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33 Seiten

Point Hope - Teil 8

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 3 - Kansas
Die Carvers lebten auf einer einsam gelegenen Farm bei Stockton, in deren Nähe sich die Landstraßen 183 und 24 kreuzten. Die Mutter Patsy Carver, geborene Sheedy, hatte nur das erste Schuljahr besucht, dann hatte der Lehrer sie nach Hause geschickt. Ihr Leben lang, von klein auf, hatte sie einen Haushalt geführt, sich um das Essen und die Wäsche gekümmert, erst ihre Geschwister und später ihre Kinder großgezogen. Sie mochte dumm sein, aber sie war fleißig und liebevoll, bei ihr gab es keine Prügel und keine bösen Worte. Bereits Mitte zwanzig war sie um die hundert Kilo schwer, hatte vier Kinder in die Welt gesetzt, ein Jahr später ein gesundes Zwillingspärchen. Der Mann, der bei ihrem Vater um ihre Hand gehalten hatte, war der Junge von der Nachbarsfarm, Lloyd Carver Jr., der ihr versprach, ihr ewig treu zu bleiben und sie auf Händen zu tragen. Sie übernahmen die Farm ihrer Eltern und kamen auch nach deren Tod gut zurecht, bauten Mais und Getreide an, hielten ein paar Schweine und Hühner. Wäre der Krieg nicht über sie alle hereingebrochen, hätten sie glücklich und zufrieden gelebt, mit einer stetig wachsenden Anzahl von Kindern, aber der Krieg kam und Lloyd war der Meinung, seinen Beitrag leisten zu müssen. Er war vier Monate in Vietnam, als sein Kumpel neben ihm auf eine Miene trat und zerrissen wurde, er selbst wurde schwer im Gesicht und am Kopf verletzt. Als sie ihn wegbrachten, glaubten die Sanitäter zunächst, er sei tot, weil sie durch seinen Schädel hindurch das Gehirn sehen konnten wie durch ein zerbrochenes Fenster. Sein Gesicht flickten sie wieder zusammen, seinen Schädel reparierten sie mit einer Stahlplatte, aber als er im Hospital davon erzählte, er habe Geräusche und Stimmen in seinem Kopf, gaben sie ihm Tabletten und schickten ihn in die Heimat. Anfangs merkte er selbst, dass etwas nicht mit ihm stimmte, er schrieb Briefe nach Hause, während er noch im Militärhospital lag, die die Kinder immer wieder laut vorlesen mussten und Patsy vor Rührung und Sehnsucht zum weinen brachte.
Er wurde aus dem Hospital entlassen, aber da er Angst davor hatte, nach Hause zu gehen, ließ er sich auf eigenen Wunsch in eine psychiatrische Klinik einweisen.
Die Ärzte haben das alles studiert, sagte er sich, die werden mir schon helfen.
Sie halfen ihm mit den Mitteln und dem Wissen, das ihnen zu dem Zeitpunkt zur Verfügung stand; er wurde regelmäßig gefragt, ob er sich besser oder schlechter fühlte und fühlte er sich schlechter, bekam er Psychopharmaka, die viel zu hoch dosiert waren und jede Menge Nebenwirkungen hatten, über die aber nie ein Wort verloren wurde.
Als man ihn als geheilt nach Hause entließ und ihm sagte, er solle endlich den Krieg vergessen, hatten die fremden Stimmen in seinem Kopf längst die Kontrolle übernommen. Nach außen war er ein großer schlanker Mann, dessen Haar früh ergraut und linke Gesichtshälfte vernarbt war, der unauffällig und ruhig durch Stockton fuhr, aber seine Frau und die Kinder erlebten den wahren neuen Kern seiner veränderten Persönlichkeit. Lloyd hatte diese übermächtigen Stimmen in seinem Kopf und deshalb konnte er die Geräusche um sich herum und in dem Haus nicht mehr ertragen. Anfangs versuchte er sich zusammenzureißen, war glücklich darüber, wieder zu hause zu sein, aber die Verletzung in seinem Hirn veränderte ihn nach und nach, und er schrie und brüllte durch das Haus, wenn sich irgendwo etwas rührte. Patsy versuchte, die Kinder ruhig zu halten, wenn er zu Hause war, aber die jüngsten beiden waren erst vier und verstanden nicht, dass sie nicht lachen und spielen durften. Ian war von den Jungs der älteste. Als sein Vater krank aus dem Krieg wiederkam, war er acht Jahre alt, seine beiden älteren Schwester Lilian und Marie waren vierzehn und fünfzehn. Marie kümmerte sich um die kleinsten, während Patsy das Haus in Ordnung hielt und immer für Lloyd da war. Sie sah die Narben und die Verzweiflung in seinem Gesicht, aber sie hoffte noch immer, dass alles wieder gut werden würde. Seine Wunden würden heilen, sie würden wieder glücklich werden. Es wurde Zeit, dass die Felder wieder bestellt wurden, sonst würde die Bank ihre Drohung wahr machen und die Farm wäre Vergangenheit. Aber Dotty und Vern, die Zwillinge, brauchten nur herumzukrähen und Lloyd rastete aus. Er wollte die Kinder nicht rauswerfen, deshalb setzte er sich in seinen Wagen, fuhr über sein unbestelltes Land und starrte dort stundenlang vor sich hin. Zumindest machte er das anfänglich so, weil er wusste, dass alles andere falsch gewesen wäre, eine Versündigung an der Familie, aber diese Skrupel legte er erstaunlich schnell ab.
Innerhalb von Monaten veränderte sich sein Verhalten, er schlug um sich, zertrümmerte die spärlichen Möbel in den Kinderzimmern. Er drohte den Kindern fürchterliche Prügel an, sollten sie in der Schule etwas erzählen oder sich ausheulen wollen, dabei hätten sie auch ohne seine Drohung nichts über die familiären Probleme verraten. Sie wollten so sein wie alle anderen Kinder in der Schule, wünschten sich nichts sehnlicher, als im allgemeinen Trubel unterzugehen, sie alle hatten schon genug damit zu kämpfen, dass die Carvers nicht gerade im Geld schwammen.
Zunächst drohte Lloyd nur mit Prügel, aber es ging nahezu unmerklich in handfeste Tätlichkeiten über und was mit Ohrfeigen und grobes Herumgeschubse begann, endete sehr schnell mit blutigen Nasen und dem ersten gebrochenen Arm.
