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5 Seiten

Die Harley

Schauriges · Kurzgeschichten
© Circe19
Die Harley

"Ich bin stark", widersprach Tim und riss sich los. Er warf seinem Vater einen bösen Blick zu und bestieg die Maschine. Der Motor röhrte auf, schwarzer Qualm kräuselte sich aus dem Auspuff und ein eigenartiger Schimmer huschte über den Chrom.
Ebbo hob beruhigend die Hand; sein Gesicht verzerrte sich. Er fürchtete die Harley, fürchtete ihren Klang und das garstig glühende Auge ihres Frontstrahlers. Tim war 19 - gut gebaut aber kaum stark genug, den Ofen auf der Bahn zu halten. Die Angst, sein Sohn würde unter dem kreischenden Metall eines kenternden Motorrads zermalmt werden, hielt ihn gefangen, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er schüttelte den Kopf. "Es ist zu gefährlich … lass sie stehen, mein Sohn!"
"Dein Sohn?" Er lachte. "Mum hat's mit vielen getrieben! Verpiss dich!" Tim wandte sich ab, gab Gas und schoss davon, ehe Ebbo einschreiten konnte.
Der alte Mann stand da, verfolgte, wie die Maschine außer Reichweite geriet und ließ sich schließlich erschöpft ins Gras fallen. Tränen netzten seine Wangen. Sein Gesicht war gerötet, eingefallen und ein Bart, der einer dringenden Rasur bedurfte, zierte sein Kinn. Er verbarg braune Augen in seinen Händen, weinte, kämpfte an gegen Tims Worte. Hinter seiner Stirn erschienen die Augen seines Sohnes - blau und klar.
Tim hatte ihn schwer getroffen, ihn verletzt. Angst hatte seine Stimme brechen, seinen Mut sinken lassen. "Diese Harley … nein", korrigierte er, "dieses Monstrum … es … verändert ihn!" Er ballte die Hand zur Faust, ließ sie hart auf den Trottoir krachen. Zorn ergriff von ihm Besitz, verzerrte seine Züge zu einer garstigen Grimasse.
Er liebte Tim, liebte seine Mutter, liebte die Familie, scherte sich weder um Anastasias schmutzige Vergangenheit noch um Fremde, die klingelten und nach ihr verlangten, ihm einen Fünfziger in die Hand drückten und zwinkerten. Mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen.
Er war glücklich, kümmerte sich um Tim, versuchte nicht, Anastasia zu zwingen, ihm zu verraten, wie sie ihr Geld verdiente. Immerhin glaubte er, es zu wissen, verdrängte aber dieses Wissen, in der Hoffnung, es sei einzig Produkt seiner Fantasie.
Bis zu seinem 18ten Geburtstag hatte Tim es abgelehnt, Fahrstunden zu nehmen oder gar den Führerschein zu machen. Doch dann hatte Anastasia diese Harley gekauft, versprochen, sie gehöre ihm, wenn er sowohl die theoretische als auch die praktische Führerschein-Prüfung bestehen würde. Fortan hatte Tim der Ehrgeiz gepackt, hatte sich sein Schreibtisch mit Prüfbögen gefüllt. Tag für Tag war er in die Garage gegangen, hatte die Harley - von einem weißen Laken bedeckt - angestarrt und …
Ebbo erschauerte. Jedes Mal, wenn der Junge einen Blick auf die Harley geworfen hatte, schien er verändert. Aus den einst vollen Lippen war nach zwei Monaten ein schmaler Strich geworden, die einst stumpfen Augen glühten nun regelrecht, seine einst füllige Figur wirkte ausgezehrt und dünn.
Anfangs war er der Meinung gewesen, es sei Vorfreude, Tim würde Taten sprechen lassen, sich für eine Sache begeistern. Erst später hatte er bemerkt, dass seine Vermutungen nicht nur zutrafen, sondern schwerer wogen, als er zu hoffen gewagt hatte. Tim war nicht fasziniert, sondern fanatisiert. Er war besessen … besessen vom Geist der Harley.
Sein Magen knurrte. Ebbo erhob sich, trat ins Haus, schmierte sich ein, zwei Brote und setzte sich ins Wohnzimmer. Weder rauchte er noch sah er Fern. Er saß nur da, kaute trockenes Brot und wartete. Wartete auf Anastasia, wartete auf Tim, wartete auf … die Harley … er spielte mit dem Gedanken, Tim erneut zu Rede zu stellen. Er musste ihn überzeugen, dass …
Vor seinem inneren Auge erschien ein grausames rotes Glühen, erstrahlte Chrom und ertönte ein dumpfes Röhren. Das Geräusch schwoll an, wuchs zu einer Kakophonie biblischen Ausmaßes heran, eine Sintflut, die ihn verschlang, seinen Körper in unterirdische Schwärze zog …
Er fuhr auf, stellte seine karge Mahlzeit weg und fasste den Entschluss, Anastasia zu Rate zu ziehen. Zwar hatte er ab und an Andeutungen gemacht, sie auf Tims Verhalten hingewiesen, ihr geraten, die Harley zu verkaufen und das Geschenk zurück zu nehmen, doch sie hatte nur erklärt, sie sehe dazu keinen Anlass. Ebbo war verstummt, hatte sich zurück gehalten. Inzwischen erachtete er das als einen Fehler. Einen Fehler, den er korrigieren sollte.
Nach zwanzig Minuten erreichte er das Motel, bei dem Anastasia angestellt war. Es war das erste Mal, dass er es mit eigenen Augen sah. Ihm waren einzig Adresse und Name des Motels bekannt - Lucie's. Er parkte den Wagen, erkundete unsicher das Gelände und betrat nach weiteren zehn Minuten das Motel.
Am Tresen empfing ihn eine leicht bekleidete Dame, deren starkes Parfum ihn zwang, kürzer zu treten. Er senkte den Blick, schob die Hände in die Taschen und brachte schließlich heraus: "Ich bin auf der Suche nach Anastasia!"
"Sie ist beschäftigt", entgegnete die Dame und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Brüste hoben sich aufreizend und Ebbo fühlte, wie die Präsenz der Frau ihn zunehmend verunsicherte. Seine schlimmsten Befürchtungen sollten sich bestätigen.
