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7 Seiten

Lilly (Kapitel 30)

Romane/Serien · Spannendes
„Gehst du schon?“
Mario fuhr herum. Er suchte noch sein Handy im Spind, als Marie ihn ansprach.
„Ja, es ist viertel vor zwei und nichts mehr zu tun. Ich komme dafür morgen etwas früher.“
Marie nickte zustimmend und Mario fand sein Handy. Er schnallte sich seinen Rucksack auf und verließ, bekleidet in Zivilkleidung das Stationszimmer. Auf dem Weg zu den Jenssens kam ihm Doktor Mendelbaum entgegen und verabschiedete ihn. Alles schien planmäßig zu verlaufen. Er durfte nur keine Aufmerksamkeit erregen, aber das wusste er. Die Jenssens waren nicht mehr auf dem Gang in der Wartezone, sondern in Lillys Zimmer. Das Mädchen war gerade dabei zu erwachen, fiel aber immer wieder zurück in die Bewusstlosigkeit. Es würde sicherlich noch eine Weile dauern, bis sie vollständig wach war.
„Ich wäre dann soweit“, wisperte Mario, als er sich Mark und Tanja näherte. Die beiden gaben stumm ihre Zustimmung.
„Warten Sie, bevor Sie sie von dem Gerät trennen. Ich hole zuerst den Aufzug“, schlug Mario vor und schlich bereits über den Flur zu den silbergrauen Türen des Fahrstuhls. Glücklicherweise befand sich niemand auf den Gang, sodass es scheinbar unproblematisch über die Bühne gehen konnte. Mario stand am Fahrstuhl und erwartete die Ankunft der Aufzugskabine und Tanja stand an der Zimmertür. Mark stand mit Lilly auf dem Arm neben dem EKG-Monitor und wartete auf ein Zeichen von Tanja, die Kabel zu ziehen und zur Tür hinaus zu hasten.
Schwer öffneten sich die Fahrstuhltüren. Mario ging in die Kabine und betätigte den Knopf, der die Türen offen hielt. Bevor er Tanja das Zeichen gab, kontrollierte er erneut, dass der Korridor leer war. Dann gab er Tanja das Zeichen, indem er ihr zunickte. Sie drehte sich zu Mark um und flüsterte ihm zu: „Jetzt!“
Mark hielt die bewusstlose Lilly im Arm. Ihr Oberkörper lehnte hauptsächlich auf seiner rechten Schulter, sodass er seinen linken Arm relativ gut freibekommen konnte. Er umfasste vorsichtig die Kabel am Monitor, die über Elektroden mit Lilly verbunden waren. Mark brachte sich in eine Position, aus der er schnell in Richtung Tür rennen konnte. Tanja sah von der Tür aus, dass Mark jeden Augenblick die Kabel vom Gerät lösen würde und begab sich zum Aufzug um ihm Platz zu machen. Mark atmete mehrmals tief ein und aus und konzentrierte sich. Dieser Plan musste einfach gelingen, denn an dessen Erfolg oder Misserfolg hing die gesamte Zukunft. Mark dachte nicht näher drüber nach, denn für eine Umentscheidung war es zu spät. Aber er konnte sich nicht gegen einen kleinen Geistesblitz wehren, der die Frage stellte, ob es nicht hätte anders laufen können. Natürlich bestünde diese Möglichkeit, wenn er seine Tochter nicht ins Krankenhaus gebracht hätte. Aber wie es dann gelaufen wäre, würde er bestimmt niemals erfahren. Vielleicht kämen die Dinge dann anders, vielleicht auch nicht. Es waren nur Wahrscheinlichkeitsüberlegungen, die nur ablenkten. Eine kleine Stimme in seinem Kopf, die letzte Zweifel aussprechen wollte. Doch jetzt war Konzentration erforderlich. Fest umklammerte er die Kabel und sprach sich selbst Mut zu, diesen letzten Schritt zu machen. Wie sich Lilly gerade fühlte, wollte Mark sich gar nicht ausmalen, vorausgesetzt sie war überhaupt imstande zu fühlen. Sie konnte genauso gut in einem Koma liegen und nichts wahrnehmen. Wer wusste denn schon, wie es um sie bestellt war? Im Falle eines Komas war es unmöglich zu sagen, wann sie wieder erwachte, sollte sie denn jemals erwachen. Ein Arzt konnte bestimmt besser ermitteln, in welchen Umständen sich seine kleine Tochter befand, als er, Tanja oder Mario. Allerdings würde das wiederum bedeuten, Lilly durfte nicht aus dem Krankenhaus entfernt werden, sondern musste dableiben, damit…
Schluss jetzt! befahl sich Mark selbst. Dieses ganze Hin- und Hergedenke brachte ihn völlig aus dem Konzept. Er musste sich selbst innerlich ohrfeigen um nicht den Kurs aus den Augen zu verlieren. Es ging darum Lillys bevorstehende Veränderung in was auch immer zu ermöglichen und ein Aufenthalt im Krankenhaus über diesen Tag hinaus gefährdete dies. Einfach nur die Kabel ziehen und dann raus hier. Es war gar nicht so schwierig und brachte alles obendrein wieder in Ordnung. Was also sprach dagegen?
