aus, als wäre sie die Treppe hinunter gegangen, wäre mit ihrem Bleistiftabsatz falsch aufgetreten, ausgerutscht und gestürzt. Sie muss sich dabei den Hals gebrochen haben. Jetzt gibt es schon die zweite Tote, durchfährt es mich, als ich unten die Halle durchquere und den Gang zur Küche nehme. Ich sage James, dass ich sie gefunden habe und dass wir dringend die Polizei anrufen müssen.

Der Butler versteht sofort, geht die Treppe hoch, während ich versuche, zuerst mit dem Festnetztelefon, dann mit dem Mobiltelefon durchzukommen. Aber mein Mobiltelefon, welches ich am Vorabend in der Halle hatte liegen lassen, zeigt keinen Empfang und das Festnetztelefon in der Halle ist einfach tot, kein Ton dringt aus der Muschel, als ich abhebe.

James ist bald zurück, Iain McPherson folgt ihm. Die beiden haben die Tote wie John am Abend zuvor in das Kühlhaus des Anwesens gebracht. Ich erzähle meinem Onkel meine Vermutung, während der Butler nach dem Schlossherrn sehen will. Bald kommt er mit meinem Großvater zurück, der auch heute wieder ziemlich weg getreten scheint.

Wir beraten, was zu tun ist. Ich mache den Vorschlag, noch einmal die Brücke bei Tageslicht zu kontrollieren und lasse mir vom Butler einen Lageplan des Anwesens geben. Es gibt neben der Straße, die ich gekommen bin und wo die weggerissene Brücke war, noch einen Fußweg durch das Hochmoor, der auf der Skizze eingezeichnet ist. Aber es handelt sich um einen Weg von mindestens 35 Meilen zum nächsten Dorf. Dafür würde ich bei diesem Wetter mehr als 8 Stunden brauchen.

So mache ich mich Richtung Brücke auf, ersuche Onkel Iain, auf die anderen einzigen noch lebenden Personen im Haus aufzupassen. Ich fahre mit dem Wagen die Straße zurück, es schüttet weiter und dunkelgraue, niedrig hängende Wolken jagen über einen Himmel, der selbst einfärbig grau, ohne Struktur ist. Ich könnte nicht einmal sagen, wie spät es ist, es ist nicht erkennbar, wo sich die Sonne am Himmel befindet.

Schon einige hundert Meter vor der eigentlichen Brücke kann ich schon erkennen, dass sie nicht mehr da ist. Statt des leichten Bogens mit den beidseitigen Geländer ist – nichts mehr. Ich bremse den Wagen direkt davor ab, steige aus – sofort bläst mir der starke Wind den Regen direkt ins Gesicht, in die Augen.

An der Stelle befindet sich nichts mehr, was auf eine Brücke hindeuten würde. Erkennbar sind höchstens noch die Stellen, wo die Balken auflagen und verbogene Teile der Befestigung, aber sogar hier hat das Wasser schon ganze Arbeit geleistet. Die ganze Brücke fehlt völlig, wie von Geisterhand weggerissen. Ich überlege kurz, ob ich springen könnte, aber der dunkelbraune, schlammige Fluss, der das Bett völlig ausfüllt, sieht sehr bedrohlich aus, hat eine starke Strömung, in die ich nicht geraten möchte. Außerdem ist er mindestens 15 Fuß breit – dazu müsste ich schon viel besser in Weitsprung sein.

Also zurück, es hat keinen Sinn, denke ich, während mir die Regentropfen über das Gesicht laufen und ich wegen der Nässe zu zittern beginne. Ich wende den Wagen, fahre zurück. Als ich zitternd und frierend anklopfe, öffnet mir aber niemand – ich klopfe umsonst, das Tor ist fest verschlossen.

Ich gehe um das Haus, es wird schon finster, obwohl erst früher Nachmittag ist. Von außen sehe ich auch kein Licht brennen, ich frage mich, was geschehen ist. Auf der Rückseite des Hauses gibt es eine kleinere Türe, ein Pforte mit einem unvergittertem Glasfenster daneben. Ich denke einen Moment darüber nach, was mein Großvater sagen wird, wenn ich sein Fenster einschlage, nur weil alle schlafen. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit, nehme einen großen Stein, schmettere ihn gegen die Scheibe.

