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Hanami - trauriges Kirschblütenfest - WIEDER KOMPLETT EINGESTELLT

Trauriges · Kurzgeschichten · Frühling/Ostern
Hanami, trauriges Kirschblütenfest

„Ihr dürft für eine Stunde draußen spielen“, sagte Mutter, steckte wie beiläufig den kleinen elektronischen Kasten wieder in ihre Tasche. Sie nannte ihn „meinen Tester“. Bei jeder Gelegenheit bekamen Hanako und Toshi zu hören: Erst muss ich meinen Tester fragen. Wartet, Kinder. Geht nicht nach draußen. Fasst das nicht an. Ich muss erst den Tester fragen.
Wenn sie draußen spielen durften, hieß das, dass der Wind sich wieder gen Meer gedreht hatte und das war ein gutes Zeichen. Kam er von der Meeresseite zu ihrem Haus hinüber, durften sie nicht nach draußen. Tagelang saßen sie dann in ihrem kleinen Zimmer und versuchten sich die Zeit zu vertreiben.
Hanako lief schnell in das kleine Zimmer, das sie sich mit ihrem älteren Bruder und ihrer Mutter teilen musste, und zog ihre Jacke und die dicken Stiefel an. Sie freute sich auf den Wind, die Sonne und besonders freute sie sich auf die kleinen weißen und rosa Blüten an den Kirschbäumen.
Es war Kirschblütenfest und eigentlich hätte Vati dann von der Arbeit freibekommen und sie hätten alle etwas gemeinsam unternommen. Er hatte immer Urlaub genommen, um das Kirschblütenfest mit ihnen zu feiern. Aber dann war etwas passiert, was Hanako noch immer nicht richtig verstanden hatte. Sie hatte längst vergessen, wann sie ihren Vati das letzte Mal gesehen hatte.
Wenn sie Toshi fragte, wo Vati sei und wann er wieder nach Hause käme, wurde er wütend. Manchmal schrie er sie an, dass sie ein dummes kleines Mädchen sei, und schubste sie, aber im nächsten Moment nahm er sie wieder in die Arme und drückte sie an sich. Er entschuldigte sich und meinte, dass Vati ganz sicher bald nach Hause kommen würde.
„Euer Vater hat einen sehr wichtigen Auftrag bekommen“, hatte Mutter gesagt. Darüber sei sie sehr stolz, denn es war eine Ehre für Vati, für eine solche Arbeit ausgesucht worden zu sein, aber als sie das erzählt hatte, an dem Abend, als Vati nicht heimgekommen war, hatte sie geweint und Hanako hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte.
Vati kam oft tagelang nicht heim, weil der Fahrweg von seiner Arbeit nach Hause so weit war und er dann in der Stadt schlief. An Wochenenden war er immer daheim gewesen. Er hatte mit Toshi am Computer gespielt und mit Hanako war er Eis essen gegangen.
Eis, dachte Hanako, vielleicht bringt er ganz viel Eis mit, wenn er nach Hause kommt und dann wird alles wieder gut.
Sie wartete artig neben ihrem großen Bruder bei der Haustür. Mutter kontrollierte sehr sorgfältig, dass sie sich ordentlich angezogen hatten und ihren weißen Mundschutz trugen. Hanako hatte diesen Mundschutz nicht gemocht, er störte beim Spielen, aber Toshi hatte ihr einen roten lachenden Mund darauf gemalt und davon Fotos gemacht. Seitdem trug sie ihn gern, wenn sie ins Freie ging. Alle Menschen draußen trugen so einen Mundschutz, manche hatten sich große Plastikmützen über den Kopf gezogen, wie die Bienenmänner, die sie einen Sommer in den Feldern gesehen hatten.
Hanako hatte gefragt, ob sie jetzt alle den Mundschutz tragen mussten, weil die Bienen ihren Bienenmännern davongeflogen seien und die Erwachsenen hatten darüber gelacht und sich gleichzeitig traurig angesehen. Niemand hatte es ihr erklärt.
Toshi hatte gesagt, dass etwas in der Luft sei, wenn der Wind vom Meer kam, so etwas wie Grippe, und deshalb sei es besser, es nicht einzuatmen, wenn man draußen war.
„Vielleicht hatte Tufu auch Grippe“, hatte Hanako gesagt. Tufu ihre Katze war nach einem ihrer Ausflüge nicht mehr heimgekommen. Sie vermisste sie sehr, aber ihren Vati vermisste sie noch viel mehr.
Mutter zog ihren Mundschutz zurecht, öffnete die Haustür und ließ sie hinaus.
„Ich rufe euch, wenn es Zeit wird“, sagte sie, „bleibt in der Nähe.“
Toshi nickte stumm. Sein langes schwarzes Haar hing unter seiner Mütze hervor, er hatte sich die Augen schwarz gemalt und Hanako fand, dass er immer sehr böse aussah, wie die bösen Kerle in einem Manga, aber er war ihr großer Bruder und er war nicht böse. Seit Vati nicht mehr heimgekommen war, trug er nur noch schwarze Sachen und malte sein Gesicht an.