Stockton hatte nicht einmal zweitausend Einwohner, war ein ruhiges verschlafenes Städtchen, in dem man nicht durch die Straßen gehen konnte, ohne Bekannte und Freunde zu treffen. Die wenigen umliegenden Farmen kamen über die Runden, der Zeitgeist, der am Anfang der Siebziger die Großstädte fest im Griff hatte, war noch nicht zu spüren. Niemand interessierte sich wirklich für die Flower-Power-Bewegung oder für das unglaublich sündige Leben der Hippies und ihre Drogen. Die Kinder konnten auf ihren Rädern zur Schule fahren ohne Gefahr zu laufen unterwegs zu verunglücken oder nicht anzukommen, weil sie unterwegs gekidnappt wurden; das Leben lief in so geregelten Bahnen wie schon vor hundert Jahren zuvor.
Die Carver Kinder besuchten die Vorschule und die Elementary School, waren unauffällig und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Niemand konnte sich mit einem der Kinder anlegen, ohne es sofort mit der ganzen Bande zu tun zu haben, sie hatten nur wenige gute Freunde und diese wurden nicht mehr auf die Farm eingeladen, nachdem Lloyd wieder zu Hause war. Die Einkäufe erledigten die älteren Kinder, meist Lilian und Marie, sie erklärten es damit, dass Lloyd nicht mehr einkaufen könne und Patsy könne den langen Weg nicht mehr laufen.
„Es macht uns nichts aus“, sagte Marie, die jüngere und hübschere der beiden Mädchen, lächelte dann stets gewinnend, „wir müssen doch alle zusammenhalten.“
Sie zogen die Einkäufe auf einem klapprigen Holzwagen durch Stockton und über die Feldwege zur Farm, manchmal nahm sie einer der Nachbarn mit dem Pick-up mit. Sie standen alle in dem Ruf, arm aber grundehrlich zu sein, nie erwischte man sie bei Diebstählen oder anderem Unsinn, den sich Kinder ausdachten; nur wenigen fiel auf, dass sie immer angespannt und ernst waren, selbst den Zwillingen entlockte man kaum ein spontanes Lachen. Sie alle entwickelten Geschick darin, ihre blauen Flecken und kleine Wunden verborgen zu halten, es wurde zu ihrer Lebensaufgabe.
Im Frühjahr 1974 hatten sich die Kinder längst angewöhnt, vor der Schule aufeinander zu warten, anstatt allein oder zu zweit nach Hause zu gehen. Im Haus war etwas vorgefallen, das sie davon abhielt, allein mit den Eltern im Haus zu sein.
In einem wahnsinnigen Anfall hatte Lloyd seine Frau mitten in der Nacht aus dem Hau geprügelt, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hatte. Er war aus seinem leichten Schlaf hochgeschreckt und hatte sofort auf Patsy eingeschlagen, dabei auch von Vern erwischt, der in ihrer Mitte geschlafen hatte. Sein Gebrüll weckte das ganze Haus, aber es dauerte, bis sich die Kinder aus ihren Zimmern wagten, sie lagen erstarrt vor Entsetzen unter den Decken.
Andrew, gerade fünf, war der erste, der aufsprang und nach unten rannte, auf nackten Füßen und in einem Nachthemd, das wie ein alter Kartoffelsack aussah. Er wurde Zeuge, wie Lloyd seine kreischende Frau auf den Hof vor der Haustür mit den Fäusten schlug, so lange, bis ihm selbst die Luft ausging. Im Haus schrie Vern hysterisch, ließ sich kaum beruhigen, und auch nachdem Lloyd sich wieder unter Kontrolle hatte, konnte er nicht sagen, was ihn so wütend gemacht hatte. Er schüttelte den Kopf und schleppte sich ins Bett zurück, wo er wie ein Stein einschlief und vor dem späten Mittag nicht mehr aufwachte.
Marie hatte Vern zu sich ins Bett geholt und dort endlich ruhig bekommen, die älteren Kinder machten in dieser Nacht kein Auge mehr zu. Ian und Lilian halfen Patsy auf die Füße, ihr Gesicht sah aus wie eine aufgeplatzte reife Tomate, sie bekam ihre Augen nicht mehr auf, ein Vorderzahn war gesplittert. Lilian versuchte ihr das Blut abzuwaschen, aber sie zuckte jammernd zurück und murmelte, sie wolle nur schlafen und danach würde es ihr schon wieder besser gehen. Natürlich ging es ihr am Morgen nicht besser. Sie konnte vor Schmerzen nicht aufstehen, blieb im Bett liegen und hörte ihren Mann aufstehen und das Haus verlassen. Sie redete sich ein, es sei nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen, sicher würde Lloyd es nicht wieder tun und ihre Schmerzen würden wieder vergehen. Lilian brachte ihr ein paar Schmerztabletten und sagte, sie solle ruhig weiterschlafen und sich so wenig wie möglich bewegen, dann schickte sie Andrew und Ian in die Schule. Marie und sie blieben zu Hause, kümmerten sich um die drei Kleinen, machten ihnen das Frühstück und spielten mit ihnen. Bei jedem Geräusch zuckten sie zusammen und sahen sich an, Panik in ihren Gesichtern. Sie hatten keine Ahnung, was sie tun sollten, würde ihr Vater jetzt hereingepoltert kommen und wieder einen seiner Anfälle haben. Dieses unkontrollierte Ausflippen war schlimmer als alles andere, was er bisher getan hatte, in ihren Augen verwandelte er sich in ein wildes Tier oder in etwas noch schlimmeres. Ian und Andrew hatten sich dazu entschieden, ebenfalls nicht in die Schule zu gehen, obwohl sie dafür keine Entschuldigung bringen würden. Sie versteckten sich in einer alten Scheune, die auf ihrem Schulweg lag und immer geheimnisvoll aussah, wenn sie daran vorbeikamen. Ian war ein Jahr älter als Andrew und sie dachten sich ständig Schauergeschichten aus, die sie sich regelmäßig erzählten, im Moment allerdings war der reale Horror zu Hause übermächtig. Sie hockten auf einem Stützbalken hoch unter dem löchrigen Dach der Scheune, baumelten mit den Beinen und teilten sich das Schulbrot, das Marie ihnen mitgegeben hatte.
