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17 Seiten

give blood - teil 2

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Sie glaubten zunächst alle, es würde ein Unwetter über der Wüste aufziehen und das würde die schnell hereinbrechende Dunkelheit erklären. Heftige Gewitter und Stürme waren so häufig, dass sich niemand mehr Gedanken darüber machte. Die Hitze des Tages verschwand so schnell, dass sie alle ihre Jacken und Mäntel suchten und überzogen, anstatt das Geld aufzuteilen.
„Das läuft uns nicht weg“, sagte Simmons.
„Es kam mir so kurz vor“, murmelte Linn, „aber vielleicht lag’s daran, dass ich die Hitze lieber verschlafen habe.“
„Daran lag es nicht“, sagte Sam Simmons, strich sich über sein Kinn, „meine Bartstoppeln sagen mir, dass kaum zehn Stunden vergangen sein können. Auf die kann ich mich verlassen.“
„Was hat das zu bedeuten?“
„Egal, was es bedeutet“, sagte Matthews, „kümmern wir uns um das wichtige. Wie lange kommen wir mit unserem Wasser aus?“
Er verteilte die Rationen, bedachte die drei homeboys mit einem warnenden Blick und sagte an alle gewandt: „Hat jemand eine der Zugtüren geöffnet?“
Cy sah sich um, schüttelte den Kopf. alle anderen zuckten mit den Schultern.
„Ich will nicht, dass durch die Türen irgendwas hereinkommt, wenn es dunkel wird.“
„Ich wäre froh, wenn sich jemand rausschleichen und verschwinden würde“, murmelte Vinnie. Sie suchten die gleichen Schlafplätze auf wie in der langen Nacht zuvor und Linn hörte Gordo und den homeboy Pruitt miteinander flüstern. Es ging wieder einmal um das Geld in der Tasche.
Wo ist der geblieben, dem es gehört hat? dachte sie, rollte sich enger zusammen gegen die Kälte, niemand hätte sein Geld zurückgelassen. Wo sind alle anderen hin?
Sie wollte schlafen, aber ihr Geist war wach und sie machte sich viele Gedanken.
Wer beschützt mich, wenn es schlimmer wird? dachte sie, Dad ist krank. Er würde es nie zugeben, aber er ist so nahe vor dem Ende, dass es weh tut, ihn anzusehen. Wer wird mich beschützen?
Sie wusste, dass sie jemanden zum Schutz brauchte, selbst hier in dem liegen gebliebenen Zug, wo niemand wusste, wie es weitergehen würde. Es war kalt, sehr viel kälter als in der vergangenen Nacht und neben der geflüsterten Unterhalten glaubte Linn Geräusche von draußen zu hören. Als würde etwas um den Zug schleichen, etwas, was erst im Schutz der Dunkelheit aus dem Versteck gekrochen war.
Gordo, dieses dumme Arschloch, glaubte sich mit den homeboys verbrüdern zu können, aber er hatte nichts, was er ihnen anbieten konnte.
Linn hatte eigene Erfahrungen mit anderen homeboys und sie wusste, dass die drei sich nur zusammenrissen, weil sie auf den passenden Moment warteten.
Sie werden lange durchhalten, dachte Linn, stellte sich perfekt schlafend, aber ihnen kann man nicht trauen. Nur einen von ihnen rumzukriegen ist unmöglich, sie halten zusammen bis in den Tod, und mit allen dreien werde ich mich nicht einlassen.
Plötzlich hörte sie ihren Vater flüstern. Er war aufgestanden, hatte über den kalten Boden geflucht und sagte zu einem der Männer: „Hab ein Auge auf sie, wenn ich nicht in der Nähe bin. Lass sie nicht allein. Solange ich dafür sorgen kann, dass sich die anderen Gedanken um die Verteilung des Geldes machen, ist sie in Sicherheit.“
Linn konnte nicht heraushören, mit wem er da sprach, aber es kamen eigentlich nur zwei Personen in Frage. Mit beiden konnte Linn fertig werden, wenn sie auch wusste, dass keiner der beiden sie wirklich schützen konnte.
Schlaf jetzt, dachte sie, etwas anderes kannst du im Moment nicht tun. Schlafen und abwarten.
Es passierte nichts während der Nacht, zumindest nichts, was sie betraf. Als sie endlich eingeschlafen war, versuchte der unglückliche Gordo seine Haut zu retten und mit den homeboys gemeinsame Sache zu machen. Es begann ihm zu entgleiten, als Pruitt ihn aufzuziehen begann und ihn fragte, ob er auch so ein Scheißeficker wie Simmons sei und sich deshalb so ranmachte.
Er versuchte darüber zu lachen, aber es klang genauso verzweifelt, wie er sich fühlte.
„Ich kann dafür sorgen, dass wir das Geld für uns bekommen“, flüsterte Gordo, „das wär doch was, oder? Wir würden für die nächste Zeit ausgesorgt haben.“
Sie diskutierten weder darüber, was sie mit dem Geld anfangen wollten, noch die Aufteilung zwischen ihnen.
„Du besorgst uns die Kohle“, sagte Leo, nahm Gordo in einer harten Geste in den Arm, die er nicht als Verbrüderung missdeutete, „und dann überlegen wir uns, ob wir weiter freundlich zu dir sind.“
Gordo zog sich zurück, schlief zitternd ein.
Sam Simmons, der ein Stück weiter weg lag und irgendwann wach geworden war, drehte sich auf die andere Seite, nahm zwei seiner Pillen und dachte nur kurz darüber nach, was für ein Arschloch Gordo war.



