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Fisteip - Teil 4

Romane/Serien · Spannendes
Lea fand Tommy in der Küche, wo er vor dem Aschenbecher saß, mit rechts die Zigarette hielt und seine linke Hand mit frischen Eiswürfeln kühlte.
„Sag mir nicht, dass es das ist, wonach es aussieht“, sagte sie. Er blinzelte sie zerknirscht an. Feo lag auf seinem Schoß, schnurrte verschlafen.
„Ich hab’s ein bisschen übertrieben“, sagte Tommy, „aber es ist halb so wild.“
Lea stellte die Tasche mit den Einkäufen ab, der Gedanke an ein gemütliches Abendessen war aus ihrem Kopf verschwunden.
„Hast du ’ne Schmerztablette genommen?“
„Nee“, sagte er. Er drückte die Zigarette aus, schob den Kater auf seinem Schoß zurecht, der schlafend zentimeterweise herunterrutschte. Legte man ihn sich nicht zurecht, krallte er sich kurz vor dem Absturz in die Haut.
„Ich hab noch welche von meinem Weisheitszahn. Nimm eine und dann legst du dich ins Bett.“
„Ach was“, begann Tommy, „davon wird die Hand auch nicht besser, dass ich mich ins Bett lege.“
Lea setzte sich zu ihm an den Tisch, sah ihn mit schief gelegtem Kopf an und wartete, dass er noch weitere Ausreden von sich gab. Tommy hielt ihrem Blick stand, brummte nur abweisend, als Lea laut vermutete, dass er wieder mit dem Boxen angefangen habe.
„Ich mach uns was zu essen“, sagte sie, „und ich will nicht weiter wissen, mit wem du geboxt hast.“
„Das würde ich dir auch nicht verraten.“
Während das Essen in der Mikrowelle stand, räumte sie schnell ihre Unordnung auf, suchte die Schmerztabletten für alle Fälle raus und machte nebenbei den PC an. Als sie sah, dass sie wieder eine E-mail aus dem Bates bekommen hatte, ignorierte sie es zunächst, weil sie überlegte, ob Tommy besser zwei Tabletten auf einmal nehmen sollte. Emelda kam die Treppe hochgetrabt, blieb zunächst in der Tür stehen und sah sich um, sprang dann mit einem Satz auf den PC-Stuhl, der durch den Schwung zu rotieren begann.
„Emelda, Liebling“, murmelte Lea, „würdest du bitte diese eine Mail löschen? Ich will gar nicht wissen, was David mir schon wieder schreibt.“
Emelda hob das Kinn und murrte, tat ihr aber nicht den Gefallen.
Vielleicht ist es aber auch eine Nachricht von Spike, dachte Lea, trat an den PC und öffnete die Mail. Es war keine Mail von Spike, natürlich war sie wieder von David. Lea las nur die Anrede, schloss sie wieder und beendete das Programm. Wenn es Tommy nicht gut ging, hatte sie keine Zeit für etwas anderes. Die Fertiggerichte aus der Mikrowelle schmeckten etwas nach Plastik, aber das taten sie immer. Obwohl es verdächtig war, dass die Katzen bei den Fertiggerichten nie bettelten, ließen Lea und Tommy es sich schmecken, dann setzten sie sich vor den Fernseher. Die Eiswürfel waren fast weggeschmolzen, und obwohl Tommy die Hand durchgehend gekühlt hatte, wurde der Schmerz nicht weniger. Lea hatte einen alten Liebesfilm eingeschaltet und deshalb versuchte Tommy eine Runde zu schlafen. Er döste leicht ein, aber die Hand ließ ihn nicht wirklich schlafen. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, hatte Lea ihm ein Glas Wasser und zwei der Schmerztabletten vor die Nase gesetzt.
„Du brummst im Schlaf“, sagte sie, „das machst du nur, wenn dir was weh tut.“
„Ich hab ja nicht mal geschlafen.“
Hauptsache, er konnte Widerworte geben. Lea sah ihn wieder prüfend an und schließlich tat er ihr den Gefallen und legte sich beide Tabletten auf die Zunge. Er spülte mit dem Wasser nach, legte sich wieder zurück und murmelte, er wolle seine Ruhe haben und nein, er wolle nicht ins Bett gehen. Vielleicht würde er sich noch etwas im Fernsehen ansehen wollen, wenn denn dieser öde Film endlich ein Ende gefunden hatte. Wollte er noch fernsehen und nicht direkt einschlafen, legte er die Füße meist auf den Tisch, wo dann mitunter die Katzen auf seinen Knien balancierten, aber nachdem er die Tabletten genommen hatte (er war solche Dinger nicht mehr gewöhnt), machte er sich auf der Couch lang und schob den rechten Arm unter den Kopf. Lea hob Emelda von ihm weg, die sich vor ihm breit gemacht hatte und ihn vermutlich ärgern würde, sobald er eingeschlafen war. Lea warf eine der Wolldecken über ihn, zufrieden darüber, dass er nicht einmal mehr blinzelte. Wenn er schnarchte statt zu brummen, war alles in bester Ordnung.
Tommy träumte, ein graues Pony wäre auf seine Hand getreten, gleichzeitig dachte er, dass das nicht sein könne und er es vermutlich verwechselt hätte. War nicht eher eines der gerahmten Fotos mit einem Pony darauf von der Wand und ihm auf die Hand gefallen? Darüber versuchte er sich klar zu werden, aber der Traum glitt schon wieder in eine andere Ebene ab, in der seine Hand nur noch dumpf vor sich hin pochte, er nicht mehr an das Pony dachte und sich dafür an einer Straßensperre wieder fand.
Oh Gott, war sein erster Gedanke, ich will das nicht noch mal sehen.

Es war die Straßensperre an einer der Zufahrtsstraßen, auf der linken Seite standen die ersten Wohnhäuser, rechts von ihm erstreckte sich eine Wiese, die die Jungs zum Fußballspielen nutzten. An beiden Seiten der Straße und auf dem schmalen Bürgersteig waren Stacheldrahtkreuze aufgestellt, die die Passanten und die wenigen Autos dazu zwangen, den schmalen Durchlass in der Mitte zu nehmen. Dort standen immer mindestens zwei bewaffnete Soldaten, der gepanzerte Wagen mit ihren Kollegen direkt dahinter. Gewöhnlich kontrollierten sie die Ausweise, durchsuchten die Kofferräume der Autos oder ließen sich die Einkaufstaschen der Frauen auspacken. Tommy stand irgendwo auf der Wiese, die vom Dauerregen aufgeweicht und matschig war, konnte sich nicht bewegen und war dazu verdammt, tatenlos zuzusehen. Er wusste, dass er damals anders reagiert hätte, wäre er allein unterwegs gewesen; vermutlich hätte er es nicht verhindern können, sie hätten ihn erschossen und alles hätte ein schnelles Ende genommen. Einer seiner Freunde hatte ihn daran gehindert, auf die Soldaten zuzurennen und sie anzugreifen. Wieder sah er die Soldaten in einer Gruppe herumstehen, mit den Gewehren über den Schultern, rauchend und auf ihren Vorgesetzten wartend, neben ihnen auf dem Bürgersteig lagen die regungslosen Gestalten von zwei Männern, von denen Tommy die Gesichter nicht erkennen konnte, er aber trotzdem wusste, um wen es sich handelte. Im Traum verzerrte sich seine Wahrnehmung, er stand gleichzeitig direkt neben den Toten und war doch so weit weg, dass ihn die Soldaten nicht bemerkten. Als er damals zu der Straßensperre gekommen war, auf dem Weg nach Hause, hatten sie gerade die Körper mit Planen zugedeckt und einer der Männer aus den Häusern war zu ihnen herübergelaufen, bevor sie näher kommen konnten.
„Es ist dein Daid, Tommy“, hatte er gesagt, „und Aidan. Du verschwindest besser, bevor sie dich erkennen.“
Sein Freund hatte ihn mit sich fortgezogen, über die Wiese hinweg und über Schleichwege in ihren Bezirk zurück. Tommy dachte die ganze Zeit, er hätte etwas tun müssen, er hätte wenigstens noch einen letzten Blick auf sie werfen müssen, in Erfahrung bringen, was passiert war, aber von den Nachbarn an der Straßensperre und von seinen eigenen Leuten erfuhr er schnell, wie sein Vater und sein Bruder gestorben waren. Und er konnte sich den Rest zusammenreimen. Er wollte nicht daran denken müssen, was in Belfast geschehen war, kämpfte sich aus dem Traum heraus, schaffte es aber nicht aufzuwachen. Stattdessen stand er an einer Klippe, das tosende Meer zu seinen Füßen, eine von Steinwällen unterbrochene grüne Ebene hinter sich. Er trug keine Schuhe, seine Hosen waren bis an die Knie durchnässt und als er die Arme ausbreitete, um den Wind zu spüren, erfasste ihn eine heftige Windböe und ließ ihn in Richtung Abgrund taumeln. Es machte ihm keine Angst, er beugte sich in den Wind hinunter und schloss die Augen.
Als Kind hatte er sich mal auf das Fensterbrett im dritten Stock gestellt und mit dem Gedanken gespielt, herunter zu springen, es war das gleiche Gefühl gewesen.
Im Schlaf versuchte er sich herumzudrehen, schaffte es aber nicht, weil er die Lehne im Rücken hatte, der Eisbeutel rutschte auf den Boden, unter der Decke verhakten sich seine Füße. Als Lea nach ihm sah, lag sein linker Arm quer über seinem Kopf und er schnarchte verhalten.
Ihm geht’s gut, dachte sie, morgen sieht seine Hand schon besser aus. Und wenn nicht, fahr ich ihn direkt zum Doc.
Sie machte den Abwasch und setzte sich dann an die Buchführung für das Café. In zwei Wochen hatte sie einen Termin beim Steuerberater. Sie hasste es, ihm jedes Mal erklären zu müssen, wie viel Kaffee und Donuts für private Zwecke über die Theke gegangen waren.
Wenn Tommy auf der Couch weiterschlief, hieß das, dass sie allein im Bett schlafen müsste. Der Gedanke gefiel ihr nicht, aber sie würde Tommy nicht allein deswegen wecken, nur damit sie in Ruhe schlafen konnte. Ganz zur Not würde sie sich die Katzen packen und festhalten.
Sie saß lange vor der Buchführung, löffelte dabei noch einen Joghurt, machte dann doch noch einmal Davids E-mail auf. Er schrieb, er könne nicht schlafen, er mache sich viele Gedanken und könne das nicht einfach abstellen. Er wollte ein guter Freund sein, nicht mehr, weil er wusste, wie schlecht seine Chancen standen. Aber trotz allem wollte er nicht aufgeben und er habe schon jede Menge Ideen für das Café-Video. Wenn Lea es ihm nicht übel nahm, würde er gern wochenlang Beleuchtungsscheinwerfer einrichten oder Kameras halten.
Er will in meiner Nähe bleiben, dachte Lea, verschob die Mail in den Papierkorb, er tut so, als habe er keine ernste Absicht, aber er lauert im Hintergrund. Ich weiß nicht, ob ich ihn loswerden oder diese Freundschaftsnummer weitermachen soll. Tommy werde ich davon jedenfalls nichts erzählen.