Es dauerte sehr lange, bis sie sich flüsternd unterhielten, so leise, als hätten sie Angst, ihr Vater könnte sie hören. Andrews Schultern begannen zu zucken, er weinte unterdrückt, während er erzählte, wie er Lloyd in Rage auf Patsy hatte einprügeln sehen, als wolle er sie umbringen. So schlimm war es noch nie gewesen.
Ian konnte seinen kleinen Bruder nicht trösten, er legte ihm nur den Arm um die Schultern und drückte ihn an sich, soweit das ging, ohne vom Balken zu fallen.
Als Andrew sagte, das nächste Mal würde er sich aus der Küche ein großes Messer holen und seiner Mutter zur Hilfe kommen, er würde sich endlich wehren, schüttelte Ian ihn ordentlich durch.
„Das tust du nicht, Andy. Wenn du dazwischen gehst, bringt er dich um. Wir müssen einfach nur vorsichtiger sein in Zukunft. Wir dürfen Dad nicht wütend machen.“
Es dauerte Tage, bis Patsy wieder aufstehen und gebückt gehen konnte, nach diesem Vorfall schlief sie nicht mehr bei Lloyd im Schlafzimmer, sondern blieb im Zimmer bei den beiden großen Mädchen, stellte sich eine alte Liege hinein und fand trotzdem nicht viel Schlaf.
Lloyd wollte Ruhe im Haus haben, jedes Geräusch ließ ihn aus der Haut fahren und im günstigsten Fall gingen dann nur ein paar Teller und Möbel zu Bruch. Einmal erwischte Lloyd Ian dabei, wie er im Haus Ball spielte, weil Ian fälschlicherweise angenommen hatte, er sei unterwegs, und seine Strafe für das ‚bong bong bong bong’ im Haus waren Brandzeichen einer Marlboro auf seinen Armen. An einem anderen Abend, als Lloyd von einer Tour zurückkam, brachte er eine Fremde mit ins Haus, ein junges Mädchen, die ihr langes rotes Haar offen trug und unter der Latzhose nur ein winziges Batik-T-Shirt anhatte, das kaum in der Lage war, ihre Titten im Zaum zu halten. Lloyd mochte verrückt sein, aber er bewies noch immer Bauernschläue; die Kinder jagte er in die Scheune neben dem Haus, wo sie bei den Schweinen und der Kuh übernachteten, Patsy dagegen hinderte er daran, ebenfalls zu flüchten.
Lilian sorgte dafür, dass die Kleinen irgendwie schlafen konnten, gut eingepackt zwischen Heu und Stroh, zugedeckt mit ein paar Jacken, die sie hatten mitnehmen können. Sie hörten den schrillen abgehackten Schrei mitten in der Nacht, hoch und kreischend, wie Patsy ihn nicht hätte zustande bringen können.
Als die Kinder sich morgens aus der Scheune wagten, Ian voran, der verhindern wollte, dass Andrew seine Drohung wahr machte, saß Patsy verheult und mit leerem Gesicht in der Küche. Sie hatte die leere Kaffeedose vor sich stehen, hatte Kaffee machen wollen und kein Kaffeepulver mehr gefunden. An ihren Hausschuhen klebte Erde und getrockneter Schlamm, dass Ian sich wunderte, weshalb sie draußen auf dem Feld herumgelaufen war, ohne sich vorher die Gummistiefel anzuziehen. Vater schlief noch und von dem Mädchen war keine Spur zu sehen. Sie hatten dieses Mädchen ins Haus kommen sehen und sich gewundert, mit welchen Versprechungen er sie wohl dazu gebracht haben mochte.
Lilian fragte Patsy danach und sie sagte, das Mädchen sei wieder fort und sie sollten sich keine Gedanken mehr darüber machen. Sie wagten alle nicht, nach dem Schrei zu fragen, den sie gehört hatten.
Am Nachmittag wachte Lloyd auf, schlurfte durch das Haus und begann ohne eine weitere Erklärung die Kindersachen aus den Fenstern zu werfen, erst aus dem einen, dann aus dem anderen Zimmer. Die Kinder waren schon so konditioniert, dass sie dagegen nicht protestierten oder auch nur wissen wollten, weshalb er das tat.
„Ihr zieht aus“, rief Lloyd, „ich brauch das Haus für mich. Sammelt euren Kram ein und verschwindet in die Scheune, die ist groß genug für euch.“
Er erklärte nicht, weshalb er das Haus plötzlich für sich brauchte und schon am frühen Abend verschwand er wieder mit dem Wagen. Patsy half den Kindern beim absurden Umzug, erklärte ihnen ohne Unterlass, dass es nur vorübergehend sein würde, zu den Mahlzeiten könnten sie ins Haus kommen, und damit sie nachts keine Angst hatten, würde sie bei ihnen schlafen.
In der ersten Nacht wachten die Zwillinge Vern und Dotty bei jedem Geräusch der Tiere auf und weinten, obwohl sei bei ihrer Mutter lagen. Bobby und Andrew teilten sich einen Schlafplatz und kicherten die halbe Nacht lang, weil sie sich gegenseitig in die Arme und in die Hälse zwickten und dann flüsterten, die Mäuse würden bereits über sie hinwegkrabbeln und sie anknabbern. Noch machten sie sich einen Spaß daraus, aber as hörte schlagartig auf, als Dotty am nächsten Morgen eine tote Maus unter ihren Decken fand. Niemand machte mehr Witze über Mäuse.
Unter den Sachen, die den Weg durchs Fenster genommen hatten, waren auch Ians Schulbücher und Hefte gewesen, aber die hatte Lloyd alle einmal in der Mitte durchgerissen.
„Was soll ich in der Schule sagen?“ fragte er hilflos, „am besten ist, ich geh gar nicht mehr hin.“
„Die anderen Sachen sehen auch nicht besser aus“, erwiderte Marie, „wir könnten sagen, eine Flutwelle hätte unser Haus weggespült und wir sind noch auf der Suche nach unseren Schulsachen, Okay?“
„Was denn für eine Flutwelle?“ fragte Ian vorsichtig grinsend und seine große Schwester nahm ihn in die Arme, knuffte ihn sehr liebevoll und hielt ihn so eine Weile fest.