Der nächste Tag begann wieder mit einer schnell aufgehenden Sonne. James wünschte sich eine Dusche und hätte selbst eiskaltes Wasser in Kauf genommen, dachte an seine Eltern und an etwas Anständiges zu essen. Er hockte auf seinem Koffer, trank das warme schale Wasser in kleinen Schlucken, beobachtete die homeboys, die vor den verschlossenen Zugtüren hockten und Karten spielten. Sie gaben sich noch immer Mühe, harmlos auszusehen, aber selbst, wenn sie mit nackter Haut vor ihm sitzen würden, würde James sich nicht darauf verlassen, dass sie harmlos waren.
Vinnie setzte sich neben Linn, reichte ihr einen Teil seines Frühstücks und dafür bedachte sie ihn mit einem kleinen Lächeln. Vinnie benahm sich noch immer wie ein Soldat, dieses Verhalten ließ sich nicht abschalten.
Matthews ist der Heeresführer und hat seinen Soldaten bei Fuß, dachte James, nur gut, dass der alte Mann in Ordnung ist. Vinnie wird jeden Befehl befolgen, das ist das, was einen Soldaten ausmacht – Befehle erhalten und ausführen. Keine Fragen stellen. Fragen stellen? Bisher hat noch niemand die Frage gestellt: Was ist eigentlich in deinem Koffer, James?
Ab dem Zeitpunkt würde er dafür sorgen, dass ihm niemand mehr zu nahe kam.
Der alte Weyland weinte still vor sich hin, murmelte mit jemandem, den niemand sehen konnte und kratzte seine dürren Unterarme. Seine Fingernägel waren rissig und bräunlich verfärbt. Er machte schon jetzt den Eindruck, als sei er der erste, der dran glauben würde, wenn nicht bald die Rettungstrupps kamen. Matthews flüsterte mit seiner Tochter, strich ihr sanft über das Haar, stellte sich dann vor die offene Tür der Zugkanzel. Hinter ihm verlieh ihm das gleißende Sonnenlicht eine Aura, die alle blinzeln ließ.
„Scheiße“, sagte Gordo, „geh aus dem Licht raus, Bob, meine Augen verbrennen.“
Sie kicherten darüber, Matthews machte einen Schritt zur Seite und warf seiner Tochter einen warnenden Blick zu.
„Hört mal“, begann er, „ich weiß, dass längst Hilfe hier sein müsste. Ich kann es mir auch nicht erklären. Vielleicht ist mehr zusammengebrochen als nur unser Zug. Aber trotzdem – Kopf hoch.“
„Kopf hoch?“ Cadoc, der hässliche homeboy, lachte schallend, stieß seine Kumpane an. „Wir sitzen auf unseren Ärschen und warten. Aber klar, halten wir die Köpfe hoch.“
„Was würdest du denn vorschlagen, smartass?“ Das kam von Vinnie. Er hockte neben Linn, hatte ein Bein untergeschlagen.
„Ich würde da rausgehen“, schrie Cadoc „und ich würde einfach den beschissenen Gleisen folgen, bis ich irgendwo hinkomme. Ganz einfach.“
„Steht euch frei zu gehen.“
„Das kannst du ruhig uns überlassen, wann wir gehen. Was wir tun. Wen wir mitnehmen.“
Pruitt sah zu Vinnie hinüber und blinzelte, aber er hatte nicht Vinnie im Visier, er meinte Linn, die neben ihm saß. Matthews wurde weiß vor Wut, aber er behielt die Kontrolle. Er hatte seinen Soldaten an der Seite seiner Tochter. Vinnie sagte: „Was immer ihr vorhabt, ohne Wasser werdet ihr nicht weit kommen. Und auf dem Vorrat sitze ich mit meinem breiten gesunden Hintern.“
„Okay“, sagte Leo, „vertragen wir uns und benehmen wir uns nicht wie die Kinder. Wenn die Hilfe kommt, können wir uns noch immer die Schädel einschlagen, wer hier zuerst rauskommt.“
Cadoc war mit dem Vorschlag nicht einverstanden – er holte aus und verpasste Leo eine blutige Nase, schlug mit seiner Faust nicht nur einmal, sondern direkt zweimal zu. Leo sprang auf, wirbelte die Karten durch die Gegend, drückte sich den Handballen unter die sprudelnde Nase.
„Drecksack“, schrie er, „und dir hab ich den Vortritt gelassen, du dämlicher Sack.“
Er griff sich ein herumliegendes Hemd, auf das niemand mehr Anspruch erhob, stopfte es sich unter die Nase. Von Cy, der aus einer der gegenüberliegenden Sitzreihen auftauchte, kam ein unterdrücktes Kichern, was Linn an etwas erinnerte, ihr eine Gänsehaut bescherte. Seit ihrer Kindheit hatte sie kein solches Lachen mehr gehört, und es erinnerte sie an einen Samstagnachmittag, den sie mit ihren Freunden im letzten Kino der Stadt verbracht hatte. Sie hatten sich alte Stummfilme angesehen, in denen sich Männer mit unglaublichen Bärten Torten ins Gesicht klatschten. Sie hatten sich die kurzen Filme immer wieder angesehen, hatten Tabletten eingeworfen, hatten gelacht, gekichert und gejohlt. Ein kleiner dicker Junge, der mit seiner Nickelbrille, in der ein Glas fehlte, neben ihr gesessen hatte, hatte ebenso gekichert wie Cy jetzt. Sie saß wieder im dunklen Kinosaal, hatte Popcorn im Arm und war glücklich. Diese Erinnerung dauerte nicht lange, aber sie brachte Linn dazu, darüber nachzudenken, was sie tun würde, um sich wieder wie ein Kind in einem Kino zu fühlen. Glücklich, lachend, in Sicherheit.
Cy kicherte noch immer über Leos sprudelnde Nase, selbst als dieser auf ihn zusprang und ihn zu packen versuchte, verstummte es nicht.