In dem kleinen Vorgarten stand ein junger Kirschbaum, der tapfer ein paar grüne Blätter entwickelt hatte, aber er hatte nur wenige Blüten bekommen. Es gab weder Insekten, die zwischen den Zweigen herumflogen, noch waren Vögel zu hören. In der Ferne heulte irgendwo eine Polizeisirene, dann hörten sie das Hupen des Wasserwagens, der durch die Straßen fuhr und die wenigen Häuser mit Trinkwasser versorgte.
Hanako hüpfte um den Baum herum, zupfte ein paar Grashalme vom Boden und sang vor sich hin, missmutig beobachtet von ihrem Bruder. Er war alt genug, um zu verstehen, was passiert war. Das Erdbeben hier in Japan hatte sie zu Tode erschreckt, aber sie hatten Glück gehabt, ihr Haus war wie durch ein Wunder verschont geblieben. Im Fernsehen hatte Toshi die Bilder der Katastrophe gesehen, die verwüsteten Landstriche an der Küste, die vielen Toten und die Überlebenden, die ihre Familien und Freunde verloren hatten. Seine Schwester hatte viele Nächte nicht schlafen können und er hatte versucht, ihr zu erklären, was ein Erdbeben war, aber sie wusste nur, dass sie Angst hatte, die Erde würde wieder beben, sobald sie schlief.
Dass sie kaum noch Lebensmittel kaufen konnten, der Strom ausgefallen war und sie das Wasser aus der Leitung nur noch zum Waschen benutzen durften, hatte Hanako hingenommen, als sei das alles ein Spiel, an dem alle teilnahmen. Alle trugen Mundschutz, alle tranken das Wasser aus den Kanistern, die der Lastwagen brachte. Darüber machte sie sich keine Gedanken.
Sie fragte ab und zu, wo Tufu hingelaufen sein könnte, und warum sie nicht mehr nach Hause fand. Toshi konnte ihr nicht sagen, dass ihre Katze vermutlich längst tot war.
Ich würde gerne wieder zur Schule gehen, dachte Toshi, mich mit meinen Freunden treffen. Ich werde sie vermutlich alle nicht mehr wiedersehen. Sie sind mit ihren Familien weggezogen, sind nach Süden geflüchtet. Mutter will das Haus nicht verlassen, weil sie noch immer hofft, dass Vati zurückkommt.
Hanako rief zu ihm hinüber, wenn die rosa Blüten vom Baum fielen, würde sie eine davon aufsammeln und sie zwischen den Seiten ihres Bilderbuches pressen.
„Du darfst nichts von draußen ins Haus bringen“, sagte Toshi, „auch keine Kirschblüten.“
„Aber das ist traurig“, sagte Hanako. Sie sah zu ihm hinüber, ein kleines Mädchen, dick eingepackt in Winterjacke und Stiefel, obwohl es nicht mehr kalt war zu dieser Jahreszeit, ein rotes Lächeln auf ihrem Mundschutz, der nicht zu ihren großen traurigen Augen passen wollte.
„Vielleicht bekommen wir heute etwas anderes zu essen als nur Onigiri“, sagte Toshi. Er hatte gesehen, dass Mutter Fisch gekauft hatte auf dem Markt und er freute sich darauf. Er hatte auch gesehen, dass Mutter ihren Tester über den Fisch gehalten hatte. Ihr Gesicht war unbeweglich gewesen, als sie das getan hatte, dann hatte sie geweint. Der Fisch lag zerteilt in der kleinen Küche, die sie sich mit den drei anderen Familien teilten, und heute Abend würden sie alle eine leckere Suppe bekommen. Endlich wieder etwas anderes als Reisbällchen.
Hanako sah zu den Kirschblüten am Baum hinauf. Sie waren klein und vertrockneten am Zweig, noch bevor sie richtig aufgegangen waren. Sie seufzte unter ihrem Mundschutz. In der Ferne hörte sie wieder die Sirene und erinnerte sich kurz an das Beben, das sie so erschreckt hatte. Aber Toshi hatte gesagt, das Beben würde nicht wiederkommen. Alles sei in Ordnung. Irgendwann würde auch Vati von seinem wichtigen Auftrag zurückkehren, er würde wie ein Held gefeiert werden, denn etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen. Wer von einem Auftrag wieder nach Hause kam, wurde gefeiert, mindestens drei Tage lang. Sein Foto würde in der Zeitung sein, vielleicht würde er sie auf dem Arm halten, wenn die Leute ihn fotographierten. Er würde im Fernsehen erzählen, was er getan hatte und dass seine Kollegen, mit denen er zusammengearbeitet hatte, ebenfalls Helden seien. Er würde nach Hause kommen und alles würde wieder werden wie früher.
Hanako sprang auf ihren Bruder zu, der vor ihr auf die Knie sank und die Arme ausbreitete. Sie umarmten sich und hielten sich lange fest. Sie wusste nicht, weshalb, aber sie weinte.