Mitten in der Nacht, fast schon am frühen Morgen, kam Tommy zu ihr ins Bett geschlichen, schob die Katzen beiseite, die sich auf seiner Bettseite breit gemacht hatten.
„Hey“, murmelte Lea, „geht’s dir besser?“
„Glaub schon.“ Er war so verschlafen, dass er kaum mitbekam, dass sie mit ihm sprach, er drehte sich auf den Bauch und war sofort wieder eingeschlafen.
Am Morgen, als sie zusammen frühstückten, hatte er den schlechten Traum vergessen. Morgens konnte er sich selten an die Träume erinnern, nicht einmal dann, wenn sie angenehm gewesen waren.
Seine Hand fühlte sich taub an, aber er glaubte nicht, dass er durch Verns Bestrafung etwas kaputt gemacht hatte, was nicht auch von allein wieder heilen würde – er zog das Tape nach dem Duschen etwas fester an und versuchte daran zu denken, die Hand während des Tages hoch zu halten.

Lea war noch dabei, das Café auf den ersten Ansturm vorzubereiten, nahm die Lieferung Scones und Donuts entgegen, als Spike und David bepackt mit Alukoffern hereinkamen und fragten, wo sie ihre Sachen abstellen könnten.
„Abstellen? Was habt ihr denn vor?“
„Wir machen ein paar Aufnahmen.“
Lea wuchtete ein Tablett mit gespülten Tassen von der Theke herunter, räumte sie mit beiden Händen in das offene Regal.
„Hier fällt gleich die wilde Meute ein. Das passt mir überhaupt nicht.“
Spike hatte sich zurecht gemacht, wie er wohl glaubte, als Regisseur aussehen zu müssen. Er hatte sogar an die schwarze Baskenmütze gedacht, die abgeschabte Lederweste war ihm deutlich zu groß und rutschte ihm ständig rechtslastig über die Schulter. Er stellte seinen Koffer neben der Theke ab, lehnte sich zurück und sagte mit einem herumschweifenden Blick: „Die Kamera wird dich dabei beobachten, du musst einfach nur das tun, was du immer tust. Du beachtest sie einfach gar nicht und fertig.“
„Aber nur, wenn ihr mir und meinen Gästen nicht im Weg herumsteht.“
David trug eindeutig den schwereren Koffer, stellte ihn vorsichtig ab und kam näher. An seinem Verhalten war nicht zu erkennen, dass er E-mails an eine Angebetete schrieb, die jetzt vor ihm stand. Er konnte sich gut verstellen.
„Das versprechen wir hoch und heilig.“
„Kaffee, bevor ihr anfangt?“
Die beiden Jungs bauten das Stativ in die Ecke neben der Theke auf, wo Lea zwar aufpassen musste, es nicht mit dem Hintern beim vorbeigehen umzuhauen, aber dort war die Kamera wenigstens außer Reichweite der Gäste. Es war eine kleine Kamera, die nicht sofort ins Auge fiel und Spike sagte, er habe sie extra für diesen Zweck mitgebracht, weil er nicht wollte, dass alle Gäste mit einem irritierten Lächeln auf dem Film zu sehen waren. David setzte sich an die Theke, wo er sich mit dem Rücken zur Kamera drehen konnte.
Eine halbe Stunde später kamen die ersten hungrigen Studenten und Anwohner herein, Spike saß unauffällig mit seinem Kaffee neben dem Stativ und bediente über eine kleine Fernbedienung die Kamera. Nur wenige bemerkten ihn überhaupt, offenbar dachten die meisten, es handle sich um eine neumodische Art von Kleiderständer. Lea hatte eine ihrer ruhigen CDs angemacht und fragte im Vorbeigehen, ob sie die Lalla ausmachen solle, aber Spike schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen nach oben.
In der üblichen Hektik vergaß Lea wirklich die Kamera, trug volle und leere Tassen hin und her, kassierte und klemmte nebenbei den Keil unter die Eingangstür, um frische Luft herein zu lassen. Auf der Straße winkte sie zu einer alten Freundin hinüber, die mal wieder keine Zeit hatte, auf einen Kaffee hereinzukommen. Sie brachte ihre kleine Tochter in den Kindergarten und würde danach zur Arbeit hetzen. Einen kurzen Moment lang (einer der Geistesblitze, die durch den normalen Alltag huschten und die keinen wirklichen Nachklang im Bewusstsein hinterließen) dachte sie daran, dass sie auch im besten Alter war, um so eine kleine Krabbe in die Welt zu setzen. Ein kleines Mädchen (mit ihrem ursprünglich dunklen lockigen Haar und mit Tommys Augen), die vermutlich ein Faible für hübsche Kleidchen entwickeln würde. Tommy als Papa? Das schien nicht abwegig, wenn sie auch noch nie darüber gesprochen hatten. Sie nahm die Pille und bekam ihre Periode auf die Minute genau und deshalb hatte es noch nie einen Grund gegeben, über Nachwuchs zu sprechen.
Jemand rief nach ihr, sie rotierte zwischen Kaffeemaschine und den Tischen, hatte so viel zu tun, dass sie nicht sofort mitbekam, dass Tommy sich mit einer Zeitung an den Tisch neben der Tür gesetzt hatte. Als sie ihn endlich entdeckte, begrüßte sie ihn mit einem flüchtigen Kuss.
„Hey, Großer“, sagte sie, „was gibt’s neues?“
„Nur das Alte.“
Er trug die blaue Security-Jacke, darunter ein frisches Hemd, das er selbst am Morgen gebügelt hatte, sein kurzes Haar war unordentlich und er hatte sich schlecht rasiert. Er machte das lieber nachlässig, als sich ständig ins Gesicht zu schneiden.
„Willst du was trinken?“
Er hätte sich einen Kaffee bestellt, aber sein Funkgerät begann zu knarren. Mit einer bedauernden Geste faltete er die Zeitung zusammen, drückte Lea einen Kuss auf die Stirn und verließ das Café. David hatte das kurze Zusammentreffen beobachtet, hoffte, dass es auf dem Film sein würde. Als Tommy sich zu Lea herunterbeugte, dann an den Fenstern vorbei die Straße hinunter verschwand, dabei in das Funkgerät sprach, dachte David darüber nach, wie die beiden wohl zu Hause miteinander umgingen. Hatte er die Mails gesehen? Sicher nicht. Saßen sie jeden Abend bei Tiefkühlpizza vor dem Fernseher? Ging Lea allein aus, traf sie sich mit Freunden, um mal von zu Hause rauszukommen? Tommy war ein alter Knochen und er konnte ihn sich nicht beim tanzen bis vier Uhr morgens vorstellen.
Ich muss ihn irgendwie allein erwischen, dachte David, nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse, am besten auf dem Campus. Ich muss es langsam angehen lassen, sonst vermassel ich das ganze Ding.