„Wie lange hält der Wasservorrat noch?“ fragte James. Matthews sah zwischen ihm und Cy hin und her, der unter Leos Attacke zwischen die Sitze fiel, einen Fuß nach oben schnellen ließ und mit einem harten Tritt Leos Brustkorb traf. Er schleuderte ihn von sich weg und der homeboy zog sich fluchend und keuchend zurück. Cy blieb im Fußraum liegen, sein Kichern war verstummt. Matthews drehte sich zu James und sagte: „Kann ich nicht genau sagen. Vier, fünf Tage. Wenn wir die Rationen kürzen.“
„Wir trinken schon jetzt nicht sonderlich viel.“
„Es muss reichen.“
Simmons rückte von den homeboys ab, die sich auf seiner Seite breit machten, fummelte an den Schnürsenkeln seiner braunen Straßenschuhe herum und sagte: „Wir könnten noch mal den Zug durchsuchen. Vielleicht haben wir irgendwo etwas übersehen.“
„Warum nicht“, sagte James, „es macht keinen Unterschied, ob wir hier herumsitzen oder etwas anderes tun. Bob?“
„Geht nur“, sagte Matthews, „solange ihr die Türen zulasst.“
Mit der Wange auf dem Fußboden lag Cy da, starrte auf die Schuhe, die an ihm vorbei dem Gang folgten. Es ging ihm nicht gut und er nahm eine weitere Kapsel aus seinem Vorrat. Bis die Substanz zu wirken begann, blieb er ruhig liegen, achtete nur auf das Hämmern seines Herzens. Sollten sie doch die Türen öffnen und alle rösten, es war ihm egal. Die Hitze war Okay, aber das Licht tat in seinen Augen weh. Das lag an der Chemie in seinem Blut. Er drückte eine Hand über seine Augen, wartete auf das Einsetzen der Wirkung. Als er die Augen blinzelnd öffnete, stand vor seinem Gesicht ein Plastikbecher mit Wasser. Hingezaubert von einer freundlichen Fee.

Der kleine Trupp kam zurück, sie hatten bei der erneuten Durchsuchung der Zugabteile nichts gefunden, nicht einmal den toten Körper des homeboys. Sie kamen schwitzend und erschöpft zurück und Gordo berichtete krächzend, dass Teile des Zuges noch heißer seien, als sie es sich hätten träumen lassen.
„Die Teile, wo die Fenster fehlen“, sagte er, „wir haben gedacht, wir würden Feuer atmen. Kaum vorstellbar, dass wir uns hier die Eier abfrieren, sobald die Sonne untergeht.“
Linn ging nach vorn in die Kanzel, besah sich das Licht der Wüstensonne. Überall nur Sand und flirrende Hitze. Ihr Dad hatte Recht. Dort draußen würden sie schneller sterben als Fliegen in einer offenen Flamme. Die homeboys, angefangen bei Leo mit der knollenförmig angeschwollenen Nase, waren plötzlich nicht mehr so scharf darauf, zu Fuß bis in die Stadt zu laufen. Irgendwann kamen sie wieder auf das Geld zu sprechen. Gordo sagte: „Mal ehrlich, Leute, warum teilen wir das Geld nicht sofort auf? Es interessiert niemanden, wo es her kommt, oder? Teilen wir es auf und jeder ist zufrieden.“ Er machte eine gewinnende Geste in die Runde, versuchte zu lächeln. Er hatte ein weiches Gesicht, und er wirkte verzweifelt, als er versuchte härter auszusehen.
Wie hast du dein Geld verdient? dachte James.
Linn hatte sich sein Nest aus zwei ineinander geschobenen Sitzen gebaut, hockte dort und schämte sich fast für Gordo, wie er versuchte, an einen Teil des Geldes zu kommen.
Was will er damit? dachte sie, dieses verdammte Geld.
Vinnie schlug sein Lager neben ihr auf, hatte zuvor gefragt, ob sie etwas dagegen habe und sie hatte geantwortet, natürlich habe sie nichts dagegen, sie könnte es schlimmer treffen.
„Ich hab mein Zeitgefühl verloren“, sagte er zu Linn gewandt, „ich könnte schwören, die Sonne wäre erst vor drei Stunden aufgegangen.“
„So geht’s mir auch“, sagte Linn. Sie beobachtete, wie Sam eine Pille nahm, das Plastikröhrchen wieder in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Es war eines dieser Röhrchen, in denen man seine Medikamente in den Krankenhäusern ausgehändigt bekam, wenn man dort nur lange genug in der Notaufnahme wartete.
In dieser Nacht flüsterte Gordo nicht mit den homeboys. Die schmiedeten ihre Pläne allein, nachdem Gordo es wieder nicht geschafft hatte, seine gierigen Finger an das Geld zu bekommen.
„Vinnie“, flüsterte Linn, „schlaf gut.“
„Du auch“, sagte Vinnie.

Linn wartete, bis sie alle schliefen, dann schlich sie sich aus ihrem Nest, drapierte ein Kissen und einen Schuh, den sie zurückließ, so unter der Decke, dass es aussah, als würde sie unter der Decke schlafen. Sie tastete sich geräuschlos durch die Dunkelheit. Wenn ihre Mutter sie Kitty genannt hatte, hatte sie damit nicht unrecht gehabt. Linn entwickelte ein sicheres Gespür in der Nacht, sie hatte einen sehr feinen Sinn, der ihr die Augen ersetzt. Sie konnte es nicht erklären und niemand hatte sich je Zeit dafür genommen, es näher zu untersuchen. Sie war dankbar für den praktischen Nutzen, mehr nicht.
Doktor, meine Tochter kann im Dunkeln sehen wie eine Katze. Sie rennt durch die stockdunkle Wohnung, ohne sich irgendwo anzustoßen. Und sie ist erst fünf.