Seit Lloyd nach und nach die Familie zerstörte, rückten die Kinder so eng zusammen, dass es zwischen ihnen keinen Streit und Zank gab, bei Meinungsverschiedenheiten wurden sie leiser statt lauter. Marie sagte, sie würde sich wegen der Schulbücher etwas einfallen lassen, er solle sich keine Gedanken machen und sie schenkte ihm als Trost einen kleinen Taschenkalender, in dem er weiter hineinmalen konnte. Ian malte und zeichnete sehr gerne, vielleicht war das der Grund gewesen, weshalb Lloyd seine Sachen zerrissen hatte.
„Morgen nach der Schule kaufen wir dir einen neuen Zeichenblock“, sagte Marie, aber sie wusste, dass das knappe Geld dafür nicht reichen würde. Vater Lloyd verwaltete das Geld, seit er wieder zu Hause war, denn Patsy konnte mit Geld überhaupt nicht umgehen. Während er im Krieg war, hatte seine Schwester das finanzielle übernommen und sie hatte Patsy das Geld für Lebensmittel einmal wöchentlich vorbeigebracht. In der Bank in Stockton hatten die Carvers keine Schulden, aber sie hatten auch nichts auf der hohen Kante. Die Schulden kamen erst, als Lloyd in Behandlung war und die Rechnungen ins Haus geflattert kamen, die Patsy nicht begleichen konnte und die sie eigentlich auch nicht verstand, denn Ian gegenüber sagte sie, als sie eine der Rechnungen in den Händen hielt, die Army habe Lloyd nach Vietnam geschickt und die würden sich auch um seine Behandlung kümmern, da sei sie ganz sicher. Die Rechnungen steckte sie dahin, wo sie gerade was zu tun hatte und vergaß sie völlig, war später davon überzeugt, eine Nachricht von der Army bekommen zu haben, dass alles geregelt sei, aber diese Nachricht war natürlich nirgends zu finden, als sie danach suchten.
Lloyd waren die Schulden egal, denn bald war es ihm auch gleichgültig, wie seine Familie über die Runden kam. Er schien zu dem Zeitpunkt, als er die Kinder in die Scheune nebenan verbannte, plötzlich über eine neue Einnahmequelle zu verfügen, jedenfalls rührte er das gestresste Konto nicht mehr an.
Lilian fragte Patsy, ob Dad einen Job habe, aber sie wusste von nichts. Lloyd redete nicht mehr mit ihr. Er verlangte kein Frühstück, kein aufgeräumtes Haus, kein gemachtes Bett, meist war er mit dem Wagen unterwegs, kam mitten in der Nacht heim und dann hörte sie beängstigende Geräusche, die sie weder einordnen noch hinterfragen wollte. Lloyd war ihr vollkommen fremd geworden und sie hatte nur noch Angst, was auch die Erinnerung an die schönen Zeiten verblassen ließ.
Es vergingen zwei Wochen und an einem regnerischen Morgen brachte Lloyd ein weiteres Mädchen auf die Farm, verschwand mit ihr im Haus. Ian war nur noch sporadisch in der Schule, nicht nur wegen der fehlenden Bücher. Er verließ einfach nicht mehr gerne die Farm. Er hatte das Gefühl, auf die Geschwister aufpassen zu müssen, und das konnte er nicht, wenn er in der Schule war. In seinem Kalender fanden sich kleine Zeichnungen, jeweils begrenzt auf die zwei Felder pro Seite, die beunruhigend wie Bilder eines Erwachsenen aussahen, wenn es auch nicht klar war, was sie ausdrücken sollten.
Durch die Dachluke der Scheune, die zur Seite des Hauses lag, konnte Ian beobachten, wie sein Dad mit seiner alten Armeejacke einen Regenschutz bildete, um das Mädchen mit dem langen schweren Rock und dem Ringelpullover trocken ins Haus zu bringen. Er lief neben ihr her, hielt die Jacke über ihren Kopf und ließ sie auf der Veranda liegen, nachdem das Mädchen im Haus verschwunden war. Es regnete, aber es war nicht kalt, trotzdem begann Ian zu zittern, wollte seinen Platz an der Dachluke verlassen, aber er war wie gelähmt. Es gab nichts, was er sich sehnlicher wünschte, als zehn Jahre älter zu sein und dem Wahnsinn ein Ende machen zu können, alt genug, um sich Lloyd entgegenzustellen. Davon träumte er, er stellte es sich immer wieder vor und obwohl er es nie nach außen zeigte, schien sein Dad es zu spüren, denn er schnappte ihn sich bei jeder Gelegenheit. Lloyd schlug nicht ins Gesicht, weil er annehmen musste, dass die Kinder noch immer in die Schule gingen und er konnte keine neugierigen Fragen gebrauchen.
Was wirklich im Haus vor sich ging, konnten die Kinder nur ahnen, denn Lloyd hatte die Fenster von innen verhangen und am nächsten Tag von außen mit Brettern vernagelt.
Das Mädchen, das aus dem Wagen seines Vaters gestiegen war, war etwa in Maries Alter gewesen und Ian konnte sich nicht vorstellen, weshalb sein Dad ein Mädchen mit nach Hause nehmen sollte. Er saß stundenlang am Fenster, beobachtete, dass Patsy das Haus verließ und wie betäubt in den Regen hinausging, gefolgt von Lloyd, der sie einholte, am Arm packte und zurück ins Haus zog.
Das Mädchen kam nicht heraus, jedenfalls nicht in den Stunden, die Ian bewegungslos an der Dachluke hockte. Nach und nach kamen seine Geschwister nach Hause, bevölkerten die Scheune, die längst wie ein großes Kinderzimmer aussah, in dem Stroh und Heu herumlagen und sich zufällig Tiere hineinverirrt hatten. Es war alles nicht mehr sauber, Kleidung und Spielsachen lagen auf dem Boden herum, die Zwillinge waren ständig mit einer dunklen Staubschicht überzogen, außer um den Mündern herum und unter den Augen, wenn sie geweint hatten.
Andrew kam zu Ian ans Fenster, setzte sich zu ihm und versuchte herauszufinden, was sein Bruder da beobachtete.
„Wann gehst du wieder in die Schule?“ piepste er.
„Weiß nicht.“
„Lilly hat gesagt, dass du noch immer krank bist.“
„Hat denn irgendeiner nach mir gefragt?“
„Wer hätte denn nach dir fragen sollen?“ sagte Andrew. Wenn er grinste, entblößte er seine fehlenden Schneidezähne, was ihn richtig niedlich aussehen ließ.
