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3 Seiten

Ein Aufruf gegen die Bequemlichkeit

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© janevil
Informiert, aber kein bisschen weise

In der Ära des Internets geben die Medien einem breiten Publikum die Möglichkeit, sich jederzeit über das Geschehen an praktisch jedem Ort der Welt zu informieren. Aber was ist, wenn das Publikum nicht vermag, sich in der Informationsflut zurechtzufinden? Wie kann es die berühmte Maxime Immanuel Kants „Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ in die Tat umsetzen?

„Oder hast du vergessen, dass Ruhe, dass der Tod sogar dem Menschen lieber seien als die freie Wahl zwischen Gut und Böse? Gewiss ist für ihn nichts so verführerisch wie die Gewissensfreiheit, nichts aber peinigt ihn auch mehr.“ Mit diesen Worten lässt Dostojewski seinen Grossinquisitor in der gleichnamigen Parabel Kritik an Christus und dem Weg, den dieser eingeschlagen hat, üben. Indem Christus nämlich den Menschen die Entscheidung zwischen Gut und Böse aufbürdete, hat er selbst den ersten Schritt getan, sein Reich zu zerstören. Heute, in einem Zeitalter, in dem die Informationsfreiheit oft als Heilslehre präsentiert wird, lässt sich diese Kritik ungefähr so auf die Medien ummünzen: „Oder habt ihr vergessen, dass selbst die Unwissenheit dem Menschen lieber ist, als die freie Wahl zwischen den Medienwirklichkeiten? Gewiss ist für ihn nichts so verführerisch wie die Informationsfreiheit, nichts aber peinigt ihn auch mehr.“

Die Medien setzen mit ihrer Vielfalt und Informationsfreiheit ein mündiges Publikum voraus, das sich der Freiheit ebenso selbstsicher bedient, wie es eben die Medien tun. Was ist nun aber diese Mündigkeit? Immanuel Kant hat es einst so formuliert: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Oder, wie es Herbert Schädelbach präzisiert: „So können wir Mündigkeit genauer als vernünftige Selbständigkeit im Denken und Erkennen bestimmen, die durch Aufklärung möglich wird.“ Das heisst also: Ein mündiges Medienpublikum erkennt, was es wissen will und auch was es wissen soll. Es weiss, wo es Informationen bekommt und wer deren Urheber ist. Es weiss, dass die Medien die Wirklichkeit Ausschnitt um Ausschnitt reproduzieren und sich dabei der Bilder und Geschichten bedienen, die sich einerseits gut verkaufen lassen und andererseits der redaktionellen Linie entsprechen. Und es weiss auch, dass die Medien selber immer mehr zur Geschichte, zur Botschaft werden. Denn schon die Präsentation, die Aufmachung des jeweiligen Mediums entscheidet, welche Geschichte wie positioniert und damit rezipiert wird. Verfügt das Publikum nun über das nötige Hintergrundwissen und Reflexionsvermögen, ist es erst fähig, sich einerseits mithilfe eigener Erfahrungen und andererseits aufgrund der Medienberichterstattung und deren Präsentation ein eigenes Bild der Wirklichkeit zu machen.

Das Wissen um solche Hintergründe und Vorgänge erreicht das Publikum erstens durch Handeln und zweitens durch stetes Nachdenken und Hinterfragen der eigenen Handlungen sowie der Handlungen anderer. „Mündigkeit“ ist in diesem Sinne als Prozess zu verstehen, der höchstwahrscheinlich nicht abgeschlossen werden kann. So haben denn auch diese Worte Kants durchaus heute noch ihre Berechtigung: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Auch nach dem chronologischen Abschluss des Aufklärungszeitalters besteht Aufklärungsbedarf, denn unser Zeitalter ist ein Zeitalter des Verschlingens: Wir verschlingen Medienrealitäten, als wären sie Junkfood. Botschaften, Vorstellungen und Geschichten werden übernommen, ohne hinterfragt zu werden, vergleichbar mit einer Tüte Chips, die am Abend vor dem Fernseher einfach verschlungen wird. Wir verschlingen Nachrichten und Botschaften, als wären sie absolut und als einzige richtig. Und wir denken noch nicht einmal über unseren Medien- und Informationskonsum nach, wenn sich die Berichterstattung von verschiedenen Medien zu den gleichen Themen grundlegend unterscheidet. Das mag daran liegen, dass oftmals nur ein, und dann auch noch immer das gleiche, Medium konsumiert wird, aber die Bequemlichkeit der Menschen tut das ihrige dazu. So ermöglicht also nicht allein die Fähigkeit des Nachdenkens und Hinterfragens die Befreiung aus der Unmündigkeit, sondern auch der Wille dazu.

Das Publikum ist also bei der Auswahl der „richtigen und wichtigen“ Informationen auf sich allein gestellt. Aber nicht nur dabei, sondern auch bei deren Interpretation. Interpretation erfordert nun aber Anstrengung, da Sachverhalte, Vorgänge und Botschaften analysiert, mit eigenen Erfahrungen und Vorwissen verglichen und beurteilt werden müssen. Die heutige Informationsflut bietet nun aber eine Menge an Wissen an. Jederzeit können wir uns über nahezu jedes Thema informieren. Und so drängt sich schnell die Frage auf, warum man sich anstrengen soll, wenn andere doch schon vorher über dieselben Dinge nachgedacht haben. Max Frischs Worte, gesprochen an seiner Rede vom anlässlich der Solothurner Literaturtage am 10. Mai 1986 „Ein Aufruf zur Hoffnung ist heute ein Aufruf zum Widerstand“ können in diesem Sinne als ein Aufruf zum Widerstand gegen Kants „selbstverschuldete Unmündigkeit“ und damit gegen die Bequemlichkeit verstanden werden. Wir müssen endlich den Mut, aber auch – und zwar ganz besonders – den Willen haben, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen. Der Gebrauch des Verstandes schliesst allerdings auch das Ziehen von Konsequenzen und das Tragen derselben ein. So sind die Menschen erst dann als mündige Bürger und Bürgerinnen zu verstehen, wenn sie fähig und bereit sind, zu ernten, was sie säen. Sie wissen, was sie wissen wollen, und sie wissen, wie sie mit diesem Wissen umzugehen haben. Nur durch selbstständiges Denken und Handeln kann der medialen Verzauberung der Welt und einer Verzerrung der Realität Einhalt geboten werden.
 
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Kommentare  

hm. *bartkratz* nach/vor dieser story kann man gut das "reiz-reaktionsmuster" lesen.
Punkt 1 und 2 sind wahr. unsere wahrnehmungsmaschinerie ist mit zahlreichen filtern ausgestattet (schlüsselreiz, absolute schwelle, soziale faktoren, umweltfaktoren, ).

"Soviel verschiedene Wahrnehmungen und Interpretationen der Wirklichkeit wie möglich zulassen, damit die Mischung aller Wahrnehmungen und Interpretationen eine der Wirklichkeit nicht widersprechende eigene Wahrnehmung und Interpretation ermöglicht." halte ich für problematisch, da ein zu großer eindrang auf die sinne bald die pforten der bewussten wahrnehmung schließt. stichwort reizüberflutung. und ab und an muss man auch der ganzen welt widersprechen.

außerdem wird in den medien - zwangsläufig - NIX so dargestellt oder berichtet, wie es auch tatsächlich der fall ist, denn wie Rolf Kirsch schon sagte, unsere wahrnehmung der realität (dem was unabhängig von uns ISt) wird durch unseren wahrnehmungsapparat verzerrt. im prinzip haben wir also nur indirekten zugang zur realität. anders ist es aber auch nicht möglich (wahrscheinlich schon, nur kenne ich den weg nicht(woher auch)).

diese realität wird aber durch den konsum von medien zunehmend flüchtiger, uneindrücklicher. es gibt nämlich durch die masse an medientransportation zu viel realität.

mir persönlich hilft da einfache selektivität bei der suche nach informationen. oh - informationen - das ist auch so 'n ding. heutzutage WISSEN wir nicht, was geschieht, wir sind informiert. das darf man nicht verwechseln. es gab da letztens einen interessanten artikel über dieses phänomen - das ersetzen von wahrem wissen durch informationen - in der faz.

aber mal zum text selber:
schön recherchiert, gesund polemisch und wirksam. volle 5 punkte. äh...


Killing Joke (26.09.2007)

Ich beziehe mich auf den letzten Satz: "Nur durch selbstständiges Denken und Handeln kann der medialen Verzauberung der Welt und einer Verzerrung der Realität Einhalt geboten werden."
Ich halte für wahr:
1. Die Verzerrung der Realität geschieht schon bei der Wahnehmung der Wirklichkeit.
2. Selbstständiges (ungeleitetes, unbeeinflusstes) Denken halte ich nicht für möglich.
Gibt es einen Ausweg? Nein!
Noch die beste Möglichkeit: Soviel verschiedene Wahrnehmungen und Interpretationen der Wirklichkeit wie möglich zulassen, damit die Mischung aller Wahrnehmungen und Interpretationen eine der Wirklichkeit nicht widersprechende eigene Wahrnehmung und Interpretation ermöglicht.
Dabei kann Informationsflut sogar behilflich sein. Schade, dass man so wenig Zeit hat, sie zu nutzen. Der Verzauberung der Welt und der Verzerrung der Realität ist zu keiner Zeit Einhalt geboten worden.
Bislang haben wir es nur geschafft, der Verzauberung eine andere Verzauberung und der Verzerrung eine andere Verzerrung entgegen zu setzen. Das ist doch schon etwas.
Der Beitrag hat mich angesprochen, weil er zur Erhellung unserer Verhältnisse beiträgt. Schönen Dank dafür.


Rolf Kirsch (25.09.2007)

Ein ungewöhnlicher Text für webstories. Ein Aspekt fehlt mir: Reaktion auf die Informationsflut ist, dass sich Menschen als Individueen zurückziehen. Nur ein Beispiel: Noch nie hatten die politischen Parteien so wenig junge Mitglieder wie heute. Oder positiv ausgedrückt: Wer die Gesellschaft ändern will, hat heutzutage gute Möglichkeiten...
lg


Nicolas van Bruenen (25.09.2007)

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Wenn die Welt untergeht...  
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