Möchten sie, dass wir sie mit Medikamenten behandeln? Wir haben viele Medikamente, die verhindern werden, dass sie nachts durch die Wohnung rennt, Mrs. Matthews.
Lautlos schlich sie sich an den schlafenden Sam heran, an den schlafenden homeboys vorbei, bis in die Sitzreihe, in der sie Cy wusste. Sie konnte hören, dass er nicht schlief. Er war wach, aber er zuckte erst vor ihr zurück, als sie ihn berührte, sich zu ihm setzte. Es war eine der Sicherheits-Luxus-Abteils, in die er sich zurückgezogen hatte, die Polster hatte er zu beiden Seiten ausgezogen und hatte genug Platz, um in jede Richtung ausgestreckt schlafen zu können. Aber er schlief nicht; er lag mit offenen Augen und mit dem Rücken an die Wand gepresst da, atmete keuchend vor Schreck und flüsterte einen obszönen Fluch, als Linn ihm zuwisperte: „Ich bin’s nur. Ich hab was für dich.“
„Was soll das?“
„Pst. Komm her. Mit deiner Hand. Was ist das?“
Sie führte seine Hand zwischen ihre Brüste, wo sie das Röllchen Pillen festhielt. Er griff danach.
„Wo hast du das her?“
„Von Sam Simmons. Das sind downer. Sie gehören dir, wenn du willst.“
„Linn...“ Er hielt das Plastikröhrchen umklammert, spürte ihren warmen Atem, ihre warme Haut neben sich, ließ seine Hand dort liegen, wo sie war und sagte: „Willst du, dass dein Alter mich umbringt?“
„Ich will nur eins von dir.“
Ihr Mund war an seinem Ohr, er bekam eine Gänsehaut, die diesmal nicht von der verdammten Kälte herrührte.
„Du passt auf mich auf. Beschütze mich. Dafür tu ich alles für dich. Bis die Sache hier vorbei ist.“
Sie hockte sich über ihn, wühlte den Mantel und die Decke beiseite. Später dachte sie, dass sie keiner der anderen gehört hatte, weil sie die Tür des Abteils mit den Füßen zugedrückt hatte. Sie blieb bei ihm liegen, teilten sich einen halben downer.
„Was hast du mit Simmons angestellt, dass er dir die downer gegeben hat?“
„Ich hab sie ihm geklaut.“
„Dafür wird er mich killen, wenn er die Dinger bei mir sieht.“
Ausgerechnet Simmons, dachte er.
„Dann sorg dafür, dass er sie nicht sieht.“
„Baby hat flinke Finger und klaut wie ein Rabe.“
Cy lag auf dem Rücken, die offene Hose hochgezogen, die Handflächen auf seinen Bauch gelegt. Obwohl es nirgends eine Lichtquelle gab, sie in totaler Dunkelheit lagen, glaubte Linn ihn neben sich zu sehen. Seine vernarbte Haut schimmerte, wie vom Mondlicht beschienen. Sie konnte ihn genau vor sich sehen, rückte näher an ihn heran, berührte seine Schulter mit ihrem Mund.
„Wir werden hier alle draufgehen“, sagte Cy.
„Ich weiß.“
Die Kälte kam zurück. Linn zog ihre Klamotten wieder über, versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, Dad zu verlieren. Es konnte so schnell passieren, dass sein krankes Herz einfach stehen blieb, er nicht mehr atmete und dann mit grauem eingesunkenen Gesicht dalag. Er war immer für sie da gewesen, hatte sich um sie gesorgt. Er war ein großartiger Vater. Linn begann leise zu weinen, fast lautlos und unbemerkt und sie versuchte es zu überspielen, als Cy sagte: „Was ist los?“
Es war albern, aber sie tat so, als hätte nur ihre Nase zu laufen begonnen, als sei es nicht offensichtlich, dass etwas nicht stimmte.
„Mein Dad wird dich in Ruhe lassen, wenn wir es nicht zeigen, was passiert ist. Er mag dich nicht, aber damit kannst du bestimmt leben.“
Cy erwiderte nichts. Um seinen Kopf herum hatte sich eine dunkelblaue Wolke gebildet, die ihn sanft und sicher einschlafen ließ. Richtig tiefer Schlaf. Kein Dämmern, aus dem man jederzeit hoch schreckte, keine Bewusstlosigkeit aus Drogen, aus der man nur mühsam wieder hochkam und sich danach fragte, ob man überhaupt geschlafen hatte. Cy schwebte irgendwo, wo er keine Schmerzen hatte, keinen Hunger und keine Wut auf alles, er schwebte zufrieden in dieser blauen Wolke, wie ein kleiner Fisch im weiten Meer. Er stellte sich oft vor, wie es im Meer sein würde. Niemand, den er kannte, hatte das Meer gesehen, aber in dem Haus, in dem er lange gelebt hatte, hatte es eine bemalte Wand gegeben, eine Wand mit großen und kleinen Fischen, mit blauen Wellen und weißer Gischt, sich überschlagenen Schaumkronen, dunkelgrünem Seegras. Seine Schwester hatte ihm erklärt, wie groß und weit das Meer war, eine unendliche Masse von Wasser, in der Fische, Delphine und Wale lebten. Woher hatte sie das alles gewusst? Wie konnte sie etwas wissen von einem Meer, das niemand gesehen hatte und wie konnte sie etwas von den Bewohnern wissen, die das Wasser atmeten statt der Luft?
Ich weiß es von dem, der auch diese Bilder gemalt hat, hatte sie gesagt.