„Andy“, sagte Ian, „tust du mir einen Gefallen? Wenn dich jemand fragt, was mit mir ist, sagst du einfach, ich bin krank und zwar ganz schlimm, irgendetwas schlimmes, was du nicht mal aussprechen kannst. Und ansonsten...“
„Ich weiß schon“, wisperte Andrew, legte die kleinen schmutzigen Hände fächerartig an die Winkel seines Mundes, „über nichts reden, mit keinem. Nicht mit den Lehrern und nicht mit den anderen Kindern.“
„Ich weiß, dass du dich daran hältst.“
Andrew stierte aus dem Fenster, biss auf seinen Fingernägeln herum und fragte: „Beobachtest du unser Haus?“
„Nein“, sagte Ian mit abgewandtem Gesicht, „ich passe nur auf, das ist alles.“
Tagsüber spielten sie auf dem Hof und im Garten, verschwanden nur in die Scheune, wenn Lloyd mit dem Wagen angefahren kam. Patsy half ihnen, so gut sie konnte, brachte ihnen Essen und spielte mit ihnen, aber die älteren bemerkten die Veränderung, die mit ihr vorging. Lloyd machte irgendwas mit ihr in dem verbarrikadierten Haus, etwas schreckliches, das ahnten sie. Immer wieder betonte Patsy, es sei alles in Ordnung mit Dad, er habe die Fenster nur zugenagelt, weil ein paar Fensterscheiben kaputt gegangen waren und sie kein Geld für den Glaser hatten. Die Tatsache, dass sie bei jedem Geräusch zusammenzuckte, so schnell an Gewicht verlor, dass man ihr dabei zusehen konnte, obwohl sie noch vor Monaten über hundert Kilo gewogen hatte, sich nicht mehr wusch, tat sie als Kleinigkeit ab.
„Lloyd arbeitet am Badezimmer“, sagte sie, „ich habe nicht mehr so viel Hunger wie früher.“
Bei Anbruch der Nacht setzte Ian sich vor die Scheune, drückte sich in den Schatten, wo er sicher sein konnte, das er nicht zu sehen war, wartete noch immer darauf, dass das Mädchen, das er gesehen hatte, wieder das Haus verließ. Wenn sie das Haus verließ, hieß das, dass Dad irgendetwas mit ihr gemacht hatte, dass es ihr aber gut ging und sie wieder nach Hause fahren konnte. Er hatte keine Uhr, war fast eingeschlafen, als seine Mutter das Haus verließ, aber es musste sehr spät sein. Mit klopfendem Herzen starrte er durch die Dunkelheit. Unter normalen Umständen hätte er nichts gesehen, aber der Mond stand direkt über dem Haus und war fast voll, das ganze Tal war in ein milchiges Licht getaucht. An ihrer kleinen gebückten Gestalt erkannte Ian seine Mutter, die alle Kraft aufbringen musste, um das große Bündel hinter sich herziehen zu können. Sie zog und zerrte, machte Verschnaufpausen, in denen sie den Rücken durchdrückte, sich dann wieder in Bewegung setzte. Ian fragte sich nicht nur, was in dem Sack war sondern auch, wo sie damit hinwollte mitten in der Nacht. Die gewöhnlichen Abfälle stellte Patsy in schwarzen Plastiksäcken vor das Haus, aber sie zog damit nicht bis auf das Feld hinaus.
In der Senke, die in ein Wäldchen überging, war man vor neugierigen Blicken geschützt und genau dort hin schleppte Patsy den Sack. Ian folgte ihr sehr vorsichtig und mit großem Abstand, schlich ihr geduckt nach. In dem weichen Boden war eine tiefe Furche gezogen, die von dem Sack herrührte, aber Ian wagte es nicht, den Boden dort zu betreten. Es war irgendeine Art von Vorahnung, ein entsetzliches Gefühl, das er weder unterdrücken noch bekämpfen konnte. Er folgte der Spur, ohne ihr zu nahe zu kommen, machte einen Schlenker an den Rande des Unterholzes und hockte sich hin, nachdem er eine Stelle gefunden hatte, von der aus er die Senke beobachten konnte.
Seit Lloyd die Felder nicht mehr bestellte, verwüstete das ganze Land, stellenweise war das Unkraut einen halben Meter hoch. Die Senke stand unter Wasser. Patsy brachte den Sack nicht weiter; ihr Keuchen und Weinen drang bis zu Ians Versteck vor. Sie ließ den Sack liegen, humpelte in Ians Richtung, der sich entdeckt fühlte und sich mit dem Gesicht voran in den Dreck drückte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, er malte sich schon aus, dass Patsy ihn wutentbrannt ins Haus zu Lloyd schleppte, wo er seine Abreibung kriegen würde, weswegen auch immer, vollkommen egal. Um ihn herum war alles still, auch Patsys schnaufender Atem kam nicht näher, und als er es wagte, den Kopf zu heben und über die Grasnarbe hinweg zu sehen, war seine Mutter wieder zu der Stelle zurückgekehrt, an der sie den Sacke zurückgelassen hatte; in der rechten Hand hielt sie einen Spaten. Ian zitterte am ganzen Körper, brachte sich nicht unter Kontrolle, denn plötzlich wusste er, was sich in dem Haus abspielte und weshalb seine Mutter sich so seltsam benahm. Beim Anblick des Spatens, der griffbereit in der Senke des Feldes herumlag, wusste er auch, wo das Mädchen geblieben war. Sie hatte das Haus verlassen, aber nicht auf ihren eigenen Füßen. Er konnte nicht länger zusehen, wie Patsy die schwere nasse Erde aushob, um den Sack im Boden verschwinden zu lassen, er kroch auf allen vieren rückwärts durch Büsche und Sträucher, rannte dann so schnell er konnte bis zur Scheune zurück.
Den Rest der Nacht brachte er kein Auge zu, hockte wieder an der Dachluke und zeichnete zwei schwarze Kreise in die Innenseite seines Kalenders. Ein Kreis schien das Gegenteil eines Kreuzes zu sein, denn ein Kreuz, um Gräber zu markieren, schien ihm zu auffällig. Er fühlte sich klein und hilflos, er wollte das alles vergessen, was er gesehen hatte, er wollte wieder ein ganz normales Leben führen, wieder zur Schule gehen und sich um nichts Sorgen machen müssen. Auch den Geschwistern sagte er nichts, weil er sie nicht beunruhigen wollte.