Tommy, Steve Garner und Scott Soucy hielten eine der regelmäßigen Schulungen für das Lehrpersonal ab, er machte die Bemerkung, dass jeder ein wenig aufmerksamer mit Schülern umgehen sollte, die ein abweichendes Verhalten zeigten.
Er sagte, er könne sich nicht darauf verlassen, dass jedes geprügelte Mädchen das Notruftelefon benutzte, um zu zeigen, dass etwas nicht stimmte. Die Lehrer hatten Schüler und Schülerinnen jeden Tag vor Augen und mussten einfach etwas bemerken. Die Vertrauenslehrerin sagte daraufhin, dass sie bei einem Schüler zwei blitzblaue Augen bemerkt habe und er nicht sagen wollte, was passiert war.
„Vielleicht ist er gegen eine Glastür gelaufen“, sagte Tommy erstaunlich humorlos, „aber vermutlich hat er nur mehr abgebissen, als er runterschlucken konnte.“
„Was soll das heißen?“
„Er wollte am Sparring teilnehmen und dachte, er könne etwas dabei lernen.“
Nach der Besprechung aßen Tommy und Douglas im Diner eine Kleinigkeit. Douglas fragte, ob er nicht Lust hätte, am Wochenende zu einem Footballspiel der Bobcats mitzukommen, er habe noch eine Karte übrig.
„Ich komme gern mit, klar“, sagte Tommy und Douglas konnte sich die zusätzliche Bemerkung nicht verkneifen, dass es allerdings richtiges Football sein würde und nicht diese langweilige europäische Art von Ballsport, die Tommy als Kind gespielt hatte. Daraufhin erwiderte Tommy, er selbst habe lieber Rugby gespielt und niemand könne behaupten, dass das nicht eine harte Sportart wäre. Es war Football ohne überflüssige Polsterungen.
„Ich hab mal einem aus der gegnerischen Mannschaft ein Ohr halb abgerissen“, sagte er, „und während meiner aktiven Spielzeit hab ich ’ne Menge Finger gebrochen und tausend blaue Flecke verpasst. Das war ’ne schöne Zeit.“
In seinen Gedanken bildeten sich andere Bilder, die er sofort wieder verdrängte. Wenn er zu oft daran dachte, konnte es passieren, dass ihm aus Versehen etwas herausrutschte. Dann sagte er wohlmöglich „zertrümmerte Knie“ anstatt „gebrochene Finger“.
Douglas grinste fröhlich, hatte keine Ahnung, wie es in Tommys früherem Leben ausgesehen hatte. Sie trennten sich auf dem Weg zum Campus, wo Tommy mit seinem Fahrrad auf Kontrollfahrt ging. Er fuhr das gesamte Gelände ab, wurde von einigen Studenten angesprochen. Ein Mädchen, sie stellte sich als Tina vor, fragte ihn, weshalb sie ihren Hund nicht mitbringen dürfe, es würde niemand merken, dass er überhaupt da wäre. Sie sagte, die Trennung würde ihr wirklich zu schaffen machen und sie käme kaum zum studieren. Tommy stieg vom Rad, stellte es neben sich ab und war versucht, sich eine Zigarette anzuzünden. Er ließ es lieber, weil es seltsam ausgesehen hätte.
„Ich kann ihnen da leider nicht helfen, Miss“, sagte er, „wir können bei der Hausordnung keine Ausnahme machen. Und Haustiere sind nun mal nicht erlaubt. Es würde ein heilloses Chaos geben. Wenn wir es einem erlauben, müssen wir es auch bei allen anderen durch gehen lassen. Das geht leider nicht.“
„Aber wenn ich einen Blindenhund hätte...“
„Ein Blindenhund ist kein Haustier“, sagte Tommy und lächelte kurz, „deshalb würde er nicht unter das Verbot fallen.“
„Ich kann nicht leben ohne ihn.“
„Sie werden es versuchen müssen.“
„Wenn es eine Möglichkeit gäbe“, begann Tina erneut, obwohl sie wissen musste, wie ausweglos es war, „würden sie mir dann sagen, was ich tun kann?“
„Ich wäre der erste, der an sie denkt. Aber kommen sie bitte nicht auf die Idee, sich das Augenlicht zu ruinieren, nur, um ihren Hund bei sich haben zu können. Da er nämlich kein Blindenhund ist, würde ihnen das auch nichts nützen. Okay?“
„Okay“, sagte das Mädchen. Als er wieder aufs Rad stieg, hielt sie ihn noch einmal zurück und sagte: „Ich soll ihnen Danke von Nicole sagen. Es geht ihr besser und sie kommt nächste Woche zurück.“
Sie fragte nicht, ob er etwas mit Vern angestellt hatte, ob er sich um die Sache gekümmert habe, nickte ihm nur noch einmal zu. Vielleicht hatte es sich schnell herumgesprochen, was er mit Vern veranstaltet hatte und aus lauter Vorsicht sprach ihn nur niemand darauf an. Oder sie sagten nichts, weil sie nichts ahnten?
Darüber dachte er nicht näher nach. Es gab Dinge, die man einfach rollen lassen musste.
In der Nähe der Werkstätten wurde er von dem blauen Irokesen angehalten, der ölverschmiert war und in einem zu großen Overall steckte.
„Wie kann ich meinen Kollegen daran hindern, bis in die Nacht Musik zu hören?“ fragte er, wischte sich unvorsichtig durch das Gesicht. „Ich werde langsam wahnsinnig.“
Sie sprachen lange über das Problem, bis herauskam, dass der Kollege nicht etwa im Nebenzimmer die Musik aufdrehte, sondern sie sich das Zimmer teilten und er nicht laut war, sondern nur die falsche Musik hörte. Tommy konnte sich das Lachen nicht verkneifen, sagte, dass ihm nur ein Zimmerwechsel helfen konnte, wenn er nicht in der Lage war, seinen Musikgeschmack zu erweitern.
„Er hört Marschkapellenmusik“, sagte der Iro im verzweifelt-vertraulichen Ton, „ich glaube nicht, dass es was schlimmeres gibt.“
Tommy stimmte ihm zu, obwohl ihm eine Menge dazu eingefallen wäre.
Auf dem Heimweg, als er in seinem Wagen saß, rief Lea an und sagte, dass es spät werden könnte, Spike habe sie zum ersten Schnitt des Films eingeladen und vermutlich würden sie den ganzen Abend im Videoraum verbringen.
„Hättest du dich früher gemeldet, hätte ich dich abgeholt“, sagte Tommy, „dann wären wir zusammen nach Hause gefahren.“
Auf seinem Schreibtisch lag genug Aktenkram, der auf seine Erledigung wartete, den er geduldig immer wieder vor sich herschob.
„Entschuldigung“, sagte Lea und machte schmatzende Kussgeräusche, „Spike hat mich eben erst angerufen. Ich berichte ausführlich, wenn ich nach Hause komme und du noch nicht schläfst.“
Im Fernsehen lief ein Marx Brothers Film, den er sich ansehen wollte, Feo auf dem Bauch, die Weiber zu den Füßen und bei einer Tasse Tee mit Milch. Bei schwarzem Tee mit Milch sah Lea ihn gewöhnlich schweigend von der Seite an, als könne sie nicht glauben, dass er so was trank. Vielleicht wünschte sie sich dann insgeheim, er würde Bier trinken.

