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3 Seiten

Cyber Love

Trauriges · Kurzgeschichten
Gilda hatte die besten Jahre bereits hinter sich und war sich dessen bewusst. Ihre Ehe hatte nach fünfzehn Jahren Schiffbruch erlitten, woran sie sich selbst ein wenig die Schuld gab. Ein wenig. Hauptsächlich hatte sie die Marotten ihres Mannes nicht mehr ertragen und ihn so lange gepiesackt, bis er das Handtuch geworfen hatte. Technischer K.O. in der vorletzten Runde.
Nach der Scheidung hatte sie sich entschlossen, in einer neuen Stadt ganz von vorn anzufangen und alles besser zu machen.
Sie fand eine kleine Wohnung und einen Job, der sie über Wasser hielt. Sie telefonierte den ganzen Tag, saß in einem Ding, das wie ein Fischbecken aus den Baumarkt aussah und befragte Leute, die ein Telefon besaßen, ob sie mit ihrem Anbieter zufrieden seien. Ab und zu bekam sie die patzige Antwort: „Ich habe kein Telefon“, aber sie war so neu dabei, dass sie das noch lustig fand.
In ihrer Freizeit saß sie gerne vor dem Computer. Ihr Nick war „Mausi69“ und sie unterhielt sich dort mit vielen Menschen und sie erlag der Vorstellung, viele gute Bekannte zu haben. In dem Großraumbüro des Call Centers hatte sie nur wenig Kontakt, die Angestellten waren fast alle sehr viel jünger als sie und nur Horst, der ihr in dem Aquarium gegenüber saß, schien sich ein wenig für sie zu interessieren. Er brachte ihr morgens einen Kaffee und fragte sie, ob sie mittags mit ihm in die Kantine ginge. Manchmal sagte sie zu und dann unterhielten sie sich. Meist redeten sie über die Arbeit, denn Horst wagte es nicht, Gilda private Fragen zu stellen.

In ihrem bevorzugten Chatraum „LoveForever.com“ entwickelte sich etwas, was Gilda als Freundschaft verstand, obwohl sie von „Kill_Bill“ nur grobe Eckdaten kannte und bei denen sie nicht sicher sein konnte, ob sie der Wahrheit entsprachen. Sie vermutete, dass er sich ein wenig jünger und ansprechender beschrieben hatte, denn sie hatte das Gleiche bei ihrer Beschreibung getan. Sie hatten regen E-mail Kontakt über ihre Yahoo Adressen und beschlossen nach zwei Monaten, sich auf ein Blind-Date zu treffen.
Ganz unverbindlich, hatte Kill_Bill geschrieben, ich möchte dich einfach nur mal kennenlernen, Mausi69, obwohl ich glaube, dass du meiner Traumfrau schon sehr nahe kommst.
Kill_Bill, schrieb Gilda, mir geht es ganz genauso. Ich bin so enttäuscht worden in der Vergangenheit, dass ich mir mit einem Neuanfang Zeit lassen möchte. Aber ich bin nicht abgeneigt.
Vor ihren Treffen hatte sie einige schlaflose Nächte. Wie sollte sie Kill_Bill erklären, dass sie einige Kilos mehr auf die Waage brachte, ihr braun-farbloses Haar nicht wirklich blond war und wie sollte sie ihm logisch erklären, dass sie spontan um zehn Jahre gealtert war?
Horst brachte ihr ihren Morgenkaffee und bemerkte, dass sie etwas übernächtigt aussähe, ob sie nicht gut geschlafen habe?
„Das liegt am Vollmond, glaube ich“, sagte sie und dachte, dass er auch etwas dunkel um die Augen aussah. Es war auffällig, dass er ein neues Hemd trug, immer wieder mit den Fingern daran herumzupfte, als wolle er sie extra darauf aufmerksam machen.
„Ist das neu?“ fragte sie.
„Hmh, ja, ich dachte, es sei mal wieder an der Zeit, mich etwas aufzumöbeln.“
Sie schlürfte aus ihrer Kaffeetasse, starrte sekundenlang auf das blaukarierte Hemd und hätte ihm fast von ihrem Blind-Date am kommenden Samstag erzählt, aber dann dachte sie, dass ihn das sicher nicht interessierte.
Horst seinerseits dachte, er könnte ihr den Grund verraten, weshalb er sich neu eingekleidet hatte, aber er entschied, das lieber für sich zu behalten.
Gilda und Horst grinsten sich an, setzten sich an ihre Arbeitsplätze, stöpselten ihre Headphones ein und tätigten ihre Anrufe in dem Zeitraum, in dem sie dafür bezahlt wurden.