Andy, der ihm von den Jungs am nächsten stand, schmiss ebenfalls die Schule, weil er die schlimmer werdenden Hänseleien nicht mehr ertragen konnte und weil ihn schon mehr als ein Lehrer gefragt hatte, ob seine Mutter krank sei. Es sei schon allen aufgefallen, dass die Carver-Kinder in letzter Zeit etwas verlotterten und der Lehrer, der sich freundlich und verständnisvoll gab, schien wirklich zu glauben, der Junge würde ihm auf diese Frage hin das Herz ausschütten und ihm alles anvertrauen; aber Andrew zuckte nur mit den mageren Schultern und verzog sich. Er hätte selbst dann nichts zugegeben, wenn der Lehrer ihm Fotos von den Zuständen auf der Carverfarm gezeigt hätte. Seitdem ging er nicht mehr hin in die Schule, war morgens pünktlich verschwunden, wenn die großen zum Schulbus pilgerten und tauchte erst Stunden später wieder auf. Niemand sprach ihn darauf an, Marie und Lilian hatten genug eigene Probleme und dass die Jungs sich vor der Schule drückten, war das kleinere Übel. Die Zwillinge, die an ihrer Mutter hingen und nicht verstanden, dass sie nicht mehr ständig um sie war, verkrochen sich in ihren improvisierten winzigen Bettchen und wollten nichts hören und nichts sehen. Es war fast unmöglich, sie dazu zu bewegen, etwas zu essen oder zu trinken. Vern und Dotty spürten, wie gefährlich die Situation geworden war, denn sie zogen sich sofort die Decke über die Köpfe und stellten sich tot, wenn Lloyd die Scheune betrat. Meist behauptete er, nach dem rechten sehen zu wollen, brüllte um Ruhe und kickte herumliegende Sachen weg, aber schon Tage später schnappte er sich Marie und Ian uns sagte, sie wollen ihm beim aufräumen helfen. Ian zitterte schon beim betreten des Hauses, drückte sich eng an Marie, die misstrauisch war, aber vollkommen ahnungslos. Noch während sie die steifen Abfallsäcke nach draußen schleppten, dachte sie an Reste aus der Küche, die sich angesammelt hatten, obwohl ihr beim Gang durchs Haus auffiel, dass alles in einem großen Chaos war, noch schlimmer als in der Scheune.
Aus der Küche drang eine Wolke aus Fäulnis, Kotze und Scheiße, der Kühlschrank war umgestürzt, alle Schränke von den Wänden gerissen. Kein Stück Geschirr war mehr heil, es gab kein Lebensmittel, das nicht verschimmelt war und Lloyd hatte es in seiner Raserei geschafft, die Armaturen aus der Wand zu reißen. Im Haus war offensichtlich das Wasser abgestellt, anderenfalls hätte sich die Küche in die Niagarafälle verwandelt.
Marie drückte Ian unauffällig an sich, wagte ihm erst etwas zuzuflüstern, als sie sich vergewissert hatte, dass Lloyd nicht in Hörweite war.
„Hör auf so zu zittern“, flüsterte sie.
„Wo ist Mommy?“
„Sie ist bestimmt oben und schläft.“
„Können wir nicht nach ihr suchen?“
„Ian, was ist los mit dir? Mommy geht es gut, ganz bestimmt.“
Ian nickte und kämpfte stumm mit den Tränen, zog und zerrte verbissen an dem Sack.
In dieser Nacht träumte er nur noch davon, dass er an einem riesigen schwarzen Sack zerrte, in dem es sich bewegte, als würde jemand versuchen herauszukommen, und während er verzweifelt bemüht war, den Sack nur wegzuschaffen, riss er an der Seite auf und eine blutige Hand mit eingerissenen Fingernägeln fiel heraus, griff nach ihm und versetzte ihn in helle Panik. Aus diesem Alptraum konnte er sich nicht mehr befreien, immer wieder griff die Hand nach ihm, der Sack riss weiter auf und Ian schlug die Hände vors Gesicht, um den Besitzer dieser blutigen Krallen nicht ansehen zu müssen. Es war eine der Frauen, die gestorben waren, weil sein Vater irgendetwas mit ihnen gemacht hatte.
Marie wollte den Sack am Haus stehen lassen, wie das so üblich war mit dem Müll, aber als Lloyd das sah, herrschte er sie an, sie solle die Säcke rüber an das Feld bringen. Marie zögerte eine Sekunde zu lang und er stürmte auf sie zu, packte sie bei den Schultern und schleuderte sie zu Boden. Sie tat sich nicht wirklich weh, fiel in den Dreck und ließ sich abrollen, in Erwartung von noch mehr Schlägen blieb sie direkt liegen. Lloyd schwankte noch, ob er zuschlagen sollte oder nicht, wurde von Ian abgelenkt, der mit ganzem Krafteinsatz an dem Sack zerrte, um seinen guten Willen zu zeigen und seiner Schwester die Prügel zu ersparen. Die unkontrollierten Wutausbrüche, die Geräuschempfindlichkeit und die schräge Überzeugung, jemand hätte das Trinkwasser vergiftet, um ihn umzubringen, waren auf seine Hirnverletzung zurückzuführen, nicht aber sein plötzliches Interesse an junge herumziehende Mädchen. Wäre dieser Drang krankhaft gewesen, hätte er kaum die Geistesgegenwärtigkeit besessen, für seine tödlichen Spiele Mädchen auszusuchen, die fremd in Stockton und Umgebung waren und die so schnell niemand vermissen würde. Ian war zu jung, um diese Zusammenhänge zu erkennen, aber er konnte die Veränderung und die Gefahr sehen, die sein Vater ausstrahlte. Er machte sich keine Gedanken um das warum und wieso, er wusste nur, dass er versuchen musste, seine Geschwister zu beschützen.
Lloyd ließ Marie in Ruhe, sagte ihr nur im schroffen Ton, sie solle ihren Arsch erheben und mit anfassen und endlich den Sack wegschaffen, bevor er wieder ins Haus verschwand.