Das Meer musste großartig sein. Wenn es noch da war. Seine Schwester war nicht mehr da, das Haus und das Bild waren fort, eigentlich war die ganze Stadt nicht mehr da und an ihre Stelle war ein Loch getreten, das sich im Laufe der Zeit mit flüssigem Gift gefüllt hatte. Manchmal träumte Cy von einer Unterwasserwelt, in der er mit offenen Augen herumschwebte, umgeben von riesigen Fischen, die singende Geräusche von sich gaben, glücklich und zufrieden. Diese Träume waren mit zunehmendem Drogenkonsum seltener geworden, hatten sich aber nie ganz verabschiedet.
Linn saß mit an den Körper gezogene Knie neben ihm, zitterte vor Kälte und dagegen konnte auch die Decke nichts ausrichten, die sie sich umgehängt hatte. Sie wusste, dass sie, ihr Dad und James die einzigen mit Karten zu den Sicherheitsabteilen gehabt hatten und sie wären die einzigen gewesen, die eine Tasche mit so viel Geld mit auf Reisen genommen hätten. War es James Geld?
Kaum, dachte sie, rollte sich unter der Decke zusammen und schloss die Augen, das Geld interessiert ihn überhaupt nicht. Entweder hat er genug davon oder er hat etwas viel wertvolleres in dem Koffer, den er nie aus den Augen lässt.
Dieser letzte Gedanke vor dem Einschlafen verfolgte sie bis in einen wirren Traum, in dessen Verlauf sie von Bahnsteig zu Bahnsteig hetzte, weil sie wusste, dass dieser Koffer, dieser bestimmte Koffer, sich in einem gerade abfahrenden Zug befand.
Als sie aufwachte, sich aus der Decke wühlte, stand Vinnie mit einer Packung Frühstückration vor ihr im Gang. Er machte ein angespanntes Gesicht. Linn wurde schlagartig klar, wo sie sich befand und dass sie Vinnie niemals davon abhalten würde, Alarm zu schlagen und ihren Vater zu rufen. Sie würden Cy auseinander nehmen. Cy. Sie drehte sich um, fand den Platz neben sich leer. Nichts deutete darauf hin, dass sie nicht allein hier geschlafen hatte.
„Was machst du hier?“ fragte Vinnie, „du hättest bei deinem Vater bleiben sollen.“
„Hier war es gemütlicher und wärmer“, sagte Linn, betete um Zuspruch von jeder noch existierenden Gottheit, dass ihr niemand auf die Schliche kommen würde. Es war zugegeben ihre eigene Dummheit, neben Cy einzuschlafen, nachdem sie es in der Finsternis miteinander getrieben hatten. Er hatte sich verdrückt, ohne eine Spur zu hinterlassen und nach der eiskalten Nacht mochte ihr auch niemand mehr ansehen, dass sie Sex gehabt hatte.
„Es könnte dir etwas zustoßen, wenn du allein irgendwo schläfst, also lass es bitte bleiben. Bleib in unserer Nähe.“
„Ich bemühe mich.“
Noch immer war sie mit Beten beschäftigt, nahm das Essen entgegen und kam gar nicht auf die Idee, Vinnie zu fragen, ob er ihr neuer großer Bruder sei. Sollte er sie ruhig wie ein Kind behandeln. Erst später, als es wieder unerträglich heiß geworden war, fiel ihr wieder ein, was Vinnie gesagt hatte und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut herauszuplatzen vor Lachen.
Könnte dir etwas zustoßen, dachte sie, ohmigod.
Aber natürlich war sie ein braves Mädchen und blieb bei ihrem Vater. Sie bekam nur ganz nebenbei mit, wie Simmons sich in Panik steigerte, weil er etwas in seinen Sachen suchte und es nicht finden konnte. Die homeboys machten sich lustig über ihn, machte böse Witze, aber immerhin attackierten sie ihn nur mit Worten. Simmons hörte sie nicht. Er war nicht nur wegen der Hitze in Schweiß gebadet – er brauchte seinen Stoff, um seine Nerven unter Kontrolle zu halten und er fand ihn nicht. Konnte ihn nicht finden, weil er in Cys Sachen versteckt war.
„Sam“, sagte Weyland, „reiß dich zusammen. Was kann denn so schlimm sein, dass du hier in der Hitze einen solchen Wirbel veranstaltest?“
Simmons schleuderte seinen tausendmal durchwühlten Rucksack in Weylands Richtung und schrie: „Halt du doch die Klappe, du alter Furz. Dich haben sie ja auch nicht beklaut.“
Sein Gesicht war verzerrt und totenbleich, von seinen Lippen sprühte zähe Spucke, als er haltlos weiterfluchte. Selbst die Fragen, wer ihm was geklaut hatte, konnte er nicht beantworten, weil er sie nicht hörte und erst, als James ihn bei den Armen packte und schüttelte, machte er ein „Wuah?“ und verstummte.
„Was ist weggekommen?“ fragte James. Sam starrte ihm konzentriert ins Gesicht und antwortete schwach, als würde ein Windhauch durch den Zug gehen: „Meine Medikamente. Ich bin krank. Ich brauche meine Medikamente.“
„Niemand von uns würde dir deine Medikamente klauen“, sagte James und schaffte es, ganz vernünftig dabei zu klingen, „die kann doch niemand gebrauchen. Wo hattest du sie? Vielleicht sollen wir zusammen noch mal nachsehen?“
Simmons trat mit dem Fuß gegen seine Tasche, die ein Stück über den Boden rutschte, er schlug nach James, ohne ihn zu treffen und schrie: „Wir brauchen nicht nachzusehen, verdammt. Ich bin nicht blöd, ich bin beklaut worden.“
Linn hielt sich im Hintergrund, schlich sich in die Zugkanzel, um in die Wüste zu starren. Oder in den Bauch der Hölle.
„Da draußen stimmt etwas nicht“, flüsterte sie, aber niemand reagierte darauf. James gab seine Bemühungen auf und Simmons verzog sich in eine Ecke, in der er halblaut vor sich hinmurmelte.