Aus dem Café brachte Lea eine Thermoskanne Kaffee und die übrig gebliebenen Donuts mit, saß dann neben Spike auf einem ausgeleierten Drehstuhl vor dem PC.
„Ich dachte, wir würden das Video schneiden“, sagte sie und Spike erklärte: „Machen wir auch, aber digital. Mit dem PC lässt sich so was viel einfacher bearbeiten.“
Sie sahen sich zunächst die rohen Aufnahmen an, bei denen Lea zu stöhnen begann, dass ihr Hintern zu breit wirke. Spike grunzte nur und David, der hinter ihnen Platz genommen hatte, flüsterte ihr zu, dass sie wirklich keinen breiten Hintern habe. Sie flüsterte zurück, dass sie auch keinen breiten Hintern habe, er auf Film nur so wirke.
„Fettnapf hallo“, sagte sie.
Spike ließ den Film vorlaufen, bis Lea „Stop“ rief und ihm auf den Arm klatschte.
„Das können wir nicht benutzen, Spike. Tommy dreht mir den Hals um.“
Es sah nett aus, wie sie miteinander sprachen, Tommy (der noch größer und breiter aussah auf Film) sich von ihr verabschiedete und nach draußen ging; es war ihr schon eine Spur zu intim, wie die Kamera sie verfolgte, in der Tür stehend Tommy nachsah und darüber grübelnd, wie eine mögliche Familienplanung aussehen könnte. Von ihren Gedanken wusste niemand was, aber sie fand ihren Blick selbst im Profil zu weiblich.
„Wir könnten es stark kürzen“, sagte Spike, hielt das Bild an und ließ es zurücklaufen, „es ist nur ein kleines Steinchen im Puzzle. Dagegen kann er nichts haben.“
„Erst ab da, wo er der Kamera den Rücken zudreht.“ Sie tippte auf den Bildschirm. „Dann sag ich ja.“
„In Ordnung.“
Sie begannen die Szenen zu schneiden und mit den Standbildern und den anderen Aufnahmen zu kombinieren, legten provisorische Musik darunter. Lea versuchte, den vorbereiteten Text zu lesen, aber sie fing immer wieder an zu kichern und fragte, ob David das übernehmen würde.
„Du hast eine angenehme Stimme“, sagte sie, reichte ihm den Zettel.
David brauchte zwei Anläufe, dann las er den Text ruhig und deutlich herunter, sprach dabei in das Mikro.
„Hervorragend“, sagte Spike, „und jetzt geht’s an die Feinarbeit.“
Sie saßen lange vor dem PC, bis Spike die erste Version auf CD brannte und diese Lea feierlich überreichte. Es war die Version in Anlehnung an Fellini und Lea mochte besonders die Szenen, in denen nur ihre Hände mit den Kaffeetassen in Großaufnahme zu sehen waren. Es hatte etwas Elegantes an sich und obwohl sie sich schnell bewegte, schwappte nicht ein Tropfen Kaffee über den Rand. Die Musik, die sie ausgesucht hatten, waren muntere Banjostücke, die ihr nicht sonderlich gefielen, aber das ließe sich noch immer abändern. Davids Stimme hatte einen weichen Unterton, es passte hervorragend zusammen. Spike hatte eine farbige und eine schwarz-weiß Version überspielt, sagte, man könne jede einzelne Sequenz auch noch bearbeiten und verfremden.
„Schwarz-weiß wirkt besonders, wenn man die Grautöne entfernt“, sagte er, „und mit dem Rohmaterial und nachgedrehten Szenen kann man alles Weitere zaubern. Bliebt Fellini dein Favorit?“
„Neunundneunzig Prozent“, sagte Lea.
Sie hatten den Kaffee ausgetrunken und es war kein Donut mehr übrig. Spike sagte, er würde schnell auf Toilette verschwinden und dann könnten sie noch ein Label für die CD-Hülle entwerfen.
Version eins, dachte Lea, drehte die CD in ihren Händen, bin gespannt, wie viel Versionen wir brauchen, um es perfekt werden zu lassen.
„Holt Tommy dich nachher ab?“ fragte David plötzlich, während er im hinteren Teil des Raumes mit Videokassetten hantierte und zwei Recorder laufen ließ.
„Nein, ich bin mit meinem Wagen hier. Er hatte früher Feierabend.“
„Er erzählt nicht viel von sich, oder?“
Lea drehte sich zu ihm herum, stoppte die Bewegung des Stuhls mit den Füßen ab. „Was?“
„Ich wette, du weißt nicht mal, aus welcher Stadt er kommt, wo er groß geworden ist oder auf welche Schulen er gegangen ist. Hat er einen Abschluss? Hat er irgendeine Ausbildung gemacht? Wo ist er nach seiner Einwanderung überall gewesen?“
„Stop Stop Stop“, sagte sie, „du hüpfst gerade munter ins Sperrgebiet, wo ’ne Menge Landminen liegen. Und wo du überhaupt nichts zu suchen hast.“
„Aber es ist doch so. Ich kann ihn sehr genau einschätzen. Er ist von der Sorte, der dich sitzen lässt, wenn es schwierig wird.“
Lea konnte sich nur schwer dran erinnern, wann sie das letzte Mal so wütend gewesen war – vielleicht, als sie das erste Mal bei der Bank rausgeflogen war, weil man sie nicht für kreditwürdig empfand – wie konnte David so etwas von sich geben und ihr dabei auch noch ins Gesicht sehen. Er sah sie ernst an, mit schief gelegtem Kopf, sich offensichtlich keiner Schuld bewusst.
„Du wirst sehen, dass es so kommt. Ich mag dich sehr, und ich möchte dir das nicht sagen, aber ich glaube, er ist nicht das, was er vorgibt.“
„Ich lebe seit fast fünf Jahren mit ihm zusammen“, sagte sie, „und wenn ich mit seinen Eigenarten zurecht komme, ist das ganz allein meine Sache. Du hast dich da nicht einzumischen, ganz egal, aus welchen Gründen.“ Sie brach ab, als Spike zurückkam, der nichts von der geladenen Atmosphäre bemerkte und ein Cover mit einem Haufen Kaffeebohnen und einem Schriftzug in Anlehnung an dem Schild über dem Café entwarf.
„Vielen Dank“, sagte sie, als das Cover ausgedruckt war, „ich muss jetzt nach Hause.“
Sie vergaß ihre Thermoskanne, griff nur nach ihre Jacke und rauschte davon. Spike fuhr den PC runter, suchte nach der Kassette, auf der die Originalaufnahmen waren, David reichte sie ihm.
„Was ist mir ihr los?“
„Keine Ahnung“, sagte David. Er schaltete die Recorder aus, steckte sich die unbeschriftete Videokassette in die Jackentasche.

Wie kann er so was behaupten? dachte sie, wie kann er es wagen, sich auf so eine Art zwischen uns zu drängen? Dieser kleine Halbaffe. Wenn ich Tommy davon erzähle, geht er an die Decke. Es stimmt schon, dass er nie viel über sich erzählt hat, aber das ist vollkommen egal. Das geht niemanden etwas an. Er ist älter als ich und hat deshalb mehr hinter sich. Es ist seine Sache, was er mir erzählt und was nicht. Ich weiß eine Menge von früher über ihn, aber davon werde ich David nichts erzählen. Das will er offensichtlich nur.
„Ich könnte mich tot ärgern über ihn“, murmelte Lea in das leere Auto. Sie stellte ihren Wagen in der Auffahrt ab, klemmte den Sicherheitsgurt in der Tür ein. Sie hatte den Wagen schief eingeparkt und versperrte Tommys Wagen den Weg, wenn er als erstes raus wollte.
Ich sollte mir nichts anmerken lassen, dachte sie, betrat das Haus und wurde von den Katzen begrüßt, wenn er merkt, dass ich wütend bin, will er wissen, was passiert ist.
Mit Emelda auf dem Arm, die sich schnurrend an ihren Hals drückte, ging sie ins Schlafzimmer, wo sie ihre Schuhe in die Ecke schlenkerte und ihre Tasche ablegte.
Oh Mann, dachte sie, und ich hab noch gesagt, dass ich alles haarklein berichten werde.
Tommy saß mit hochgelegten Füßen vor dem Fernseher, konnte sich nicht bewegen, weil Feo es sich auf seinem Bauch breit gemacht hatte. Sie kuschelte sich an ihn, er legte einen Arm um ihre Schultern.
„Du siehst geschafft aus.“
„Es war anstrengend, den ganzen Abend in einem dunklen Raum zu hocken und auf einen flimmernden kleinen Bildschirm zu starren.“
„Hat es sich gelohnt?“
„Ja“, sagte sie seufzend, rieb sich mit dem Zeigefinger das linke Auge, verschmierte ihr Make-up, „es hat sich ganz eindeutig gelohnt.“
Sie ließ Emelda los, die sich frei zappelte, sich zwischen ihnen setzte und sich zu putzen begann.
„Wir können es uns morgen mal ansehen. Hast du ’ne Kassette mitgebracht?“
„Eine CD. Immer auf dem neuesten technischen Stand.“
Sie sahen sich die Spätnachrichten an und dann machte Tommy noch eine Schüssel Nudeln, die sie im Bett sitzend aßen. Lea ließ eine Nudel vor den Katzen herumbaumeln, die danach schnappten und hochsprangen. Das Spiel ging so lange, bis sie begriffen, dass es nur gekochte Nudeln und sie nicht wirklich lecker waren.
„Du bist nicht zufrieden“, bemerkte Tommy nebenbei, den Mund voller Nudeln, „hast du’s dir anders vorgestellt?“
„Das Ergebnis ist schon Okay“, meinte Lea, „aber der Tag war einfach nur stressig. Ich hab doch gemerkt, dass fünf Jahre Altersunterschied ’ne Menge ausmachen können.“ Sie wartete, bis Tommy die Nudeln runtergeschluckt hatte und sagte: „Glaubst du, unser Altersunterschied könnte irgendwann mal zum Problem werden?“
„Nicht, solange du versprichst, irgendwann meinen Rollstuhl zu schieben.“
Sie platzte heraus vor Lachen, beugte sich zu ihm herüber.
„Komm her“, rief sie, „füttern tu ich dich jetzt schon.“