Mark fällte eine Entscheidung. Über diese ganze Aktion nachzudenken, das Für und Wider abwägen wurde bereits im Vorfeld erledigt. In der momentanen Phase befanden sie sich in der Ausführung eines realistisch durchführbaren Plans, der darüber hinaus die einzige Chance auf Besserung der Umstände war. Jedwede weitere Überlegung, die den ganzen Plan unnötig verzögerte, und sei es nur um sich klarzumachen, dass alles vollkommen zu Recht geschah, war zuviel Ablenkung. Seine Entscheidung bestand darin, einfach den Plan auszuführen und die Kabel zu ziehen.
Ein letztes Mal atmete Mark sehr tief ein und riss dann die Kabel ruckartig aus dem Gerät. Ohne Verzögerung zeigte es eine Nulllinie an, als wäre Lilly soeben verstorben. Das Gerät erkannte einen kritischen Systemfehler oder den Verlust eines schlagenden Herzens. Wie auch immer, es schlug Alarm und blinkte rot. Zusätzlich blinkte eine rote Warnlampe über der Tür des Zimmers und auch im Stationszimmer sowie im Büro des Arztes ertönte eine Warnmeldung. Von all diesen Vorgängen bekam Mark allerdings nicht viel mit, denn er schoss noch während er die Kabel zog los wie eine Kanonenkugel. Er erreichte den Fahrstuhl, noch ehe jemand vom Personal im Gang zu sehen war. Als Mario Mark auf den Aufzug zu rennen sah, nahm er den Finger von der Türhaltetaste und drückte auf UG. Nur einen winzigen Augenblick nachdem sich die Türen schlossen, rasten Marie und Doktor Mendelbaum zum Zimmer neun und mussten schockiert feststellen, dass keine Lilly mehr im Bett lag. Jemand musste sie geholt haben, denn alleine konnte sie kaum irgendwo hin gegangen sein. Dafür hatte sie zuviel Beruhigungsmittel in Form von Adrenalin intus. Dass es so krass gegenteilig auf ihren Organismus wirkte, war Adam noch immer ein Mysterium aber für derlei Gedanken war gerade keine Zeit. Es musste sich hierbei um eine Entführung handeln und dafür kamen nur zwei Personen als Verdächtige in Frage: Mark und Tanja Jenssen!
Adam kehrte zurück auf den Gang und richtete seinen Blick auf die Wartezone. Leer! Noch vor wenigen Minuten saßen die Eltern der kleinen Lilly dort und jetzt waren alle drei fort. Der Fall lag klar auf der Hand.
„Rufen Sie den Sicherheitsdienst. Sie sollen nach drei Personen Ausschau halten. Geben Sie denen eine Beschreibung der Eltern und des Kindes“, rief Adam Marie zu, die relativ fassungslos und mit halboffenem Mund hinter dem Arzt hertrottete.


Bis der Sicherheitsdienst informiert war und die entsprechenden Kräfte mobilisiert worden waren, vergingen wertvolle Minuten. Minuten, in denen Mark im Aufzug Lilly die Elektroden entfernte und nach Verlassen des Fahrstuhls in der Kabine zurückließ. Im Untergeschoss angekommen sicherte Mario den Korridor, an dessen Ende hinten links der Hinterausgang war. Das Glück spielte ihnen in die Hände, denn es war niemand anwesend. Dennoch mussten sich die vier beeilen, denn gleich war Ende der Frühschicht und dann würden die ganzen Mitarbeiter, die von der Spätschicht abgelöst wurden, hier unten den Weg aus dem Gebäude nehmen. Mario gab Mark und Tanja ein Handzeichen und ließ sie so wissen, wo sie lang gehen mussten. Hastig näherten sie sich dem Hinterausgang. Tanja öffnete die Tür und hielt sie für Mark offen.
„Mario?“ Eine vertraute Stimme rief quer über den Flur und brachte Mario dazu, sich auf die Zunge zu beißen. Es war Sven, der Zivildienstleistende von einer Station über der Kinderkrankenstation. Er und Mario waren nur flüchtig befreundet, hauptsächlich hatten sie miteinander zu tun, wenn sie sich zum Mittagessen in der Kantine verabredeten. Eigentlich ein netter Kerl und Mario war auch immer positiv gestimmt, wenn sie sich trafen, aber gerade jetzt freute er sich weniger.
„Hallo Sven.“
„Wer sind die?“ wollte Sven wissen und deutete auf Mark, Tanja und Lilly, die im Begriff waren, die Tür zu passieren.
„Hör zu, ich kann grad nicht, ich habe noch einen wichtigen Termin“, blockte Mario ab. Er wollte auch durch die Tür gehen.
„Na gut. Sehen wir uns morgen in der Kantine?“
„Ja, sicher“, rief Mario noch in den Gang, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Sven sah ihm noch einen Moment lang leicht verunsichert hinterher, drehte sich dann aber um und ging zurück in die Richtung, aus der er kam. Auch wenn er Marios Verhalten nicht ganz verstand und er diese Leute noch nie mit ihm gesehen hatte, dachte er nicht weiter drüber nach und vergaß auch schon bald die Begegnung im Keller.

Vorsichtig und unauffällig liefen Mario, Tanja und Mark mit Lilly auf dem Arm halb ums Gelände herum zum Parkplatz. Bisher sah alles noch normal aus, es liefen keine zusätzlichen Wachen draußen herum. Sie lagen vermutlich noch gut in der Zeit und es wurde noch nicht Alarm geschlagen.
„Das ist mein Auto“, rief Mario und wies auf einen etwas älteren dunkelblauen Golf mit einer Beule am rechten Kotflügel. Der Wagen war nur vier Parzellen vom Wagen der Jenssens entfernt.
„Ich hol schnell die nötigsten Dinge“, meinte Tanja und lief zu ihrem Auto. Mark nahm indes im Font von Marios Auto Platz und hielt sich unten. Der weitere Ablauf bis zum Verlassen des Krankenhausgrundstücks dauerte keine fünf Minuten. Mario öffnete den Kofferraum des Dreitürers und Tanja schleppte nacheinander zwei Koffer mit Kleidung, Handtüchern und Pflegematerial und eine große Reisetasche mit Proviant, Wasser und sonstigen Gebrauchs-Gegenständen wie Taschenlampen oder Camping-Kochgeschirr an. Danach verließen sie zu viert das Gelände, ohne aufgehalten zu werden. Was die Flucht aus dem Krankenhaus anbelangte, verlief alles nach Plan.
„Wo sollen wir denn jetzt hin?“ fragte Mario, als er auf die Hauptstraße einbog.
„Fahr am Besten in südwestlicher Richtung aus der Stadt und nimm die Landstraße in Richtung des Waldes. Fahr immer so parallel zu den Eisenbahnschienen“, antwortete Tanja, die auf dem Beifahrersitz saß. Sie hielt es für eine gute Idee in den Wald zu fahren, zu der Stelle, wo die Familie im Sommer immer campen ging. Das würde auch genug Abstand zur Stadt bedeuten, denn wenn sie ruhig und unauffällig fuhren, waren sie mit Sicherheit mehrere Stunden unterwegs. Bis zu ihrer Lieblingsstelle waren es gut einhundertfünfzig Kilometer und die kurvenreiche Strecke erlaubte eine Höchstgeschwindigkeit von nur sechzig Stundenkilometern.

Am späten Nachmittag beendeten die Sicherheitskräfte des Krankenhauses die Suche nach Familie Jenssen. Ihre Suche blieb erwartungsgemäß erfolglos, denn nach soviel Zeit dachte keiner, dass sie noch im Haus waren. Deswegen ging man dazu über das Personal zu befragen, ob sie die verdächtigen Personen gesehen haben. Die meisten Leute kannten niemanden, der auf diese Beschreibungen passten. Einige medizinisch Bedienstete gaben an, die Frau einmal in der Cafeteria gesehen zu haben, als sie sich ebenfalls etwas kauften. Aber das war meistens schon so lange her, dass sich Lilly zu diesem Zeitpunkt nachweislich noch im Bett befand. Ein Mann berichtete dem Sicherheitschef des Krankenhauses sehr ausführlich und stark abschweifend, wie er mit dem Mann vor einigen Tagen ein sehr anregendes Gespräch vor dem Eingang hatte. Obwohl er bereits meinte, dieser Hinweis sei unwichtig für die Ermittlung, ließ es der Mann sich nicht nehmen, weiter zu sprechen.
Ratlos wandte man sich später noch an die Zivildienstleistenden, die aber meistens kaum gute Zeugen abgaben, weil sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn selten erinnern, wen sie alles in der Klinik sahen, dachte sich der Sicherheitschef. Für die Suche nach den Jenssens wurden die Zivildienstleistenden extra dabehalten mit dem Vermerk, die übrige Zeit als Überstunden anzurechnen. Etwa in der Mitte der Befragung meinte ein neunzehnjähriger junger Mann namens Sven, etwas Verdächtiges gesehen zu haben. Erst als man ihm das Kind beschrieb, fiel ihm ein, einen Mann gesehen zu haben, der dieses Kind auf dem Arm hielt.
„War eine Frau bei ihm?“ fragte der Sicherheitsbeamte.
„Ja, auch. Sie hielt ihnen die Tür auf.“ Sven kniff die Augen zusammen um die Bilder in seinem Kopf schärfer sehen zu können. Er hatte nun wieder ganz klar vor Augen, was sich unten im Untergeschoss zugetragen hatte.
„Auch? Wer war denn noch dabei?“
„Mario.“ Der Beamte schien nicht zu verstehen, von wem Sven sprach und der Zivi reagierte: „Er ist Zivi in der Kinderstation.“
Der Beamte drehte sich zu einem Kollegen um, der die Listen aller Mitarbeiter in Händen hielt und auch genau sagen konnte, wer sich noch im Gebäude befand.
„Mario Kessler, neunzehn Jahre alt, Zivi auf der Kinderkrankenstation. Laut seinen Kollegen ist er kurz nach halb zwei nach Hause gefahren.“
Der Beamte sah wieder zu Sven. „Zeitlich würde es mit dem Verschwinden der Patientin und der Eltern übereinstimmen“, murmelte er. Sven nickte leicht dazu um den Überlegungen des Mannes zuzustimmen.
„Herr Markowitz?“ Keuchend kam ein weiterer Sicherheitsbeamter hinzu.
„Ja!“
„Der Wagen der vermissten Personen steht noch immer auf dem Parkplatz.“
„Hm…“ Der Sicherheitschef fing an zu überlegen. Er tippte sich dabei auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Wenn dieser Zivi die Eltern, das Kind und einen weiteren Zivi unmittelbar zum Zeitpunkt der Flucht gesehen hat, dann war klar festzustellen, dass er mit den dreien zusammenarbeitete. Möglicherweise war er mit ihnen gemeinsam auf der Flucht. Und dass das Auto der Jenssens noch immer vor Ort war, kam nur der Wagen des Zivildienstleistenden als Fluchtfahrzeug in Frage. Der Beamte drehte sich wieder seinem Kollegen zu. „Geben Sie der Polizei Bescheid. Sie sollen nach dem Fahrzeug und den Insassen fahnden. Sagen Sie ihnen, dass es medizinische Dringlichkeit hat.“
Der Kollege hastete sogleich zum nächsten Telefon und gab die Suchmeldung mit einer genauen Personenbeschreibung durch. Kaum fünf Minuten später wurde die Beschreibung der Personen und des Wagens an alle umliegenden Streifenwagen weitergegeben. Die Polizeibeamten auf der Wache suchten indes den Wagen auf einem der Verkehrsüberwachungsbänder. Im Krankenhaus wurde der Normalbetrieb wiederhergestellt und die Zivildienstleistenden, Ärzte und Krankenschwestern und –pfleger, die bereits in ihren Überstunden waren, durften endlich den Heimweg antreten.
 
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