"Besteht die Möglichkeit, dass ich für einen Augenblick mit Anastasia unter vier Augen reden kann?"
Die Mätresse grinste anzüglich. "Schon", erwiderte sie, "hast du einen Termin?"
Ebbo wandte sich zum Gehen. Sein Herz klopfte laut, Schwindel überkam ihn. "Nein", stammelte er, verließ Lucie's - das Bordell - und fuhr nach Hause. Es hatte bereits zu dunkeln begonnen, der Schleier der Nacht breitete sich über die Stadt, verschlang Häuser, Straßen und Menschen. Ebbo erinnerte sich an seinen Traum: eine düstre See, deren Sog ihn erfasste und in die Tiefe zog.
Seit Tagen hatte er kaum geschlafen. Anastasia war eine Hure, Tim den Klauen eines Dämons verfallen. Sein Leben ging den Bach runter. Ihm wurde bewusst, dass er eine Lüge gelebt, eine Scharade abgezogen hatte. Er war nicht glücklich. Er war unglücklich. Tim war nicht sein Sohn! Seine Frau fickte andere Männer, lutschte ihre Schwänze und schluckte ihren Samen! Seit 19 Jahren!
Auf einmal öffnete sich ein rotes Auge, starrte ihn direkt an. Reifen quietschten, Hupen heulten auf und Ebbo erschrak. Im letzten Moment stieg er auf die Bremse und brachte den Wagen ächzend zum Stehen. Glas splitterte, Schmerz explodierte in seinem Gesicht und eine Art Schürhaken drosch auf seine Brust ein. Schatten krochen heran, drohten, ihn in Finsternis zu stürzen, doch er bäumte sich auf, entwand sich des Gurtes und stieß die Türe auf.
Auf Händen und Knien kroch er aus dem Wrack seines Autos, wurde sich gewahr, dass er nicht der Harley, sondern einer roten Ampel begegnet war. Es stank nach Benzin, Geschrei erhob sich, Hände versuchten, ihn zu bändigen, doch er befreite sich, stürzte davon. Er lief. Blut füllte seinen Mund, lief über Gesicht und Hände, mischte sich mit kaltem Schweiß. Sein Herz schlug laut und schnell, schien seine Brust zu sprengen, doch Ebbo rang die Schmerzen nieder, verdrängte sie, wie er 19 Jahre lang die Lüge seines Lebens verdrängt hatte. Erfolgreich.
Er erreichte sein Zuhause; ihr Zuhause; Tims, Ebbos und Anastasias Zuhause. Inzwischen war es gänzlich dunkel geworden. Dräuende Schatten verwandelten das Haus in den Palast eines schwarzen Fürsten. Das Garagentor stand offen. Drinnen kauerte eine hagere Gestalt, schien zu warten, bis Ebbo sie erreicht hatte.
"Tim", schloss der Alte. Seine Stimme zitterte. Sein Atem - ein kehliges Rasseln. Statt Erleichterung erfüllte ihn Zorn. "Tim", stellte er fest. Diesmal erhob sich Ärger in seiner Stimme.
Tim erwiderte nichts. Er stand steif im Schatten der Garage. Chrom blitzte auf.
"Steig ab", forderte ihn Ebbo auf. "Sie ist gefährlich!" Er näherte sich Tim bis auf wenige Meter.
Der Dämon hob die Lider. Rotes Licht überflutete die Einfahrt. "Ich bin stark", flüsterte Tim. Donner schwoll an, schwarzer Qualm quoll aus zitternden Rohren und umspülte gleißenden Chrom. Tim gab Gas. Die Harley brüllte. Einem Raubtier gleich warf sie sich auf Ebbo und schoss aus der Garage.
Dieser warf sich zu Boden, entging der Attacke nur knapp. Der Asphalt zerfetzte seine Jeans, zertrümmerte seine Knie, doch Ebbo ignorierte den Schmerz. Bebend erhob er sich. Die Harley wendete. Suchend tastete der Frontstrahler die Straße ab. Sein Schein fiel auf Ebbo.
"Verpiss dich", schrie Tim. Seine Stimme klang blechern und Gesicht wie Mimik waren wie zu einer Maske erstarrt.
Ebbo erschrak. Tims Lippen hatten sich nicht bewegt. Nicht er, sondern die Harley hatte gesprochen. Er zögerte. "Tim", fragte er schließlich. Erneut waren Zorn und Ärger Angst gewichen. Sein Adrenalin verließ ihn, machte zahllosen Schmerzen Platz, die ihn zu Boden zwangen. Er sank auf die zerstörten Knie, spürte krumigen Teer, spitze Steinchen, die sich in sein Fleisch gruben. Er schmeckte salziges Blut, geriet ins Taumeln.
Reifen quietschten. 0,4 Tonnen setzten sich dröhnend in Bewegung. Ebbos Sicht schwand. Er nahm einen stetig wachsenden Schemen wahr, stemmte sich mit aller Kraft in die Höhe und sprang. Etwas sehr Hartes streifte sein Bein, brach es und wirbelte ihn empor. Blind suchte Ebbo nach Halt. Seine Nägel kratzten über Lack, Stoff und schließlich Fleisch. Ein Schrei erhob sich. Erst dann schlug der Alte auf dem Asphalt auf. Wieder zerbarsten Knochen, ihm schwanden die Sinne …
Funken sprühten, als Tim die Kontrolle über das Motorrad verlor. Aus einem Loch, das einst ein strahlend blaues Auge gewesen war, schoss Blut. Er stürzte. Sein ungeschützter Schädel zerbarst wie eine Wassermelone und die kenternde Harley begrub ihn unter sich. Er war tot, noch bevor ihr Gewicht seine Eingeweide zermalmte.
Ebbo schrie.
Zitternd zwang er sich auf ein Bein, stolperte diesem … Ding entgegen. Diesem Ding, das Anastasia mit ihrem Hurenlohn bezahlt hatte! Er hob die bebende Faust, bereit, dieses Etwas eigenhändig zu vernichten und … zögerte.
Sie faszinierte ihn. Er lächelte. Schmerz und Wut wichen. Ruhe kehrte ein. Er richtete die Harley auf, reinigte sie von Blut und Gedärm und bestieg sie. Sorgsam umfasste er den Lenker. Als seine Finger den kalten Chrom umschlossen, spürte er, wie eine Woge dichtester Schwärze über ihn herein brach, ihn verschlang und in die Tiefe zog. Er wollte schreien … doch seine Brust füllten sich mit Finsternis.
Als er die Augen öffnete, glänzten sie.
 
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Kommentare  

tja, joke war mal wieder schneller... ich schließe mich ihm in jedem punkt, abgesehen, vom buchtipp, da ich es nciht kenne, an;)
lg darkangel


darkangel (20.09.2007)

ich habe die geschichte jetzt zuende geelesen und muss sagen, das ihr bitterer Schreibstil und ihr Klang mir gefallen, jedoch der Ungefallen überwiegt, da das Thema - die Lebenslüge zwar spannend eingeflochten ist, sich jedoch in Blut und Gemetzel ertränkt. Verstehe mich nicht falsch, ich beführworte Blut und Gemetzel in Geschichten, doch muss das auch integer sein. Ist es bei dieser Geschichte leider nicht, da völlig unpassend zum hauptsächlich behandelten Thema. Es ist zu zusammenhanglos mit dem supernatural Part, der auch eindeutig zu kurz kommt...
Mein Vorschlag: Lese die Geschichte "Onkel Ottos Lastwagen" von Stephen King, da findest Du ein gutes Beispiel wie man so etwas gut miteinander verbindet (Lebenslüge/belebte Maschine).

Auch die Lebenslüge ist mir zu dick aufgetragen, da Neunzehn Jahre dafür etwas zu happig sind. Ein Vorschlag: verkürze ihren Zeitraum.

Der Schreibstil allerdings verdient hohes Lob! Du schreibst deutlich, weist eine traurige, beklemmende Atmosphäre aufzubauen und bleibst dieser durchgehend treu. Nicht schlecht.
Trotzdem drücke ich im Geiste den "hat mir nicht gefallen" Button.
Überarbeite doch mal den Handlungsablauf, denn mit der einen oder anderen Alternation des Ablaufes und dem erklären der Zusammenhänge kann ich mir gut vorstellen den grünen Knopf zu drücken. So aber sage ich: Toll geschrieben, Thema aber zu abstrus umgesetzt.


Killing Joke (16.09.2007)

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