Tommy träumte in dieser Nacht von einem Ereignis von vor einem Jahr, als er morgens aufgewacht war und sich nicht mehr hatte bewegen können. Das machte er in dem Traum noch einmal durch, die lähmenden Schmerzen im ganzen Körper, als sei er aus dem zwanzigsten Stock eines Hochhauses gefallen. Er sagte Lea, sie solle Larry anrufen und ihn krank melden, er würde sich mit Aspirin wieder soweit hinkriegen, dass er morgen wieder arbeiten konnte. Lea machte sich Sorgen, wie er so dalag, sich nicht rühren konnte und vor Schmerzen bleich im Gesicht wurde. Sie wollte bei ihm zu Hause bleiben, aber er schickte sie ins Café und sagte, wenn es ihm schlechter ginge, würde er sie über das Mobile anrufen.
„Ich schlaf einfach noch was“, sagte er, „es ist sicher nur eine Art Grippe.“
Was es auch war, Grippe war es nicht – er bekam keinen Husten, keinen Schnupfen, er konnte sich nur nicht bewegen und hatte offensichtlich Fieber. Er schlief unruhig, aber nach einigen Stunden ging es ihm soweit besser, dass er wieder aufstehen und laufen konnte.
An diesem Tag trank er eine Menge Mineralwasser, das einzige, was er bei sich behalten konnte, ernährte sich nur von Aspirin und ging am nächsten Tag wieder arbeiten. Ob er noch Fieber hatte, wusste er nicht genau, weil er es nicht gemessen hatte. In seinem Traum lag er wieder im Bett, versuchte sich nicht zu bewegen, dachte darüber nach, was wohl die alten Freunde machten und wie es ihnen ginge. Er dachte an Una, an den Moment, als er sie zu Boden gerissen hatte, verborgen in seinen Armen, der erschrockene Ausdruck auf ihrem Gesicht, die großen Blutspritzer auf ihrem Kleid.
Beim Klang des Weckers schwand der Traum, er murmelte etwas auf gälisch und rollte sich auf die andere Seite, um sich aus dem Bett zu hebeln. Lea steckte ihren Kopf unter das Kissen und murmelte, sie wolle noch zehn Minuten liegen bleiben.
„Ich hol dich dann“, sagte Tommy.
Sie hatte sich unter das Kissen gewühlt, blinzelte durch den Spalt in das milchige Licht des frühen Morgens, tastete mit der rechten Hand auf Tommys Seite hinüber, die noch warm war.
Es gibt wirklich vieles, was ich ihn fragen möchte, dachte sie, Dinge über die er nie spricht. Aber ich werde mich nicht aufdrängen. Wenn er Gründe hat, darüber mit niemandem zu sprechen, nicht mal mit mir, dann akzeptier ich das.
Sie seufzte, hoffte, David würde sie in Ruhe lassen und nahm sich vor, eingehende Mails aus dem Bates direkt zu löschen. Das Video hatte einen schlechten Beigeschmack bekommen, trotzdem würde sie es sich gemeinsam mit Tommy ansehen und es an ein paar Freunde verschicken. Der Beigeschmack und die Erinnerung an David würden vergehen, soviel war sicher.
Sie dachte an ihr wundervolles kleines Café, schlug die Decke weg und stand auf. Im Flur, wo ihre Babyfotos an den Wänden hingen, in Rahmen, die ihre Mutter ausgesucht hatte, kam Tommy ihr mit einer Tasse Kaffee entgegen.
„Ich dachte mir...“ begann er, reichte Lea die Tasse. Sie sah an ihm herunter und begann zu lachen. Mit der flachen Hand deckte sie die Tasse ab.
„Was ist das?“
„Ich hatte kalte Füße. Der Fußboden ist heute kälter als sonst, findest du nicht?“
„Vielleicht ein wenig. Gibt mir einen ab.“
Tommy schubste ihr einen der rosaroten plüschigen Hausschuhe zu, die er an den Füßen hatte.
„Was hast du heute vor?“
„Wir könnten noch mal versuchen ins Kino zu gehen.“
„Hab ich nichts gegen einzuwenden.“

Gegen Mittag kam Spike ins Café und brachte die Thermoskanne zurück. Er hatte sie sogar einmal umgespült.
„Ich kann mich irren“, sagte er, „aber ich hatte das Gefühl, dass da gestern Abend etwas schief gelaufen ist. Ich hab David gefragt, aber er wollte nicht mit der Sprache rausrücken.“
„Er hat sich im Ton vergriffen.“ Lea machte eine das-passiert-schonmal-Geste. „Ich nehm ihm das nicht übel.“
„Er hat mir erzählt, dass er gewisse Absichten hat.“ Spike war es deutlich unangenehm, darüber zu sprechen. „Ich hab ihm gesagt, er solle es sein lassen.“
„Damit komme ich schon zurecht. Ich danke dir für das Video. Wenn ich für die Änderungen bereit bin, komm ich auf dich zu.“
Sie fanden am Abend tatsächlich einen Film, den sie sich beide ansehen wollten. Im Kinofoyer der Shopping Mall von Lewiston, wo Lea sich an die Kasse stellte, um die reservierten Karten abzuholen, besah Tommy sich die Aushänge der Filme, die demnächst anlaufen würden. Er wanderte von einem Plakat zum nächsten, sah sich ab und zu nach Lea um, wie weit sie in der Schlange vorgerückt war. Das war eines der Dinge, die sich in hundert Jahren nicht ändern würden. An Kinokassen stand man grundsätzlich an, ob man die Karten nur abholte oder erst kaufen wollte. Es gab die Ankündigung eines neuen VanDamme-Films (den Lea immer VerDammt nannte und sich jedes Mal fragte, was das für ein Ei auf seiner Stirn sein könnte), eine Literaturverfilmung zum weinen, ein neuer Tom Hanks (vielversprechend wie immer) und ganz hinten in der Ecke, wo fast niemand hinging, weil man sich fast unter die Treppe drücken musste, hing die Ankündigung eines Filmes von Paul Greengrass. Der Titel zauberte ihm Schweißtropfen auf die Stirn, er wollte sich abwenden und es ignorieren, aber seine Füße trugen ihn näher heran und er blieb davor stehen, unfähig, den Blick anzuwenden.
Sie haben es verfilmt, dachte er, das ist unglaublich, sie haben einen Film darüber gemacht.
Jemand berührte seinen Arm, er zuckte zusammen, fühlte sich ertappt in seinen Gedanken. Lea wedelte mit den Karten vor seinen Augen herum.
„Hey, wer hat dich denn hypnotisiert?“ sagte sie, „was ist das für ein Film?“ Sie las die Namen auf dem Plakat, mit denen sie allerdings nichts anfangen konnte.
„Irgendwas Politisches“, sagte er, betete, sie würde nicht weiter nachfragen. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren zu heiser und zu rau, er räusperte sich, aber sein Hals war trocken wie ein Kaminschlot. „Irgendwas über eine Demonstration, bei der ein paar Leute erschossen wurden.“
„Oh“, machte Lea, als fiele ihr gerade etwas ein. Tommy sah zu ihr hinunter, ein einziger Gedanke raste wie ein Ping-Pong-Ball durch seinen Schädel: Frag mich nicht, ob ich etwas darüber weiß. Frag mich nicht.
„Wie Kent-State.“ Wieder wedelte sie mit den Karten. „Meinst du, es lohnt sich, ihn anzusehen?“
„Keine Ahnung“, sagte er. Er hatte seinerseits keine Ahnung, was mit Kent State gemeint war, aber sicher war, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass dieser Film von Nordirland handelte, vom 30. Januar 1972, dem bloody sunday.
Es wären auch andere Ereignisse wert gewesen, verfilmt zu werden, dachte er, aber vielleicht kommt das ja noch. Es ist gut, wenn es immer wieder jemanden gibt, der diese Wunden offen hält und darin herumstochert.
„Unser Film fängt gleich an“, sagte Lea, zog ihn zur Treppe hinüber, „ich muss mir noch Popcorn kaufen gehen.“
„Und du könntest die Werbung verpassen.“
Den Werbeblock vor dem Film nutzte sie gewöhnlich dazu, alle Fressalien um sich herum zu verteilen, dabei erzählte sie gerne, wann sie das erste Mal einen richtigen Horrorfilm gesehen hatte, in welchen Schauspieler sie unsterblich verliebt gewesen war und welche Schauspielerin sie noch immer zum kotzen fand.
„Meg Ryan ist doch abartig, oder?“ sagte sie, lächelte dabei den Kartenabreißer an, „sie klimpert mit den Augen, zieht ’ne Schnute und macht ständig diese blöden Kopfdrehungen. Soll das komisch sein? Und sie macht es in jedem ihrer Filme. Weißt du, wer wirklich komisch ist?“
„Sag’s mir“, sagte Tommy. Er reichte seine Eintrittskarte, ging voraus durch den schmalen Gang, der in den Kinosaal führte.
„Die einzige, die ich als wirklich komisch bezeichnen würde ist Ellen Barkin. Alle anderen kannst du vergessen.“
„Welche von denen ist das?“
„Ich zeig sie dir bei Gelegenheit.“
Sie betraten den halbdunklen Kinosaal, ein großer Raum angefüllt mit roten Plüschsitzen in gebogenen Reihen, um sie herum Gelächter und lautes Geplauder. Tommy ging vor durch die Reihen, balancierte in einem Arm ihr Süßkram, setzte sich auf seinen Platz. Er hatte den Platz rechts neben sich freigelassen, damit Lea nicht an ihm vorbei musste. Die Reihen in der Mitte des Saales waren fast vollständig besetzt. Lea hatte herumgetrödelt, noch vor der Sitzreihe ihre Jeansjacke ausgezogen und sie sich über den Arm gehängt. Sie schlängelte sich an den Knien und abgestellten Taschen vorbei, blieb neben Tommy stehen und sagte in einem freundlichen Ton, als würde sie mit einem Fremden sprechen: „Entschuldigen sie, sie sitzen auf meinem Platz.“
„Setzen sie sich doch auf den freien.“
„Aber das da ist mein Platz, wo sie sitzen.“ Sie sagte das ohne lachen zu müssen. „Ich möchte sie bitten, meinen Platz freizumachen.“
Sie zog das Geplänkel durch, aufmerksam verfolgt von allen in der Nähe sitzenden, bis Tommy sie bei den Hüften packte und sie neben sich in den Sitz zog, sie einen spitzen Schrei ausstieß, der alle zusammenfahren ließ. Sie konnte Jamie Lee Curtis wirklich Konkurrenz machen, wenn sie wollte.
„Hör auf damit“, flüsterte Tommy, „wir werden noch rausgeschmissen.“
„Gib mir mein Popcorn“, erwiderte sie ungerührt, warf einen Blick um sich herum und sah in die irritierten Gesichter. Um alle davon zu überzeugen, dass sie nur Spaß gemacht hatte, beugte sie sich Tommy entgegen und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
Dieses Spielchen hatte Lea irgendwann einmal so weit getrieben, dass ein älteres Ehepaar ihr zur Hilfe geeilt war – beide heilig erzürnt darüber, wie dieser Mann es wagen konnte, sie körperlich anzugreifen. Sie hatten sich mutig und lautstark eingemischt und sich kaum beruhigen können, obwohl Lea sofort beschwichtigend erklärt hatte, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Fast hätte die alte Frau Tommy mit der Handtasche geschlagen. Lea hatte Tommy auf dem Parkplatz des Wal-Marts in Auburn beschuldigt, ihr den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt zu haben, dann hatten beide eine heftig aussehende Schubserei angefangen. Sie hatten es beide komisch gefunden, bis der alte Mann, eingehakt bei seiner Frau und auf einen Stock gestützt, gezetert hatte, er würde den Wachdienst rufen. Seit dem waren sie etwas vorsichtiger geworden.
Der Film begann, Lea saß inmitten ihres großzügig verteilten Süßkrams, den Kopf bei Tommy angelehnt. So konnte sie es zwei Stunden lang aushalten, außer es wurde zu spannend oder zu gruselig, dann hockte sie weit nach vorn gebeugt auf der Kante, um ja nichts zu verpassen oder schlug sich weit in den Sitz gerutscht die Jacke vor das Gesicht. Gewöhnlich konnte Tommy im Kino ganz entspannt abschalten und es ärgerte ihn auch nicht, wenn Lea sich ab und zu an seine Seite hängte und so Kommentare abgab wie „Der, der die Fotos seiner Frau und Kinder herumzeigt, stirbt als erstes“, oder „Pass auf, gleich fällt sie hin“, und „Mikro im Bild.“ Nur einmal hatte er sie mit seiner Reaktion überrascht – da hatten sie den Trailer zu einem Pitt/Ford Film gesehen und als er Brad Pitts Akzent gehört hatte, hatte er sich an seiner Coke verschluckt und gehustet, bis ihm das Wasser aus den Augen gelaufen war.
„Ich meine nur diesen Bart“, war seine Erklärung gewesen, „der sieht aus, als hätten sie ihm das haarige Hinterteil einer Ziege angeklebt.“
Hat niemand versucht, ihm den Dialekt richtig beizubringen? hatte er gedacht, das hörte sich ja an, als hätte er sich alte Monty Python Bänder zur Vorlage genommen.