Die homeboys hockten wieder beim Kartenspiel. Das Spiel war simpel und hatte nur den Sinn, dass der Verlierer jeder Runde von den beiden anderen Faustschläge erhielt. Sie kümmerten sich nicht um die anderen Zuginsassen und es wurde so heiß, dass sie auch das Spiel bald einstellten und schliefen. Vinnie behauptete, er wüsste, wem das Geld gehörte, aber er sei der Meinung, dass das nicht mehr wichtig war.
„Ich will nichts von dem Geld“, sagte Linn, „wir können uns keine Hilfe kaufen, die uns hier raus bringt, also was sollen wir damit.“
„Wenn wir die einzigen Überlebenden sind, gehört uns sowieso alles, was wir finden.“
Linn drehte sich zu Gordo um, starrte ihn verständnislos an und Gordo mühte sich zu erklären: „Vielleicht sind wir die einzigen Überlebenden einer großen Katastrophe. Deshalb rettet uns niemand. Weil niemand mehr dort draußen ist. Und wenn wir diesen Scheißzug wieder in Gang setzen und nach Gila fahren, gehört uns alles, was wir in den Straßen und den Läden finden.“
Dieses Hirngespinst musste ihm eingefallen sein, als er nachts nicht schlafen konnte. Noch vor Tagen hätte Linn mit ihm darüber diskutiert, aber jetzt dachte sie schweigend darüber nach, ob er nicht Recht haben könnte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie viele Tage und Nächte sie bereits festsaßen. Die Tage waren so kurz geworden, dass man meinen könnte, die Sonne hätte kaum Zeit um aufzugehen und trotzdem wurde es so unglaublich heiß.
Aber weshalb sollten ausgerechnet wir in diesem Zug überlebt haben? dachte sie, jede Art von Katastrophe hätte uns ebenso betroffen. Wir sind ja nicht mal durch einen Tunnel gefahren. Es gab nur diesen Ruck durch den Zug und dann sind wir stehen geblieben.
Etwas anderes kam ihr in den Sinn und sie zog ihren Vater beiseite.
„Hast du Hunger?“ fragte er, sie schüttelte den Kopf.
„Kannst du den Zug nicht wieder flott machen? Du hast doch so lange in diesen Zügen gearbeitet.“
Matthews hob zögernd die Hand, strich seiner Tochter über das Haar und bemühte sich, weiter zuversichtlich auszusehen.
„Ich habe sie nie repariert“, sagte er, „Ich glaube nicht, dass ich etwas anderes hinkriege, als einen Zug zu fahren. Einen funktionierenden Zug. Es tut mir leid, Schätzchen.“
„Du könntest es wenigstens versuchen. Es gibt nicht viel, was wir sonst tun können.“
Matthews hasste den Blick aus dem Panoramafenster, bemühte sich, nicht hinauszusehen, während er mit kaum nutzbaren Werkzeugen die Konsole öffnete und in den Innereien des Terminals herumwühlte. Er tat es nur, um seiner Tochter einen Gefallen zu tun, hatte nicht den blassesten Schimmer, was er da überhaupt tat. Bisher hatte er nur die Verkabelungen herausgezogen und unter der Schalttafel Platinen und Transformatoren entdeckt. Er hätte nicht einmal sagen können, ob an den Teilen alles in Ordnung war.
„Sieht nichts verschmort aus“, murmelte er, warf Linn einen zuversichtlichen Blick zu.
Was hätte er drum gegeben, wenn alles zu Klump geschmort gewesen wäre. Dann zumindest wüssten sie alle, weshalb der Zug stehen geblieben war.
Aber er ist nicht einfach nur stehen geblieben, dachte er, es hat die Wagons aus den Schienen gehoben. Das war nicht nur ein Computerausfall, der uns gestoppt hat.
„Da ist kein Saft drauf, oder?“ Vinnie stand in der offenen Tür, blinzelte in die tief stehende Sonne hinter der Panoramascheibe.
„Nein“; sagte Matthews, „tot wie ein Esel drei Wochen in der Sonne.“
„Dad schafft das schon“, sagte Linn. Sie war von Vinnie ein Stück abgerückt. Sie hatte schrecklichen Durst, wollte aber nichts trinken, solange es noch hell war. Vinnie starrte sie dauernd an und sie fühlte sich unwohl dabei, würde sich im Dunkeln verkriechen, etwas trinken und nachsehen, ob Cy in Stimmung war. Vinnie hatte etwas Metallisches an sich, in seinem Aussehen und in seinem Gehabe, und sie würde alles tun, ihm nicht zu nahe zu kommen.
„Diese Schaltkreise“, sagte Vinnie, hockte sich neben Matthews auf den Boden und starrte in die Eingeweide, „vielleicht kann ich da was ausprobieren.“
Sie bastelten, bis es dunkel wurde.
Bevor die Sonne ganz verschwand, begannen sich Simmons und Cy zu prügeln, und obwohl niemand den Auslöser kannte, stürzten sich sofort Gordo und Vinnie auf Cy, nagelten ihn am Boden fest. Simmons tanzte zitternd um sie herum, versuchte schlecht gezielte Tritte anzubringen.
„Er war’s“, schrie er, „er hat mich beklaut.“
„Hast du ihm seine Medikamente geklaut?“ Vinnie zog Cy ein Stück am Kragen hoch. Er schüttelte ihn, als von Cy keine Antwort kam.