„Was ist da drin?“ fragte Marie, „warum will er das Zeug unbedingt aufs Feld verteilen?“
„Ich weiß es nicht. Und ich will auch nicht sehen, was drin ist.“
Seine Angst war unbeschreiblich, er könnte seine Mutter nicht wieder sehen, sie könnte in diesem undurchsichtigen Plastiksack stecken, zusammengefaltet wie die Reste eines gebratenen Hühnchen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie wirklich nur ein Nickerchen machte und Lloyd nicht allein in der Ruine von Haus war, in das er niemanden mehr hineinließ, außer, um Abfall hinauszubringen.
Aber er hatte nicht gesagt, dass es Abfall war, eigentlich hatte er sich nicht darüber geäußert, was in dem Sack war, nur, dass er aufs Feld sollte. Es war Okay, Marie denken zu lassen, es sei etwas kompostierbares, zu schade für die Müllabfuhr.
Sie ließen den Sack vor der Grenze zum Feld liegen, wie Lloyd es verlangt hatte, schlenderten zurück zur Scheune. Marie versuchte, den Lehm von ihrem Kleid zu bekommen, gab es aber erfolglos auf. Sie würde ihn antrocknen lassen, um den alten Fetzen war es nicht schade, aber Marie hatte nicht mehr viele Kleider, die sie noch tragen konnte.
„Du musst wieder etwas mehr essen, kleiner Bruder“, sagte sie, „du willst doch nicht krank werden diesen Sommer.“
„Nein, will ich nicht“, antwortete Ian. Sein Blick war auf seine Schuhe gerichtet, dreckig und löchrig und die Socken darin passten nicht zueinander. Seine nackten Beine waren zerschrammt und blutig. Er trug ein altes Hemd mit langen Ärmeln, um die neuen blutigen Schnitte verborgen zu halten. Die Mädchen weinten immer, wenn sie neue Wunden an ihm entdeckten.
„Okay“, sagte Marie, wuschelte ihm durch das Haar, „wir werden sehen, was wir zusammen zaubern können.“
Ian konnte dann doch nichts essen, gab seinen Teller an Bobby weiter, der wiederum die Hälfte davon mit den Zwillingen teilte, allerhand Faxen machte, damit sie fröhlich waren und aßen.
An den Abenden kam für gewöhnlich Patsy auf einen Besuch vorbei oder schlief bei ihnen, aber diesmal warteten sie vergebens. Ians schlimmste Vermutung schien sich zu bestätigen, er wagte gar nicht, es laut auszusprechen, wären nicht die jüngeren Geschwister gewesen, die nach Mommy zu fragen begannen. Marie dachte sich zwei Tage lang Ausreden aus, dann sagte sie: „Ich geh rüber und seh nach ihr.“
Lilian versuchte sie zurückzuhalten oder sie dazu zu bringen, wenigstens zu warten, bis Lloyd mit dem Wagen weggefahren war.
„Ich rede schon mit ihm“, sagte Marie, „in den letzten Tagen war er doch ganz ruhig. Er wird mich schon nicht schlagen.“
Ian lief ihr bis an die Scheunentür nach, wollte mitgehen, um nach Patsy zu sehen, aber Marie drückte ihn herzlich an sich und hielt ihn fest, warf dabei einen verstohlenen Blick auf die anderen Geschwister, die gebannt zu ihnen hinübersahen. Marie hielt Ian fest, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sie würde ihn nicht wieder sehen, allerdings dachte sie mit Schaudern daran, dass Ian etwas zustoßen würde, nicht ihr selbst. Er war so klein und verletzbar und er war Lloyds bevorzugte Zielscheibe. Sie wollte ihn schützen, deshalb ging sie allein ins Haus, um nach Patsy zu sehen, ängstlich und optimistisch zugleich. War Lloyd im haus, würde sie ihm einfach Hilfe anbieten, ihm etwas zu essen machen oder seine Hemden waschen, dafür konnte er sie nicht bestrafen. Sie lief mit raschen Schritten zum Haus hinüber.
Ian wartete an der Scheune, bis sie verschwunden war, dann versuchte er sich abzulenken, spielte mit den Kleinen und half Lilian, etwas Essbares zuzubereiten.
Andrew war in Stockton gewesen und hatte ein paar Konserven mitgebracht. In der Schule war er natürlich wieder nicht gewesen. Briefe an die Eltern wurden zwar noch zugestellt, aber es sah nicht so aus, als würde Lloyd noch ein Interesse an der Post haben. Immer wieder standen sie am Fenster, horchten nach draußen und beteten, dass Marie zurückkam und sagte, dass es Mommy gut ging und sie einfach nur zu müde war, um nach ihnen zu sehen.
Nachdem die Kleinen gegessen und sich wieder ins Bett verkrochen hatten, öffnete sich die Tür und Lloyd kam herein. Die Kinder erstarrten, niemand schien mehr zu atmen. Er stand in der geöffneten Tür, eine große bedrohliche Erscheinung, nicht nur, wenn man ein kleines Kind war. Es war heiß und er trug nur ein Unterhemd und eine seiner alten Armeehosen, seine massigen Arme und Hände waren mit grau-grünlichem Zeug bedeckt, als habe er in irgendwas gewühlt, er hatte auch Spuren davon im Gesicht.
„Hört mal“, sagte er, „ich hab Marie in die Stadt geschickt, damit sie ein paar Sachen für mich erledigt und einkauft. Es kann sein, dass sie spät nach Hause kommt.“
Er sah in die Runde der stummen Kinder und für eine Sekunde veränderten sich ihre Gesichter, verwandelten sich in schwarz-weiße Fratzen, die mit den Augen rollten, ihm die gespaltenen Zungen raussteckten und ihn auslachten. Es waren nicht mehr seine Kinder, es waren Höllenmonster, die sich darauf vorbereiteten sich auf ihn zu stürzen, aber dann blinzelte er einmal und die Vision war verschwunden. Wenn ihm solche seltsamen Dinge passierten, ging er einfach darüber hinweg, vergaß es bereits nach wenigen Minuten wieder; außer, die Fratzen ließen sich nicht wegblinzeln. Das passierte immer öfter in letzter Zeit und dann rastete er wirklich aus.
Die Gesichter seiner Kinder brachten ihn in die Realität zurück, wenn sich seine eigene Realität auch sehr verschoben hatte und er selbst es nicht mehr bemerkte.