Bei diesem Film kamen sie beide gut weg. Er bekam seine Elmore Leonard-Verfilmung und konnte sich Jennifer Lopez im Ganzen und ihren Hintern insbesondere genau betrachten und Lea konnte über George Clooney in Unterhosen seufzen.
Auf dem Heimweg sagte sie, ihr sei übel und vielleicht müsse er auf der Strecke ganz schnell rausfahren und anhalten. Sie hatte sich an den Süßigkeiten überfressen. Tommy machte ihr einen starken Kaffee, der in ihrem Magen aufräumte, sie allerdings auch nicht schlafen lassen konnte. Tommy schlief längst, als sie aufstand und beobachtet von den trägen Katzen, nach oben an den PC ging. Ihre Freundin Sondra aus Montreal hatte wieder geschrieben und ein paar Fotos von ihrem letzten Angelausflug drangehängt. Ihr Mann Louis sah aus, als müsse er beim Bierkauf seinen Führerschein vorlegen.
Sei nicht ungerecht, dachte sie, nur, weil du dir jemanden angelst, der fünfzehn Jahre älter ist, kannst du nicht alle anderen für blöd halten, die das Gegenteil machen.
Sie berichtete in der Antwort-Mail ausführlich von den Videoarbeiten und versprach, das fertige Werk sofort rüberzuschicken. Weil Sondra wieder einmal auf ein Foto von Lea und Tommy drängte, brach sie die Mail ab und überlegte. Sie wusste, dass Tommy in den wenigen privaten Sachen, die er mitgebracht hatte, auch ein paar Fotos gewesen waren, allerdings hatte er die irgendwo versteckt, wo sie sie vermutlich in zehn Jahren nicht finden würde. Aber sie wusste von einem Foto, das er in einem Leonard als Lesezeichen benutzt hatte. Wenn sie das Buch fand, hatte sie auch das Foto (vorausgesetzt, es befand sich noch zwischen den Seiten). Sie konnte sich daran erinnern, dass es ein schwarz-weiß Foto von Tommy und zwei anderen Männern gewesen war, brutal an allen vier Kanten abgeschnitten, dass die beiden Männer rechts und links neben Tommy ihre halben Gesichter verloren hatten.
„Was hast du da weggeschnitten?“
„Brandblasen“, hatte Tommy geantwortet, „es war das einzige Foto, was ich noch retten konnte.“
Auf diesem geretteten Foto sah er jung aus und es war deutlich, dass er da noch nichts dagegen gehabt hatte, abgelichtet zu werden. Er schnitt eine kleine Grimasse, wie jemand, dem man so etwas normalerweise nicht zutraute. Dieses Foto war zwar alt, aber es zeigte ihren Tommy und das wollte sie mit Sondra teilen. Nicht in dieser Mail, aber in einer der nächsten.
Sie beendete den Satz, den sie an Sondra begonnen hatte, indem sie ein Foto ankündigte, suchte als kleinen Trost eines der eigenen aktuellen aus dem Verzeichnis, die Spike geschossen hatte. Sie fügte es ein und schrieb darunter „Kuck mal, ich bin wieder blond.“
Die Wirkung des Kaffees ließ langsam nach, sie schlich sich ins Bett zurück, drängelte sich an Tommy, um nicht auf ihrer kalten Seite liegen zu müssen.
„Hör auf zu drängeln“, murmelte er ins Kopfkissen, „sonst fall ich noch über dich her.“
„Mit dir möchte ich nicht in einem Kofferraum liegen“, erwiderte sie.
„Du würdest auch nur wieder ‚Hey sie, sie liegen auf meinem Platz’ rufen, wie ich dich kenne.“