[Der Online-Verlag hat das Buch nach mir nicht näher bekannten Querelen vom Markt genommen. Schade drum]
 
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Kommentare  

Ein Jahr später ist es ruhig um das Japan-Desaster, das mit einem Seebeben begann und mit der Atomkatastrophe endete. Deine Geschichte ist genau so erschütternd wie ergreifend und hat leider immer noch einen realen Bezug, in den wir alle reingezogen werden könnten, denn es ist imnmer noch so, dass wir Geister riefen, die wir nun nicht mehr los werden!

Andreas Tröbs (14.02.2012)

Danke euch alle für die Kommentare.
Ich hoffe auch jeden Tag, dass die Nachrichten nicht noch schlechter werden.

Liebe Grüße Dubliner Tinte


Pia Dublin (06.04.2011)

Ich glaube es ist die schlichte unaufdringliche Art mit der du diese Tragödie beschreibst. Gerade deshalb geht deine düstere Zukunftsvision einem so nahe. Um mit Ingrids Worten zu antworten, hoffen wir, dass es so nicht passiert.

Gerald W. (30.03.2011)

das ist so traurig - und wirkt so realistisch. ich hoffe ja immer noch, dass es nicht so weit kommt...
lieben gruß


Ingrid Alias I (28.03.2011)

Unglaublich intensiv.DAS ist wirklich viel
wichtiger und ehrlicher als all die jetzt wieder auf den Atomaustieg Zug springenden Opportunisten.
War ganz " PLATT " nach dem Lesen.
Beste Grüße


Jürgen Hellweg (27.03.2011)

Es ist die Hölle und du schilderst die Tapferkeit der Japaner darin sehr gut. Kurze Geschichte, die mehr aussagt, als manch langes Geschreibsel.

Dieter Halle (27.03.2011)

Zum Heulen!Und die Kleinen sind so tapfer. Dringend notwendige Story, damit man das nicht vergisst.

Petra (27.03.2011)

Schön, dass du das hier mal anbringst. Eine sehr, sehr traurige Sitution überzeugend geschildert. Superstory.

Jochen (27.03.2011)

Da stimme ich zu, sehr guter Text. Packend und hochdramatisch, wie es eben ist. Die Situation so gut beschrieben, als wärest du die kleine Hanako.

Else08 (27.03.2011)

Erschütternd. Ich habe fast geheult. Ein Text der einen mitreißen muss. Hervorragend geschrieben.

doska (26.03.2011)

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