„Er wollte mir irgendwas geben“, sagte Cy, „damit ich ihm meinen Anteil abtrete.“
Wieder trat Simmons nach ihm, sein schmutziges blondes Haar fiel ihm ins Gesicht und seine Wut verwandelte ihn in etwas, was noch hässlicher war als ein übler homeboy – jemand, der vorgab, harmlos und nett zu sein, aber nur seinen wahren Charakter versteckt gehalten hatte. Gordo packte Simmons, zog ihn auf die andere Seite des Abteils, sagte sehr deutlich: „Hör zu, Mann. Ich mag es überhaupt nicht, dich anfassen zu müssen. Also beruhig dich. Wenn du weiter um dich trittst, klopfe ich deinen Schädel gegen die Wand und dann stelle ich dir auch keine Fragen mehr. Hast du ihm die Pillen gegeben?“
„Nein“, sagte Simmons zitternd.
„Du wolltest Cy seinen Anteil vom Geld abjagen?“
„Was unterstellst du mir? Es ist ja noch nicht mal aufgeteilt und wer weiß, ob er überhaupt was abbekommen hätte.“
„Oder konntest du deinen Schwanz nicht in der Hose halten?“
Simmons machte eine ruckartige Bewegung nach vorn, aber Gordo musste ihn nur einmal anstupsen und er vergaß seine Attacke.
„Ich versuche nur nicht unterzugehen“, murmelte er, warf einen vorsichtigen Blick in die Runde. Cy hatte sich vom Boden erhoben, rieb sich den Oberarm, wo ihn der Fuß getroffen hatte, aber noch immer machte er ein Gesicht, als ginge ihn das alles überhaupt nichts an. Obwohl Linn in seinem Blickfeld stand, warf er nicht einen Blick zu ihr hinüber.
Nicht, solange es noch hell war.
„Das versuchen wir alle, Junge.“ Weyland hatte sich die ganze Zeit über unsichtbar gemacht, hatte seine Ration Wasser abgeholt, aber nichts gegessen. Seine Stimme kam sehr leise und freundlich aus dem Hintergrund, dass sie sich zu ihm herumdrehten und Gordo Simmons losließ. Es gab keine weiteren Diskussionen, alle gingen sich aus dem Weg und wunderten sich, dass es schon wieder so schnell dunkel wurde. Weyland sprach nicht mehr von seiner verschwundenen Frau. Sie hatten den Eindruck, als habe er sich innerlich schon auf seinen Tod vorbereitet, aber niemand sprach es aus. Wie üblich ordnete Linn ihre Sachen, um sich gegen die Kälte zu schützen, gab eine ihrer Decken ihrem Vater.
„Nimm schon“, sagte sie, „ich hab genug, mir ist nicht kalt.“
„Irgendwie sollten wir für Licht sorgen“, murmelte Vinnie, „die Kälte wäre nur halb so schlimm, wenn man nicht so lange in dieser Dunkelheit sitzen würde.“
Die drei homeboys hatten sich still und heimlich wieder eingefunden und teilten einen letzten Vorrat an Alkohol untereinander auf. Gordo wagte es, sich zu ihnen zu setzen, aber sie ignorierten ihn. Ihre Streitlust war verflogen und ohne das übliche Gerangel untereinander hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen. Nur Leo zeigte ein wenig seine soziale Seite und flüsterte mit Gordo, nachdem seine buddies eingeschlafen waren. Es ging wieder um das Geld und was sie damit anfangen würden, er brachte Gordo mit einer Bemerkung zum lachen. Linn biss an ihren Fingernägeln, hatte sich in die Decke gewickelt. Als sie glaubte, ihr Vater und auch Vinnie würden schlafen, erhob sie sich und tastete sich durch das Abteil.
„Linn?“ Die Stimme ihres Vaters ließ sie zusammenzucken, sie drehte sich halb um und flüsterte: „Ich hol mir nur einen Schluck Wasser.“
„Okay, aber pass auf, dass du dir nicht die Schienbeine stößt.“
Das ist mir noch nie passiert, Dad, dachte sie, nahm einen Schluck Wasser und legte sich wieder auf ihren Platz. Sie wartete auf die nächste Gelegenheit, zeigte Geduld, denn die Nacht nahm kein Ende und sie musste nur lange genug warten. Als ihr Vater neben ihr gleichmäßig schnarchte, stand sie erneut auf, schlich sich mit einer Packung Schokolade, die sie zurückbehalten hatte, zu Cy hinüber, der wieder seinen Platz in der Sicherheitskabine eingenommen hatte, dort zusammengerollt schlief. Linn legte sich neben ihn, breitete die Decke über sich und Cy aus und wartete, dass er aufwachte und sie bemerkte.
„Hi“, flüsterte sie, „hast du was schönes geträumt?“
„Von dir, schätze ich“, sagte er. Er zog die Decke über ihre Köpfe und sie rückten enger zusammen.
„Wer wird dich vermissen, wenn wir hier nicht mehr rauskommen? Gibt es da jemanden?“
Sie flüsterten miteinander, wärmten sich und kamen sich näher, wie sie es unter anderen Umständen nicht geschafft hätten.
„Wen meinst du?“
„Ich weiß nicht. Eltern. Geschwister.“
Cy überlegte und steckte sich ganz nebenbei eine der Pillen und ein Stück Schokolade in den Mund. Die Wirkung trat unvermittelt ein und er konnte nicht mehr unterscheiden zwischen seinen Gedanken und gesprochenen Worten.
„Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren“, sagte er, „ich bin in verschiedenen Einrichtungen groß geworden, bis die alle geschlossen wurden. Dann war da jemand, die sagte, sie wäre meine große Schwester und bei der hab ich dann gelebt. Wir saßen auf der Straße. Aber das ist alles vorbei. Es gibt niemanden, der mich vermisst. Ich vermisse ja auch niemanden.“
„Ich werde meinen Dad vermissen. Es geht ihm nicht gut.“
„Keinen Freund?“
„Niemand in den letzten zwei Jahren. Weshalb haben die homeboys dir den Rücken zerschnitten?“
Cy zuckte zusammen und murmelte etwas, was ihm in Erinnerungsfetzen durch den Kopf schoss, flüsterte dann: „Ich hab ihr Quartier abgefackelt. Das war verdammt komisch, weil ich eigentlich nur eine Kippe weggeworfen habe. Ich hab nur nicht gesehen, dass ich in einer Pfütze aus Benzin stand. Dumm gelaufen. Dabei sind vier homeboys verbrannt. Waren so besoffen, dass sie nicht gemerkt haben, was los war. Deshalb haben sie sich meinen Rücken vorgenommen. Sie hätten es auch mit meinem Gesicht gemacht, aber dazu konnten sie mich nicht fest genug halten.“
„Sie hätten dich töten können.“
„Das hätte ihnen nur halb so viel Spaß gemacht.“
Linn drückte sich enger an ihn, küsste ihn und empfand es als beruhigend und ein wenig kribbelnd, als er eine Hand auf ihre linke Brust legte und dort liegen ließ.
„War es immer schon so?“ fragte sie.
„Was meinst du?“
„Dass das Leben so Scheiße ist. Egal, wie sehr man sich bemüht, es geht alles den Bach runter. Dort, wo ich aufgewachsen bin, ging es ruhig zu, allen ging es gut, aber wir waren abgeschottet von der restlichen Welt. Und wenn man einmal außerhalb der Kuppel war...“
„Du bist in einer der Kuppelstädte groß geworden?“
Sie spürte seine Gänsehaut, küsste ihn erneut.
„Die ersten zehn Jahre. Ist das schlimm für dich?“
Er dachte an seine eigene graue Kindheit, an die Zeit ohne klare Erinnerung und nur das Gefühl von Chaos, Angst und Schrecken, und stellte sich vor, er hätte die Möglichkeit gehabt, einmal in eine der sicheren Städte hineinzukommen. In eine dieser Märchenstädte.
„Ich hab mir vorgestellt, jemanden zu treffen, der aus der Kuppelstadt kommt“, sagte er, „ich dachte immer, die seien anders. Sauberer, viel größer.“
„Ich bin längst nicht mehr sauberer als alle anderen.“ Sie seufzte. „Ich hab nach meiner Zeit in der Kuppelstadt in einer Mine gelebt. Ich war für die Männer da, die dort gearbeitet haben, und nicht alle waren immer nett. Manche haben mich flach gelegt, ohne mich zu fragen und ohne darauf zu warten, dass ich wach war. Aber die meisten waren einfach nur hart arbeitende Männer, die wollten, dass ich nett zu ihnen bin und ihnen was zu essen mache. Mein Dad weiß nicht, dass ich dort gelebt habe. Wir haben uns erst wieder gefunden, als meine Mutter gestorben ist.“
Cy nahm eine Pille aus seinem Vorrat, teilte sie mit Linn und genoss den erneut aufgeputschten Herzschlag, das Wärmegefühl, das sofort einsetzte.
„Ich hab lieber keine Mutter, als eine zu haben, die dann stirbt“, sagte er, und Linn fand das so traurig, dass sie dazu nichts sagen konnte.
Im Rausch der frischen Drogen zogen sie sich eng aneinander, Linn nahm Cys Hand von ihrer Brust und legte sie sich zwischen die Beine. Ihre Hose hatte sie ausgezogen, sie war von der Hitze des Tages durchgeschwitzt gewesen und sie hätte kalt und feucht auf ihrer Haut geklebt.
„Pass auf mich auf“, flüsterte sie, „ich will nicht, dass ich etwas für die homeboys tun muss. Oder für die anderen.“
„Ich kann es dir nicht versprechen“, murmelte er, bewegte seine Hand zwischen ihren Beinen, „wenn ich nur eine falsche Bewegung mache, nageln die mich alle an die Wand. Zuerst die homeboys, dann dein Dad und dann...“ Sie legte ihre Hand über seinen Mund, saugte sich an seinem Hals fest, während sie ihre andere Hand auf Wanderschaft schickte, ihn erst berührte, dann massierte.
„Du kannst es“, hauchte sie, „du bist der einzige. Ich weiß, dass du den homeboy getötet hast.“
Sie schob ein Bein über ihn, drehte sich ein wenig, lenkte ihn in sich hinein.
„Wie ist dein richtiger Name?“ fragte sie, er griff nach ihrem Nacken, zog ihr Gesicht zu sich herunter und nannte ihn. Sie bewegte sich, biss sich dann in die Hand, um keinen Laut von sich zu geben, als sie kam. Dann flüsterte sie seinen Namen. Er wusste, weshalb sie ihn ausgesucht hatte, weshalb sie ihn machen ließ, obwohl sie sich hätte James an den Hals werfen können. Sein Höhepunkt unter Drogen hätte nicht besser sein können, wobei es ihm egal war, ob es an den Drogen oder an der wundervollen Linn lag, die ihn umklammert hielt und nicht mehr hergeben wollte. Er brauchte sehr lange, um wieder zu Atem zu kommen. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Wenn man als Kind in den Straßen groß geworden ist“, sagte er mühsam atmend, „passiert es schon mal, dass die schlechte Luft die Lungen ruiniert. Lässt sich nicht ändern.“
„Wo wolltest du hin?“
„Hmh?“
„Mit dem Zug. Wo hast du hingewollt?“

 
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Kommentare  

Dieser Text hat wirklich alles. Spannung Erotik, Dramatik. Er ist supergut.

Dieter Halle (27.11.2009)

Oho, ganz schön erotisch. Trotz Schmutz und Schweiß - oder gerade deswegen? - kommt in diesem Kap. sehr viel prickelnde Sinnlichkeit herüber und man hofft, dass die beiden sich auch ansonsten gut verstehen mögen.

Jochen (14.04.2009)

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