Tommy sah nach seinem morgendlichen Rundgang in der Zentrale vorbei, trank einen Kaffee mit Larry Johnson, der aussah, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen.
„Irgendein Köter hat die ganze Nacht durchgebellt“, erklärte er, „und immer unter unserem Fenster. Wenn ich ihn gefunden hätte, hätte ich ihn erschossen.“
Für zwei Stunden besetzte er die unterbesetzte Notrufzentrale, hockte dort gemütlich herum, las die Zeitung, rauchte eine Zigarette (wedelte den Qualm aus dem geöffneten Fenster) und schickte auf einem Anruf über Funk eine der Streifen los. Ein Junge, der sich als Greg meldete, sagte, er habe in der Parkanlage eine Schlange gesehen und wollte es nur melden, weil das Vieh giftig sein könnte. Über Funk sagte Tommy, John Derocher solle auf sich aufpassen und kein Risiko eingehen bei der Schlangenjagd.
„Ich meld mich, wenn das Vieh klappert“, bekam er zur Antwort. Dann konnte er sich nicht weiter auf die Schlange konzentrieren; David McCann stand plötzlich in der Tür, ein Buch unter dem Arm geklemmt und fragte, ob er ein paar Minuten Zeit für ihn hätte.
„Wenn es dich nicht stört, dass ab und zu das Telefon klingelt, schieß los. Ich hab ein offenes Ohr für alles.“
Sie setzten sich ans Fenster, um Tommy die nächste Zigarette zu gönnen. David legte das Buch (englische Geschichte) zur Seite, rollte unruhig mit dem Stuhl hin und her, beobachtete seine Schuhe. Tommy wartete geduldig. Wenn David etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte, würde er schon damit rausrücken.
„Ich wollte...“ sagte David auf Gälisch, verstummte sofort, als Tommy einen warnenden Zischlaut ausstieß. Er sah Tommy irritiert an, bis dieser erklärte: „Ich werde nicht in dieser Sprache mit dir sprechen. Ich werde sie nicht einmal verstehen. In dem Verhörraum war das etwas anderes, da wollte ich dich nur aus der Reserve locken. Wir sprechen hier ganz normal miteinander, ist das klar?“
David nickte und begann erneut: „Auf die Sache im Verhörraum wollte ich sie ansprechen. Ich hab mich nicht bedankt dafür, dass sie mir aus der Klemme geholfen haben. Wenn sie nicht zufällig vorbeigekommen wären, würde ich vermutlich noch immer da sitzen.“
„Schon gut“, sagte Tommy. David lächelte vorsichtig, blieb endlich ruhig auf dem Stuhl sitzen, nachdem das raus war.
„Chief Blake hat mich so in die Ecke gedrängt wegen dieser blöden Sache, dass ich nicht wusste, wie ich anders reagieren sollte.“
„Wer hat dir das beigebracht? Du bist viel zu jung, um so etwas zu wissen.“
„Ich hätte es nicht tun sollen, ich weiß, aber ich hab da stundenlang gesessen und irgendwann dicht gemacht. Mein Dad hat mir das beigebracht, aus lauter Vorsicht, damit ich auf alles vorbereitet bin. Als wir nach Boston gekommen sind, hat er mit allem abgeschlossen und mir von dem erzählt, was alles passiert ist.“
„Ein sauberer Schnitt ist das Beste, was man unter diesen Umständen tun kann.“
Tommy drückte die Zigarette aus, nahm den Aschenbecher und entleerte den Inhalt in den Abfalleimer. Um seine Raucherei in einem öffentlichen Gebäude möglichst geheim zu halten, würde er den Sack später mit nach draußen nehmen und entsorgen.
„Wie ist es bei ihnen gewesen?“ fragte David, „wie haben sie den Sprung über den Teich gemacht?“
Seltsamerweise dachte Tommy an ein graues Pony, das auf einer Weide herumgaloppierte und fröhlich buckelte, eine frische irische Brise über den Weiden und Feldern, grau-weiße dicke Wolken an einem strahlend blauen Himmel. Die Luft roch nach fernem Meer und nahem Torffeuer.
„Ich war in der irischen Armee“, sagte er, um bei der alten Geschichte zu bleiben, „aber da ist einiges schief gelaufen. Ich hatte keine Perspektive, hab versucht, mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Es war nichts halbes und nichts ganzes, deshalb hab ich irgendwann gedacht, ich solle nach Amerika gehen und eine Stufe höher von vorn anfangen.“ Er hob in einer komischen Geste eine Schulter. „Ich bin mal von einem der Lehrer gefragt worden, ob ich katholisch oder protestantisch sei und ich hatte noch immer Probleme mit dieser Frage. Wirklich albern.“
„Was haben sie geantwortet?“
„Ich hab gesagt, ich sei Buddhist.“
David grinste, fuhr sich durch das gefärbte Haar und begann zu erzählen, dass er mit Spike an dem Café-Video herumbastelte, wenn die Lernerei es zuließ.
„Meine Mutter ist nach Irland zurückgegangen“, sagte er, „ich bin allein hier geblieben wegen meiner Ausbildung. Das muss ich deshalb so gut wie möglich durchziehen, weil ich es allen schuldig bin. Lea hat gemeint, ich würde mich in die Schule stürzen, um nicht daran denken zu müssen, dass ich allein bin. Mein Zimmernachbar ist nicht gerade ein Bruderersatz. Ich fürchte, wir haben schon Mäuse in unserer Bude bei seiner Unordnung.“
„Haustiere sind verboten“, bemerkte Tommy.
Steve Garner kam herein, nickte Tommy zu und sagte, dass John die ultragefährliche Schlange in Gewahrsam genommen habe.
„Eine Schlange?“ fragte David neugierig, „was für eine?“
„Sie gehört zur Gattung der abgeschnittenen Gartenschläuche.“
Tommy grunzte. Er fragte, ob David einen Kaffee wollte und bekam zur Antwort, dass ihm ein altmodischer Tee lieber wäre. Sie hockten noch fast zwei Stunden zusammen, redeten über Lewiston und Bates, über das Meer und die Ostküste.
Er ist ein netter Kerl, dachte Tommy, einer der Jungs, die zuhören können. Ein helles Köpfchen. Er wird seinen Weg machen, keine Frage. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich weiß nur noch nicht, ob ich deswegen etwas unternehmen soll.
Während des Gesprächs mit David wahrte er seine Vorsicht; er verriet nicht einmal ansatzweise, aus welcher Gegend er kam und nannte keine Namen von alten Freunden, das tat der munteren Unterhaltung keinen Abbruch und David schien es nicht misstrauisch zu machen. Er fragte nach dem St. Patrick’s Day in Lewiston und Tommy konnte ihm nur sagen, dass er sich aus den Feierlichkeiten heraushielt, weil dort zu viel getrunken wurde. Einige Bars waren gewöhnlich mit grün-orangen Girlanden geschmückt, es wurde grünes Bier ausgeschenkt und die Leute liefen mit albernen Leprecaun-Hüten herum.
„Ich muss los“, sagte David, sah auf die Uhr, klemmte sich das Buch vor die Brust, „ich treffe mich mit ein paar Studenten. Ich bin dem Literaturzirkel beigetreten.“
Noch ein Haufen nickelbrilletragende Jungs, die James Joyce zu Tode analysieren, dachte Tommy.
Später als gewöhnlich ging er auf einen Kaffee ins Café hinüber. Lea saß hinter der Theke, blätterte in einer Zeitung, den Kopf in die Handfläche gestützt. Es waren nur zwei Pärchen im Café, die mit ihren Büchern und Notizen an den kleinen runden Tischen saßen. Tommy ging hinter die Theke, flüsterte ihr zu, dass er abends etwas kochen würde.
„Hast du einen besonderen Wunsch?“
„Fleischlos“, erwiderte sie, drehte sich zu ihm um und kniff sich in die Hüfte, „ich hab zwei Kilo zuviel drauf.“
Darauf erwiderte Tommy nichts, weil man als Mann auf eine solche Feststellung grundsätzlich nur falsch reagieren konnte.
„Ich hab mich heute mit David unterhalten“, erwähnte er, warf nebenbei einen Blick in die aufgeschlagene Zeitung, „er sagte, er hat mit am Video gearbeitet. Du hast es mir noch immer nicht gezeigt.“
„Vergessen“, sagte Lea. Fast hätte sie ihn gefragt, was David erzählt hatte. Es hätte sofort die Rückfrage provoziert, was er denn hätte erzählen sollen und Tommy hätte diese Frage auch sofort gestellt.
„Krieg ich einen Kaffee?“
„Klar“, sagte Lea, “entschuldige.“
Womit rede ich mich raus? dachte sie, mit PMS? Aber das käme ziemlich plötzlich. Ich könnte sagen, ich hätte mit Mutter telefoniert und sie hätte mit ihrem Besuch gedroht. Das würde ziehen. Aber die kleine Lüge tische ich ihm erst auf, wenn er mich fragt, was mit mir los ist.
Sie schob ihm die Kaffeetasse entgegen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich einen der typischen flüchtigen Küsse in der Öffentlichkeit abzuholen. In der Nacht vor dem PC hatte sie ganze vier E-mails von David in den Papierkorb verschoben und dabei an den Internetgott gebetet, er möge es endlich aufgeben und sie in Ruhe lassen. Es steckte sie in eine Zwickmühle, dass David und Tommy auf dem Campus offenbar oft zusammentrafen. Bei fünfhundert Studenten war das schon ein kleines Wunder.

Am freien Mittwoch putzte sie das Haus, wischte Staub im Bücherregal, nahm dabei jedes Buch heraus, was Tommy gehörte, und blätterte es durch. In einigen waren Kassenbons oder Ansichtskarten als Lesezeichen, aber keine Fotos. Sie hielt enttäuscht inne. Waren das alle Bücher? Hatte sie eines übersehen? Während sie staubsaugte, fiel ihr ein, dass er eines ihrer Bücher gelesen haben könnte und begann auf gut Glück die Bücher, die nicht von Stephen King waren, durchzufächern. Dieser Geistesblitz hatte sich gelohnt. In dem Buch mit dem blauen Leineneinband, das von einem Horrordrogentrip nach Las Vegas handelte, fand sie ziemlich weit vorn das Foto, das sie suchte. Offensichtlich hatte Tommy das Buch nicht beendet. Sie betrachtete es eine Weile, befand es für würdig, nach Ontario geschickt zu werden.
Nachdem der Hausputz erledigt war, legte Lea das Foto auf den Scanner, speicherte es in ihrem Fotoverzeichnis ab und schrieb eine kurze Mail an Sondra.

Wir passen gut zueinander, schrieb sie, er kocht für mich und es wird selten langweilig mit ihm. Und ja, hier mit bestätige ich, dass er in natura genau so groß und bullig ist, wie er hier aussieht.
Nach einer kurzen Pause erwähnte sie nicht, dass er älter war; auf dem Foto sah er jünger aus und so würde Sondra keine dummen Fragen stellen. Sie verkleinerte die Ränder um ihn herum, um die beiden Männer verschwinden zu lassen, schickte die Mail ab. Das Bild würde sie ganz unauffällig wieder in das Buch stecken und das Buch zurück ins Regal stellen, als sei gar nichts gewesen. Davon musste Tommy nichts wissen, wo er auf diese Dinge so empfindlich reagierte.
Sie nahm es aus dem Scanner, wo es mit dem Bild nach unten auf der Glasplatte gelegen hatte und ihr fiel etwas auf, was ihr die ganze Zeit durchgegangen war. Auf der Rückseite befand sich der abgeschnittene Rest einer Notiz, wie sie häufig auf Fotos zu finden waren.
Lea, 13 Jahre, das erste Ballkleid. Meist in der verspielt esoterisch angehauchten Handschrift ihrer Mutter.
Auf Tommys Foto konnte sie die Schrift nicht wirklich entziffern – der untere Teil der Buchstaben war abgeschnitten.

Das muss doch rauszukriegen sein, dachte Lea. Sie drehte das Foto um und legte es zurück auf den Scanner. Diesmal scannte sie die Schrift ein, speicherte sie unter das Café-Bestellungen-Verzeichnis. Da war es gut versteckt. Tommy ging sehr selten an den Computer, aber sollte es einmal passieren, würde er nicht sofort über diese Sache stolpern.
Auf dem Bildschirm drehte sie die halb sichtbare Schrift hin und her, vergrößerte sie und es dauerte nicht sehr lange, bis sie die fehlenden Teile ersetzt hatte. Die oberen Teile der Buchstaben waren in Druckschrift geschrieben und die Linien und Kurven grenzten sich auf wenige Buchstaben stark ein.
„Maze 1987“, murmelte sie, „wer von den beiden Männern ist Maze? Oder ist es der Ort, an dem sie sich getroffen haben?“
Sie wanderte in die Küche, belagert von den gierigen Katzen, die sofort zur Stelle waren, wenn die Kühlschranktür sich öffnete, dachte: Maze? Wo liegt das? Irisch hört es sich jedenfalls nicht an. Und was hätte er in einem Irrgarten machen sollen?
Sie setzte sich die Literflasche Coke an den Hals, rülpste in einem rollenden langen Ton.
Wozu hat man Internet? dachte sie und setzte sich wieder an den PC.

Der DVD Spieler war ein Geschenk von Leas Mutter gewesen, nachdem sie nur einmal erwähnt hatte, wie klasse diese Dinger seien, wenn man denn den passenden Fernseher und Boxen dazu hatte. Die Umstellung von Video auf DVD verlief bei Lea eher schleppend, weil sich zwar eine Menge Videokassetten angesammelt hatten, die sie allerdings nicht mehr ansah und es deshalb keinen Grund gab, alles auf DVD überspielen zu lassen.
Seit sie jetzt dieses Ding unter dem Fernseher stehen hatten, hatten sie sich vielleicht zwei Filme ausgeliehen und angesehen und ansonsten benutzten sie es überhaupt nicht. Sich allerdings das halbfertige Video dort anzusehen anstatt auf dem kleinen PC Bildschirm hatte allerdings seine Vorteile.
Sie legte die CD ein, ging mit der Fernbedienung in der Hand zurück zu Tommy auf die Couch, ließ sich neben ihn fallen und drückte auf Start.
„Wie lange läuft das Ding?“
„Fünf oder acht Minuten. Hält deine Konzentration noch so lange?“
Er reagierte nicht, brummte nicht einmal. Die Musik, die Spike über die Bilder gelegt hatte, passte überhaupt nicht, fand er, deshalb konzentrierte er sich nur auf die Bilder. Alles sah seltsam fremd und gleichzeitig vertraut aus; Lea kam gut weg dabei, aber sie hatte sowieso ein gutes Fotogesicht und strahlte förmlich von innen heraus, wenn sie in die Kamera sah. Als er seine Rückenansicht sah, seinen eigenen Bewegungen folgte, wie der das Café verließ und sich auf der Straße kurz umsah, bevor er weiterging, bekam er eine Gänsehaut. Er starrte gerade aus auf den Fernseher, bis dieses Bild, was nur Sekunden angedauert hatte und auch niemandem sonderlich in Erinnerung bleiben würde, dann erst atmete er gezwungen ruhig aus. Er hatte die Luft angehalten, ohne es zu merken. Leas in sich versunkenes Gesicht war zu sehen, dann kam ein direkter Schnitt zurück auf die Theke und den Kaffee, die Kamera fuhr noch einige Male durch den kleinen Raum, nahm Details wahr und mit dem letzten Bild, der Außenaufnahme und dem Schriftzug, endete das Video.
„Du bist nicht sauer, oder?“ fragte Lea, „ich hab ihm extra gesagt, dass du nicht aufs Video willst, aber dann meinte Spike, vielleicht fändest du es in Ordnung, wenn es nur dein Rücken sei.“
Es mochte andere Aufzeichnungen auf Film und Foto von ihm geben, die ihn in Situationen zeigten, die er schon lange vergessen wollte und von denen Lea nie etwas wissen durfte, ebenso wenig wie alle anderen, und genau diese Situationen kamen beim Anblick der kurzen Szene wieder hoch. Im ersten Moment konnte er nichts sagen – weder konnte er sie beruhigen, dass es schon in Ordnung sei, noch konnte er wütend aus der Haut fahren, wie sie es hätte wagen können. Einmal in den Erinnerungen gefangen, war es nicht einfach, sich daraus zu befreien und es gelang ihm erst, als Lea auf einen der TV-Kanäle zurückschaltete und sie von dort die schrille Werbung für ein sagenhaftes Putzwundermittel ansprang, mit dem man angeblich alle Flecken von jedem Material entfernen konnte.
„Schon in Ordnung“, sagte Tommy, seine Stimme kam ihm pelzig vor und er räusperte sich, „ich dachte nur immer, ich wäre schlanker.“
Der Scherz war bemüht und er erwartete kaum, dass Lea darauf reagierte; sie akzeptierte seine Abneigung, obwohl sie es nicht verstehen konnte. Hätte er es ihr erklären können, hätte er es in diesem Moment getan, als sie ihn fast tröstend von der Seite ansah und erwiderte, er sei genau richtig. Genau richtig.
„Willst du drin bleiben?“
„Klar“, sagte er, um seinem Verfolgungswahn -persecution mania- nicht noch mehr Platz zu bieten, niemand würde ihn nur an seiner Statur und an seinem Hinterkopf erkennen, „ich kann damit leben. Es ist gut geworden, was meinst du? Hast du es dir so vorgestellt?“
„Die Musik ist scheiße“, sagte Lea.
„Richtig. Klavier wäre besser.“

Wenn er gewollt hätte, hätte er irgendeine Geschichte erfinden können, von einer unehrenhaften Entlassung aus der Armee, von der Tatsache, dass er mehr als nur Ärger bekommen würde, wenn er zurück ginge und ihn einige seiner ehemaligen Kameraden zufällig sein Bild in der Zeitung fänden. Er kannte einige britische Soldaten, denen es ähnlich ging – nicht unbedingt in Verbindung mit Nordirland sondern mit Zypern oder anderswo, aber wenn man zu viele Lügen erzählte, buddelte man sich damit Fallgruben. Irgendwann widersprach man sich, irgendwann fielen den anderen die kleinen und großen Widersprüche auf.
Besser, man ließ einige Dinge ungeklärt. Lea hatte auch ihre Macken, die sie nicht weiter erklären konnte; weshalb sie zum Beispiel bei Bartstoppeln im Waschbecken einen Anfall bekam, aber nichts gegen Katzenhaare auf dem Esstisch hatte oder grundsätzlich die Heizung im Badezimmer abdrehte, dass man im Winter einen Schock bekam, wenn man mit nackten Füßen auf die Fliesen trat.
Lea suchte einen anderen Fernsehkanal, fand die David Letterman Late Show und merkte da erst, wie spät es war.
„Früher war er besser“, sagte sie, „aber ich mag ihn lieber als diesen Speckkopf Leno.“
Sie wartete darauf, welche Gaststars er im Studio hatte, holte sich eine Packung Corn Pops und legte Tommy ihre Beine quer über den Schoß. Die Arbeit im Café nahmen ihre Füße ihr immer öfters krumm. Sie unterhielten sich nicht viel, wechselten nur ein paar Worte und gingen nach dem Abspann schlafen.
Was kann sie schon anstellen mit dem Video, dachte Tommy, zog den Kater zu sich, der müde meckerte, aber bei ihm liegen blieb und sich den Bauch kraulen ließ, sie zeigt es Freunden, die zu Besuch kommen, verschickt es an ihre Mutter. In drei Monaten hat sie es vergessen und die CD liegt bei den anderen Filmen im Schrank, die sie unbedingt haben wollte und sich kein zweites Mal ansieht.
Er versuchte sich damit zu beruhigen und es gelang ihm auch irgendwann. Er hatte sich auf die andere Seite gedreht, Feo schnurrte an seinem Bauch und wenn er einschlief und sich auf den Rücken drehte, würde sich der Kater auf seine Brust legen und versuchen ihn mit seiner Katzenmasse zu ersticken.
Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, hatte er die Sache mit dem Video noch halb im Hinterkopf, aber im Laufe des Tages waren die Gedanken daran verschwunden.
Er würde sich mit Douglas zum essen treffen, spät nach Hause kommen und Lea erzählen, dass er den Samstag bei den Bobcats verbringen würde.
 
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Ein wenig ist schon für den Leser über die Vergangenheit Tommis heraus gekommen. Lea forscht, zum Teil unbeabsichtigt, in der Vergangenheit ihres Freundes. Auch sie will eigentlich wissen, was mit ihm los ist.

Petra (09.04.2009)

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