Das Geräusch hallt trotz des peitschenden Regens und des Storms sehr laut, füllt meine Gedanken für einen Moment aus. Ich breche die Scherben, die noch in der Scheibe stecken, heraus, lasse sie auf den weichen, moorigen Boden fallen. Hinter mir sehe ich Blitze zucken, dann grollt Donner in sehr kurzer Abfolge. Ein Gewitter muss direkt über dem Anwesen sein.

Dann steige ich durch das Fenster ein, stehe auf einem finsteren Gang, der durch kein einziges Licht aufgehellt wird. Mist, und keine Taschenlampe mit! Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Trotzdem gehe ich weiter, taste mich entlang der Mauer. Ich finde mehrere Öffnungen seitlich, erfühle Türgriffe. Aber alle Türen sind versperrt, ich kann keine Riegel oder Schlüssel an ihnen finden.

So gehe ich geradeaus weiter, um weiter in das Innere zu gelangen. So viel ich weiß, sind hier im Erdgeschoß im hinteren Teil des Gebäudes die einst zahlreichen Angestellten untergebracht gewesen. Ich hatte vor langer Zeit einmal hier gespielt und war vom damaligen Butler – ein düsterer, großer Kerl mit einem fürchterlichen Akzent – vertrieben worden. Irgendwo hier muss es einen Durchgang zur Haupthalle geben, erinnere ich mich.

Tatsächlich finde ich nach mehreren Biegungen im Gang einen schmalen Spalt Licht unter einer der Türen. Aber auch diese Türe ist versperrt. Verdammt, so nahe und doch keine Möglichkeit, durchzukommen! Jetzt ist mir alles egal, ich bearbeite die Türe, merke, dass sie schon sehr altersschwach ist und das Schloss im Türstock von Holzschädlingen angegriffen sein muss.

Bald höre ich ein knirschendes Geräusch, so, wie wenn etwas brechen würde. Ich werfe mich noch einmal mit meinem ganzen Gewicht dagegen und falle – von meinem eigenen Schwung getrieben – in einen schwach beleuchteten Gang hinein, kann mich gerade noch halten. Dieser Gang kommt mir – mit seinen Ritterrüstungen und mittelalterlichen Waffen an den Wänden – bekannt vor. Ich erinnere mich, dass ich Großvater gefragt hatte, ob all diese Ritter Kinder gewesen wären, weil die Rüstungen so klein aussahen.

Ich weiß jetzt, dass ich nur mehr geradeaus gehen muss, um die Haupthalle zu erreichen. Als ich sie betrete, stellen sich meine Haare im Nacken auf. Das, was ich sehe, erinnert an einen Kampf – der große Tisch ist umgeworfen, mehrere der Sessel sind zersplittert und zerbrochen. Der große Wandteppich der Halle liegt am Boden. Als ich ein Stück davon anhebe, sehe ich einen Schnitt, der durch das Material geht.

Ich blicke zur Wand hoch, wo das heilige Schwert des Clans hing – dort ist nur mehr die Form des Zweihänders erkennbar, aber das Schwert selbst ist verschwunden. Was hat sich hier in den wenigen Minuten, die ich weg war, abgespielt? Ich versuche, den Tisch wieder aufzustellen, aber er muss aus massiver Eiche sein, er ist viel zu schwer. Als ich stattdessen auf die Unterseite blicke, sehe ich auf dieser Seite eine Blutlache.

Während ich noch suche, nehme ich Geräusche war, die wie unterdrücktes Stöhnen klingen. Die Geräusche kommen aus der vorderen Halle. Ich wünsche mir jetzt eine Waffe in der Hand, aber derjenige, der die Geräusche von sich gibt, klingt nicht sehr gefährlich. So öffne ich vorsichtig die Schiebetüre, bin auf alles gefasst. Aber nicht auf den Anblick, der sich mir jetzt bietet.

Einer der großen, schweren Schränke seitlich in der Eingangshalle ist offen, dabei liegt Onkel Iain. Seine Hose ist am rechten Oberschenkel abgerissen, er hat einen Verband um ihn gewickelt und ihn abgebunden. Der Verband ist durch und durch mit Blut getränkt. Das Rot sticht trotz der schwachen Beleuchtung in meine Augen. Es ist die einzige intensive Farbe im Raum, fast schon unnatürlich, grell.