Dotty sah über den Rand ihrer Decke hinweg, gluckste und fragte „Mommy?“, sah Lloyd mit großen Augen an. Lloyd blieb so ruhig an der Tür stehen, als habe er die Kleine nicht verstanden, und als Dotty aus unerfindlichen Gründen zu weinen begann, stieß er einen grollenden Schrei aus und stürmte nach draußen. Das Weinen der Zwillinge hatte etwas unheimliches, sie brüllten nicht wie andere Kinder in ihrem Alter, sie verzogen nicht einmal die Gesichter. Die Tränen flossen lautlos, während sie einen weiter mit großen Augen ansehen, sie waren zu sehr darauf getrimmt, still und unauffällig zu sein, als dass sie sich noch normal verhalten hätten. Dotty ließ sich nicht trösten, steckte ihren Bruder an und auch Lilian schaffte es nicht, die beiden abzulenken. Es dauerte Stunden, bis die beiden einschliefen und dann warteten sie alle nur noch auf Maries Rückkehr.
Ian hatte sich an die Fensterluke zurückgezogen, malte sehr sorgfältig in seinem Kalender herum und er war der einzige, der wusste, dass Marie nicht wiederkommen würde. Inzwischen kannte er die seltsamen Macken seines Vaters so gut, dass er wusste, dass er Marie niemals in die Stadt geschickt und es auch den anderen nicht erzählt hätte. Er hatte nur vorgesorgt, weil er dann den Kindern sagen konnte, sie sei aus Stockton nicht zurückgekommen.
Ian schlief hockend am Fenster ein, wachte er st mitten in der Nacht wieder auf, fragte sich, wie das so weitergehen sollte und wer dem ein Ende machen könnte. Er konnte nicht weinen, obwohl er sich wünschte, weil er sich danach besser fühlen musste, soweit das überhaupt möglich war. Er wollte den Druck in seinem Kopf und in seiner Brust loswerden, wusste aber nicht wie, wenn er nicht weinen konnte. Es schien, als hätte auch er sich das Weinen aberziehen lassen.
Marie war nicht mehr da und Lloyd tauchte für Tage nicht mehr auf der Farm auf, war mit seinem Wagen verschwunden und Lilian wagte zu sagen, dass es das allerbeste sei, wenn Lloyd wirklich nicht mehr zurückkommen würde. Sei erzählte den Kleinen, Mommy sei krank zu Hause und in den nächsten Tagen würde sie sich wieder um sie kümmern.
„Wir kommen allein besser zurecht“, sagte Lilian, “dann ziehen wir wieder ins Haus und bringen alles auf Vordermann.“
Dotty und Vern waren krank, aber aus Angst vor Lloyd konnten sie sie nicht zum Arzt bringen, versuchte, ihnen so zu helfen und hofften, es würde von allein besser werden.
Lloyd kam zurück, polterte wie meist durch das Haus wie ein Betrunkener und kam hinüber in die Scheune; aber wenn er wollte, konnte er auch so leise sein, dass er sie alle überraschte.
In der Dämmerung griff er sich Ian, der an der Pumpe seinen Durst gestillt hatte, packte ihn sich und zerrte ihn ins Haus, schnaubend und vor sich hin murmelnd. Ian hatte keine Kraft zur Gegenwehr, bemühte sich nur, auf den Füßen zu bleiben. Auf der Veranda stand einer der schwarzen Müllsäcke, halb gefüllt mit irgendwas und noch nicht zugebunden. Ein Windstoß drückte die Öffnung zur Seite, ließ das Plastik flattern und Ian wagte nicht hinzusehen.
„Du wartest hier“, sagte Lloyd, ließ ihn los und verschwand ins Haus, wo er herumkramte, dabei vor sich hin pfiff.
Ian hätte sich in hundert Jahren nicht bewegt, wenn Lloyd es ihm nicht erlaubte, aber sein Blick wanderte langsam zu dem Sack hinüber, der in dem Wind damit drohte, seinen Inhalt zu verraten. Er war schwer genug, dass er nicht davonfliegen konnte, aber die Ränder flatterten auseinander und gaben etwas Buntes frei. Lloyd kam zurück, in einer Hand ein lumpiges graues Handtuch, das übersät war mit rostbraunen Flecken, das stopfte er in den Sack, band ihn mit einem Hanfseil zu und sagte zu Ian, er solle den Sack nehmen und ihm folgen.
„Wenn du herumtrödelst“, sagte er, „kannst du was erleben.“
Das Innere des Sacks fühlte sich weich an, nachgiebig wie die Säcke des Lumpensammlers, aber Ian konnte nicht darüber nachdenken, was es sein könnte. Er wusste nur: Patsy war nicht mehr da, um Löcher auf dem Feld zu graben, deshalb musste er das jetzt tun.

Andrew verbrannte an einem Nachmittag seine Schulsachen draußen auf dem Feld, weil er die Schule abgehakt hatte. In der zweiten Klasse hatte man noch nicht so viele Bücher, trotzdem war es für ihn ein kleines Freudenfeuer, er beobachtete die Rauchsäule, die kerzengerade in den blauen Himmel stieg. Ian kam auf seinem Rad aus Stockton zurück, wo er versucht hatte, an Lebensmittel zu kommen, obwohl sie kein Geld mehr hatten, um sie zu bezahlen, im Supermarkt hatte er etwas altes Obst und Brot bekommen. Es würde nicht für alle reichen, aber vielleicht bekamen sie wenigstens die Kleinen satt. Schon von weitem sah er die Rauchsäule und trat wie ein Irrer in die Pedale, die ganze Zeit das Bild vor Augen, das Lloyd etwas auf dem Hof verbrannte, anstatt es zu vergraben. Er war außer Atem und der Panik nahe, bis er in die Nähe des Feldes kam und Andrew im Schneidersitz auf dem Boden hocken sah.
„Hey“, rief er, sprang vom Rad, stolperte und fiel flach auf den Bauch, das Rad rollte neben ihm noch ein Stück weiter, bis der Lenker umschlug und es umfiel. Die Plastiktüte fiel aus dem Korb und das Obst rollte heraus. Andrew stieß einen begeisterten Schrei aus, als er die Äpfel sah, gemeinsam sammelten sie alles wieder ein, richteten das Rad auf.
„Was verbrennst du da?“
„Ein paar Sachen, die ich nicht mehr brauche. