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2 Seiten

Alles, was ich ansehe

Trauriges · Kurzgeschichten
Im Alter von dreizehn Jahren wurde ich vom Geist eines verstorbenen Verwandten verflucht. Leider weiß niemand, weshalb und wie es dazu kam, aber seit meinem dreizehnten Geburtstag bewegt sich alles, was ich ansehe.
Zunächst war es wie ein lustiges Spiel. Im Herbst ließ ich stundenlang die gefallenen Blätter unter den Bäumen durch die Luft schweben, in großen Spiralen, über die Köpfe der Spaziergänger, über spielende Hunde, über andere Kinder hinweg. Ich durfte nur keines der Kinder ansehen, denn sofort bewegten sich nicht nur die Kleidung und die Haare des Kindes, das ich ansah, sondern das ganze Kind. Gewöhnlich hoben sie nicht ab wie die Blätter, aber sie wurden b e w e g t, wie durch einen kleinen intimen Sturm. Das mochte niemand. Weder die Kinder selbst noch die Eltern.

Das Leben wurde nicht gerade einfach. In der Schule durfte ich nicht an die Tafel sehen, denn diese begann sofort zu flattern und die ganze Klasse beschwerte sich, dass sie die Aufgaben nicht mehr lesen konnte. Ich konnte auf Stift und Heft auf meinem Pult sehen, aber durch die ständigen Bewegungen war meine Schrift kaum noch zu entziffern. Mutti musste mir die Brote schmieren, denn die Marmelade floss unter meinen Blicken davon. Essen konnte ich nur mit geschlossenen Augen.

Lesen oder Fernsehen ging nicht, aber ich ließ mir sehr viele Geschichten von meiner Schwester vorlesen und später kaufte ich jedes Buch als Hörbuch auf CD. Ich bin nicht dumm oder einfältig. Ich bewege nur alles, was ich ansehe.

Ich bringe die Dinge um mich herum in Bewegung, aber sie bewegen nicht mich. Ich bin stets im Auge des Sturms, unbewegt und isoliert, während um mich herum alles fließt, fliegt, gleitet, vibriert.

Hatte ich noch die Hoffnung, der Fluch würde sich mit den Jahren abschwächen oder ganz verschwinden, ist diese zerschlagen. Ich kann nur besser damit umgehen. Es passiert mir nicht mehr, dass ich aus Versehen jemanden ansehe und damit erschrecke. Mein Blick bleibt stets auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet, wo sich der Boden kräuselt, bevor mein Fuß ihn betritt. Meist bemerken das die Leute um mich herum nicht einmal.

Ich arbeite in einer Blindenwerkstatt mit geschlossenen Augen und verdiene meinen Lebensunterhalt, seit meine Eltern gestorben sind und meine Schwester weggezogen ist. Unter den Blinden habe ich keine Freunde, denn sie spüren, dass ich anders bin.

Wenn ich allein bin (ich fühle mich immer allein, selbst in einer Gruppe von Menschen), wenn ich
w i r k l i c h allein bin, lasse ich wie in meinen Kindertagen das Laub wirbeln und dann bin ich für eine kurze Zeit glücklich.

Ich bewege alles, was ich ansehe, aber mich bewegt nichts.
 
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