Iain McPherson stöhnt, scheint aber nicht Bewusstsein zu sein. Ich knie neben ihm nieder, wage es nicht, den Verband abzunehmen. Er scheint jedenfalls nicht in Lebensgefahr zu sein, obwohl er viel Blut verloren hat. Sein Puls geht gleichmäßig. Ich sehe, dass sich im Schrank Mullbinden befinden, wickle noch mehr um sein Bein, hoffe, dass dies reicht, um seine Blutung endgültig zu stillen.

Ich gehe in die Küche, suche nach Riechsalz, finde aber keines, frage mich, wo James ist. Ausgerechnet jetzt ist er spurlos verschwunden. So gehe ich zurück in die Eingangshalle, entschlossen, meinen Onkel mit anderen Mitteln aufzuwecken. Aber ich kann sehen, dass er zumindest halb bei Bewusstsein ist. Was hat ihn so schockiert? Nur die Tatsache, dass er verletzt ist?

Ich kann jetzt aber sehen, dass er die Augen offen hat, mich ansieht. Ich frage ihn: „Was ist passiert? Wo ist James? Wo ist das Schwert der McPhersons?“. Aber dann denke ich daran, dass ich zu viele Fragen auf einmal gestellt habe. Ich beginne von vorne, als er mich – scheinbar ohne zu verstehen – ansieht: „Was ist passiert?“

Er schüttelt nur schwach den Kopf, sagt: „Wir saßen am Tisch, James und ich, haben diskutiert, was wir tun können. Vater hat Schlaftabletten genommen, schlief in seinem Zimmer. Plötzlich…“
Er stockt, beginnt von vorne: „Plötzlich hatte ich den Eindruck, der Boden würde beben, gleichzeitig hörten wir ein so deutliches, durchdringendes Heulen. Der Tisch fing an zu vibrieren, wurde wie von Geisterhand hochgehoben, dann umgeworfen, verschoben. Wir konnten gerade noch auf die Seite springen.

Dann wurden Sessel hochgerissen, fielen auf den Boden, zerbrachen, wurden wieder hochgerissen, prallten - wie bewusst gesteuert - auf uns. James wurde mehrmals im Gesicht getroffen, blutete. Als ich schon glaubte, dass es nicht schlimmer kommen könnte, flog die Türe der Eingangshalle auf, das Licht flackerte, wurde sehr schwach, wie von etwas sehr Dunklem aufgesogen, ausgelöscht. Es stand plötzlich im Raum, uns gegenüber.“

Onkel Iain beginnt zu husten, sein Gesicht zeigt den Ausdruck von Grauen. Ist er so ein guter Schauspieler? Ich habe noch nie an Geister geglaubt, aber das jetzt – ich frage mich, ob ich meine Skepsis noch aufrecht halten sollte. Ich muss mehr wissen, schüttle den Mann, schreie ihn an: „Was? Was stand im Raum?“

„Es – das absolut Böse… Ich glaube, es ist Mordred der Blutige, der Fluch der McPhersons.“
Dabei fällt sein Kopf zurück, er beginnt wieder zu stöhnen, es sieht so aus, als hätte er das Bewusstsein verloren. Ich versuche, ihn wieder zu sich zu bringen, schlage ihm mit der flachen Hand auf die Wange.

Mordred der Blutige? Wer ist das? Ist das der Schlächter aus dem Mittelalter, der das halbe Dorf, das den Nachbarn der McPhersons gehört hat, ausgerottet hat?
Das, was Onkel Iain jetzt sagt, ist so leise, dass ich es gerade noch hören kann: „Er kam auf uns zu, dann hielt er die Hände hoch, breitete sie aus, hielt sie auf. Ich hörte ein eigenartiges Singen, sah gleichzeitig, dass hinter mir ein helles Licht den Raum erhellte.

Ich wagte es, mich umzudrehen, während James mir gegenüber stand. Das Schwert der McPhersons wurde von der Wand gezogen, während es gleichzeitig leuchtete. Es schwebte zu ihm, zu Mordred, plötzlich hielt er es in der Hand. Er kam auf mich zu, ich konnte nicht mehr vollständig ausweichen. Er traf mich am Bein, ich fiel hin, musste mit ansehen, dass er James gepackt hatte und mit sich zog, dann mit ihm durch die geschlossene Türe verschwunden war.“

Onkel Iain sieht mich noch einige Sekunden an, dann sinkt er zurück, ich glaube, er ist wieder bewusstlos. Ich kontrolliere noch seinen Verband, sehe, dass jetzt kein Blut mehr durch das Gewebe dringt. Ich lasse ihn liegen, um seine Wunde nicht wieder aufzureißen. Dann prüfe ich, ob ich die Spuren finde, die er hinterlassen haben muss – wenn seine Geschichte stimmt. Ich glaube nämlich kein Wort – wieso sollte ausgerechnet jetzt ein Geist der McPhersons auftauchen. Außerdem können die anderen Todesfälle nicht damit zusammenhängen – oder hat sich Großonkel John deshalb umgebracht? Ist Tante Susan gestürzt, weil sie ebenfalls den Geist gesehen hat?

Ich kann es nicht glauben, es muss irgendwelche Spuren geben. Wo ist James? Ich gehe zum Schlafzimmer Großvaters, sehe, dass er in seinem riesigen Bett liegt – daneben eine geöffnete Packung Schlafmittel, so wie Onkel Iain es gesagt hat. Ich schaue noch einmal nach ihm, er liegt unverändert, atmet regelmäßig, mit ruhigen Puls.

Ich suche nach James im Angestelltentrakt, aber ich weiß ja nicht einmal, wo er sein Zimmer hat. Ich finde keine Spur von ihm, finde nur leere, zugige Gänge und Wasserflecken vor. Das Dach muss an einigen Stellen undicht sein, in den Gängen stehen Pfützen, es tropft von oben durch. Immer noch durchzucken Blitze den Abend.

Was ich finde, ist wenigstens eine Taschenlampe – ich hatte schon nicht mehr geglaubt, in Blackstone Manor so etwas auftreiben zu können. Weiterhin keine Spur vom Butler, aber als ich an den Abgängen zu den mehrstöckigen Kellern vorbeikomme, glaube ich für einen Moment ein Geräusch dort unten gehört zu haben.

Mist, denke ich und meine Angst vor den unübersichtlichen Gewölben, in die ich mich einmal als Kind verirrt hatte, kehrt zurück. Eigentlich will ich es unbedingt vermeiden, nach unten zu gehen. Aber ich habe keine andere Wahl – vielleicht ist James dort unten und es ist ihm etwas passiert. Ich öffne die Holztüre, die den Abschluss nach oben bildet und horche – jetzt kann ich nichts mehr hören. Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken, ausgelöst durch die in meine Nase steigende Feuchtigkeit und Modrigkeit, aber auch durch Ungewissheit.

Aber ich bin mir sicher, etwas gehört zu haben, gehe die krummen, knarrenden Holzstiegen hinunter. Hier oben ist der Untergrund moorig, weiter unten fester, die Stufen und ein Großteil des Kellers sind in den Felsuntergrund gehauen. Ich versuche, den Schein der Taschenlampe abzuschwächen, gehe langsam die Stufen hinunter. Bevor ich das erste unterirdische Geschoß erreiche, drehe ich die Lampe komplett ab, um einen eventuellen Lichtschein nicht zu versäumen.

Hoffentlich verirre ich mich nicht. Das Schlimmste ist, dass die Keller so ein Labyrinth bilden, dass ich sehr viel Glück haben muss, um hier überhaupt etwas zu finden. Ich gehe weiter hinunter, erreiche die in den Stein gehauenen Stufen und dann das zweite Untergeschoß. Auch hier sehe ich nichts, nicht einmal einen Schimmer. Vielleicht ist hier überhaupt niemand - oder nur Ratten.

Ich beschließe, bis zum letzten der insgesamt sechs Stockwerke nach unten zu gehen. Als ich auf Höhe des fünften Geschosses bin, höre ich wieder ein – dieses Mal – sehr schwaches Geräusch, auf der rechten Seite des Kellers. Aber ich sehe keine Helligkeit. Ich bleibe einen Moment bewegungslos stehen, glaube für einen Moment ganz leise eine Art regelmäßiges Poltern, Schritte zu hören – von oben.

Aber ich kann mich auch getäuscht haben, weil ich so plötzlich nichts mehr hören kann. Es ist hier so still, dass ich schon glaube, mein eigenes Blut in meinen Ohren hören zu können – und die wahrscheinlich eingebildeten Geräusche waren ziemlich niedrig über der Hörschwelle.

So gehe ich entlang der unregelmäßig behauenen, tunnelartig wirkenden Wände, von denen immer wieder Abzweigungen wegführen. Ich betrete keine von ihnen, vielleicht finde ich nicht mehr zurück, gehe bis zum Ende des Gangs. Wieder regelmäßige Geräusche, weit hinter mir – reell oder nur eingebildet?

Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun, hier am schmalen Gang bin ich ohne Deckung. Ich setze meine Füße in Bewegung, beeile mich, ans Ende zu kommen, während der schmale Strahl der Lampe über Gestein tanzt, Schatten malt. Links kommt jetzt eine Verbreiterung des Gangs, dann zweigt ein kleinerer Weg ab. Ich leuchte dort hinein, sehe mit Erstaunen mehrere neu wirkende Werkzeuge – Spaten, Schaufel, Hacke und Pickel - stehen.

Einige der Werkzeuge sind umgefallen, liegen am Boden, während daneben Steine, Felsbrocken und Staub am Boden liegen. Irgendwie sieht die Stelle sehr frisch aus, als ich näher leuchte, ist das Gestein an dieser Stelle viel heller, nicht so staubbedeckt. Ich frage mich, ob jemand hier versucht, den Keller zu erweitern. Aber wozu? Welchen Sinn macht eine Kellererweiterung, wenn er sowieso fast komplett leer ist?

Ich leuchte in die andere Ecke der Nische, als ich plötzlich ein verdächtiges Geräusch hinter mir höre. Ich versuche, mich zu drehen, dann spüre ich ein enges Band, das sich um meinen Hals legt. Ich bin so erschrocken, dass ich die Taschenlampe fallen lasse, die am Boden vor mir einen Kegel aus Licht in den Staub wirft.

Aber ich kämpfe um mein Leben, bekomme das in entsetzlicher Klarheit am Rande mit. Jemand steht hinter mir, zieht das Band um meinen Hals enger und enger. Ich würge, huste, was mich endlich wieder zurückbringt. Ich schwinge mein rechtes Bein nach hinten, trete zu, so stark ich kann, treffe jemanden in den Schritt, der laut aufheult.

Als er loslässt, schaffe ich es noch, einen Tritt mit dem Knie direkt auf sein Kinn anzubringen, indem ich mich drehe und ihn zurückstoße. Endlich hat sich mein Training ausgezahlt… Wer immer mich erwürgen wollte, liegt am Boden, während ich um Luft kämpfe und mein Herz bis zu meinem Hals zu klopfen scheint.

Endlich finde ich wieder die Kraft, mich nach der Taschenlampe zu bücken und die Person – ich glaube kaum, dass es ein Geist ist – anzuleuchten. Es ist Iain McPherson. Ich fasse es nicht, wieso wollte er mich umbringen? Sein Bein sieht immer noch genau so aus wie vorher, wie kann er es nach unten geschafft haben? Und was mache ich jetzt mit ihm?

Als ich an einen der Wände einen eisernen Ring sehe, weiß ich, wie ich vorgehen werde. Dazu brauche ich aber auch das Band, mit dem er mich erwürgen wollte. Ich finde es, ein schmales Nylonseil, das aber erhebliche Festigkeit zu haben scheint. Es ist lang genug, um meine Idee auszuführen. Ich zerre meinen lieben Onkel bis zu der Stelle, wo der eiserne Ring in geringer Höhe angebracht ist.

Dann fessle ich seine Handgelenke zusammen, ihn damit an den Ring. Er kann nicht weg, jetzt muss ich ihn nur mehr zu sich bringen. Ich trete ihn, an die Stelle, wo sich der Verband befindet. Iain reagiert nicht, wahrscheinlich ist die Wunde vorgetäuscht und es gibt keine Geister hier im Gebäude. Aber was soll dann das alles?

Ich trete den Angreifer nochmals, dieses Mal stärker, sehe, dass er die Augen aufschlägt. Ich schreie ihn an, mir jetzt alles egal: „Verdammt, was soll das? Warum wolltest du mich umbringen?“
Er sieht mich – so meine ich zumindest – verächtlich an, spuckt dann nach mir, verfehlt mich.

So trete ich ihn noch einmal, dieses Mal in den Schritt. Er heult auf, bäumt sich auf, aber die Nylonschnur hält. Ich schreie wieder: „Was ist los – ich möchte Antworten!“
Er schüttelt den Kopf, sagt leise, verächtlich: „Von mir erfährst du nichts.“
Ich frage mich, was ich als Druckmittel verwenden kann, aber mir fällt nichts ein. So sage ich: „Hast du sie alle umgebracht? Hast du Großonkel John aufgehängt? Hast du Tante Susan die Stufen hinunter gestoßen? Wo ist James? Verdammt, antworte!“

Er schweigt weiter, bis ich sage: „Ich glaube, ich lasse dich jetzt hier und gehe zu Großvater, erzähle ihm alles. Du bist sowieso erledigt – niemand wird dir glauben, dass du nicht hinter all diesen Vorkommnissen steckst.“
Ich bin, als ich mich abwende, sehr überrascht, dass er plötzlich sagt: „Warte, ich erzähle es dir…“ Wieso jetzt plötzlich – will er nicht, dass ich Großvater das, was er gemacht hat, erzähle? Wieso nicht? Mir kommt ein grauenhafter Gedanke, so absurd, dass er schon wieder richtig sein könnte.

„Es gibt keinen Geist des Mordred. James hat mich zur Rede gestellt, weil er mich letzte Nacht in der Nähe des Zimmers seines Onkels gesehen hatte. Er hat mich in die Enge getrieben, mich versucht, zu erpressen. Ich habe ihn mit dem Schwert getötet.“

Nein! schreit es in mir – ich hatte Recht. Aber ich reiße mich zusammen, frage weiter: „Was ist mit John?“
Iain zieht eine Grimasse, sagt dann: „Ja, ich habe ihn betäubt und dann aufgehängt. Aber ich habe Susan nicht auf dem Gewissen – als ich sie töten wollte, ist sie die Stiegen hinunter gestürzt. So wie sie angezogen war, die dumme Närrin.“

Ich schreie ihn an, verliere meine Geduld: „Warum? Warum bringst du drei Menschen um?“
Ich trete ihn wieder, weil ich so sauer bin – er wollte auch noch mich ermorden: „Antworte gefälligst, sonst lasse ich mir noch etwas einfallen!“

„Es gibt einen Schatz – hier in Blackstone Manor, hier im Keller. Ich wollte ihn haben, aber ich wollte ihn für mich alleine. Du warst mir egal, du bist nicht Erbberechtigt. Aber du und James – ihr wart zu neugierig.“
Jetzt ist mir klar, was er im Keller wollte und was die Geräte sollen. Ein Schatz? Das kann nicht sein, sonst würde das Haus nicht so aussehen, nicht so verfallen sein. Dieser Dummkopf!
Ich sehe meinen Verdacht bestätigt. Er hat für fast nichts mehrere Menschen am Gewissen – und damit ist mir klar, wer der Drahtzieher der ganzen Sache ist: Mein eigener Großvater, auch wenn er jetzt angeblich schläft.

Noch weiß ich es nicht endgültig, aber es kann nur so gewesen sein: Großvater spürt sein Ende kommen und beschließt, seinem Bruder und seiner Tochter das – wenngleich magere - Erbe auf eine sehr direkte Weise vorzuenthalten. Ich kannte ja die Spannungen, eigentlich müsste man ja sagen, Kriege zwischen meinem Großvater und seinen Verwandten. Die Familienmitglieder hatten einander die letzten Jahrzehnte zur Hölle gemacht. Sie sollten daher nichts erben und um seinen Sohn dazu zu bringen, sie zu beseitigen, erfindet er die Geschichte vom Schatz, den es nicht gibt. Für das schäbige und verfallene Haus allein wäre Iain nicht dazu bereit gewesen.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

ganz nett ...

Luziefers Freund (30.10.2006)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De