Der Samstag kam. Gilda trug eines ihrer Kleider, die sie nur selten trug, hatte lange mit dem Make-up und dem Haar gerungen und war so nervös, dass sie fast eine Stunde zu früh in dem kleinen Cafe auftauchte. Wie verabredet, setzte sie sich an den runden Tisch am Fenster, hatte wie ebenfalls verabredet, ihre rote Handtasche auf dem Tisch abgestellt. Ihr fiel plötzlich ein, was wohl wäre, wenn ihr Ex-Mann Kill_Bill war. Das würde sie nicht überleben.
Wir hätten wenigstens Fotos austauschen sollen, dachte sie, oder eine Telefonnummer. Dann hätte ich wenigstens mal seine Stimme gehört.
Aber dazu war es jetzt zu spät und sie war zu gut erzogen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen und Kill_Bill hier allein sitzen zu lassen.
Er kam pünktlich in das Cafe, stand in der Tür mit dem marineblauen Schal um die Schultern geschwungen, der sein Erkennungszeichen sein sollte und Gilda sah zuerst den Schal, dann das blaukarierte Hemd und dann das bekannte Gesicht.
„Horst??“
„Gilda??“

Sie saßen lange zusammen in dem Cafe, aßen Kuchen und tranken Kaffee, redeten über die Firma und über die Leute, die am Telefon keine Zeit hatten und wie man sie überreden konnte, sich die fabelhaften Angebote weiter anzuhören. Gilda sagte, das Hemd stünde ihm sehr gut und er sei ja sogar zum Friseur gegangen und hatte sich das Haar schneiden lassen.
Horst sagte, er sei ganz erleichtert, dass sie doch nicht ganz so jung und blond sei, wie sie sich beschrieben hatte und dann brachte er sie noch zu ihrem Auto, das sie auf einem öffentlichen Parkplatz zwei Straßen weiter abgestellt hatte.
„Danke schön für den schönen Abend“, sagte sie.
„Darf ich dich morgen in die Kantine einladen?“ fragte er.
„Mal sehen,“ sagte Gilda.

Zwischen Gilda und Horst änderte sich nichts. Sie saßen sich in ihren Kabinen gegenüber, machten komische Gesichter, wenn die Anrufe nicht so liefen und jeden Morgen brachte Horst ihr den Kaffee.
Abends trafen sie sich im Chatraum, tauschten Gedanken aus, schrieben E-mails bis spät in die Nacht und taten so, als seien sie noch immer nur Kill_Bill und Mausi69, sie blond und attraktiv und er ein Hüne von Kerl.
Gilda war sehr erleichtert über diese Art von Beziehung, obwohl sie es niemals zugegeben hätte, dass sie ihre Verbindung mit Kill_Bill als Beziehung ansah, es machte alles so viel einfacher.
Nur manchmal, ganz heimlich, wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag, sie sich auf die andere Seite drehte, wünschte sie sich, Horst würde dort neben ihr liegen, leise vor sich hinschnarchen und ihr dann morgens, wenn sie noch gar nicht richtig wach war, einen Kaffee ans Bett bringen.
 
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Kommentare  

Hallo!

Deine Kurzgeschichte ist wirklich gelungen. Sie hat eine sehr gute Aussage, welche zum Nachdenken anregt.

GLG


Julia (20.06.2009)

Hallo Pia!
Auch wieder wahr. Ich meinte allerdings nicht eine Fortsetzung in dem Sinne eines langen Romans, sondern einzelne kleine Erlebnisse dieser beiden Protagonisten. Das muss aber überhaupt nicht sein, ist jedoch ein Zeichen dafür, dass sie mir gefallen haben.


doska (06.10.2008)

Hi Doska, es würde die Kernaussage schwächen, eine Fortsetzung zu schreiben (und ich bin nicht für Fortsetzungen von Kurzgeschichten, dann hätte ich einen Roman daraus gemacht). Fakt ist, dass viele Menschen die Chance bekommen, ihr Leben zu ändern und nicht den Mut haben, es wirklich zu tun.
LG Dublin (danke fürs lesen!)


Pia Dublin (06.10.2008)

Och, das ist aber schade, dass die Geschichte so plötzlich abbricht. Hat sich sehr schön flüssig gelesen und darum grün für dich. Vielleicht schreibst du ja mal eine Fortsetzung dazu?

doska (02.10.2008)

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