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Advent

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Advent
Ich hatte meine Eltern in der Nachbarstadt besucht und obwohl es noch nicht spät war, war es stockdunkel. Der Bus war eiskalt und ungemütlich. Ich brauchte für die Fahrt über eine Stunde, wenn ich meine Eltern besuchte, dazu war noch mein Auto in der Werkstatt und der Linienbus tuckerte über das Land, an unbeleuchtete Haltestellen vorbei, durch Wäldchen, vorbei an vereisten Feldern, bis wir wieder in bewohntes Gebiet kamen. Ich sah aus dem Fenster und sah nur Dunkelheit, meine Füße waren kalt, meine Laune wurde immer schlechter und ich wünschte mich so schnell wie möglich nach Hause.
Auf ein heißes Bad freute ich mich, vielleicht in Verbindung mit einem Glühwein. Während der ganzen vorweihnachtlichen Wochen, die sich wie Jahrzehnte ziehen konnten, wenn man hoffte, sie würden schnell vorbeigehen, hatte ich den Kleinstadtweihnachtsmarkt direkt vor der Haustür.
Ich konnte also mit einer möglichst großen Kaffeetasse nach unten gehen, mir an einem Getränkestand einen Glühwein abholen, die Stufen nach oben laufen und mich in die Wanne legen.
Ich machte mir echt Sorgen deswegen, dass die Weihnachtszeit für mich nur noch mit Alkohol erträglich schien. Da ging doch der ganze Sinn flöten. Und dieser Gedanke ließ meine Laune noch schlechter werden.
Eine Krönung des Ganzen wäre jetzt noch eine nervend gut gelaunte Studententruppe, die im dreckigen, lauten, eisigen Bus eine Kundenzufriedenheitsumfrage machte, aber das geschah nicht.
Dafür aber geschah folgendes: An der Haltestelle Drinhaus stieg jemand zu und setzte sich mir gegenüber.
„Hallo“, sagte er, „ich bin der Thorsten.“
„Hallo Thorsten“, sagte ich automatisch. Ich kannte ihn vom Sehen. Er stieg immer hier ein, kam aus der Werkstatt für angepasste Arbeit und grüßte jedes Mal Gott und die Welt.
„Und wie heißt du?“
Ich nannte ihm meinen Namen und nur ganz kurz hatte ich den Gedanken im Kopf: Thorsten, setz dich woanders hin und lass mich in Ruhe. Ich hatte eine Scheiß Arbeitswoche, die Katze hat mir zwei Mal unters Bett gekotzt und ich konnte Matratze und Rahmen abbauen, um das stinkende Gemisch aus Haarbalg und Katzenfutter zu entfernen und heute musste ich mit meinem Vater darüber diskutieren, weshalb ich mein Schrottauto nicht in die Werkstatt gebracht hatte, die er mir empfohlen hatte. Und weshalb ich denn damals das Auto nicht direkt bei dem Händler gekauft hatte, den er mir empfohlen hatte.
Aber Thorsten grinste sein kleines-Licht-Grinsen und sagte: „Ich geh auf den Weihnachtsmarkt. Kommste mit?“
„Ich bin total müde“, sagte ich und hoffte, ich machte ein genügend ernstes Gesicht, damit er verstand, dass ich nicht interessiert war. An was auch immer er dachte.
Er sagte: „Schade.“
Noch immer grinste er und ich überlegte, ob ich eine Station früher aussteigen sollte. Wenn wir auch noch den selben Fußweg von der Haltestelle zum Marktplatz hatten, wo die Weihnachtsbuden aufgebaut waren, kam ich wohlmöglich aus der Nummer nicht mehr raus.
„Na gut“, sagte Thorsten, „dann sage ich dir wenigstens noch ein Adventsgedicht auf.“
Seine Stimme veränderte sich, wurde voll und laut und mit beeindruckender Leichtigkeit rezitierte er das Adventsgedicht von der ersten bis zur letzten Zeile. Meine schlechte Laune verflog und ich lächelte in mich hinein.
„Wunderschön“, sagte ich, als er geendet hatte, „vielen Dank.“
Was mich in diesem Moment am stärksten beeindruckte war die Tatsache, dass man wohl lange darauf warten konnte, von einem Fremden ein Gedicht zu hören, mit einer kindlichen Freude vorgetragen und ohne Hintergedanken. Dass jemand den Bus besteigt, sich setzt und sich mit Namen vorstellt und offensichtlich bereit ist, sich deine Sorgen und Gedanken anzuhören und darüber zu sprechen, wenn du denn bereit bist, dich darauf einzulassen.
Mit welchen verkrampften Mätzchen versuchte man sonst, jemanden anzusprechen, ersten Kontakt herzustellen, anstatt einfach zu sagen: „Hallo, ich bin der Thorsten.“
Meine letzte Verabredung, ein Arbeitskollege aus dem Amt, hatte während des ganzen Abends beim Italiener darüber schwadroniert, dass er bei Beförderungen immer übergangen wurde und dass es nur daran lag, dass er nicht „dicke genug mit dem Chef war“. Das hätten wir auch in der Kantine beim Schweinebraten und Kroketten besprechen können. Seltsame Unfähigkeit und Angst, etwas Persönliches von sich zu geben, selbst wenn man bei einem Rendevous bei Pasta und Wein zusammensaß.
War ich auch so? Was hatte mich dazu gemacht?
Am Marktplatz stieg ich aus, augenblicklich beschallt von Weihnachtsmusik, umgeben von rot-weißen Zipfelmützen, abgehackten Tannenbäumen, Engelshaar, Lametta und der Wagenburg aus rot gestrichenen Holzbuden.
„Thorsten“, sagte ich, „komm, ich lad dich auf einen Glühwein ein.“
 
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Kommentare  

5 out of 5, weil man sich selbst findet, weil man dich findet, weil man jemanden findet, den man kennt. good job!

tomfire1972 (29.03.2009)

Vielen Dank, LG Dublin ;0)

Pia Dublin (22.12.2008)

mit deiner geschichte beschreibst du die menschen gut.
sind ja die meisten so.
die anderen in ruhe lassen und in ruhe gelassen werden.
leider ist es meistens so.
bis jemand kommt und dich ein wenig schubbst, ist mir auch schon passiert und ich bin froh darüber, dass es auch andere menschen gibt, die sich gerne mal ein wenig schubbsen lassen.
deine geschichte gefällt.


gernot


Gernot Jennerwein (19.12.2008)

Du lässt den leser darüber nachdenken, was "Weihnacht" wirklich bedeutet. Nicht Konsum und auch nicht Glühwein (der wird eh ekelig, wenn er nich mehr ganz heiß is). Vielmehr bedeutet Weihnacht einfach Freundlichkeit und Nächstenliebe.
Die Story is kurzweilig und in schönem Schreibstil verfasst.
LG


gedanke.in.ketten (17.12.2008)

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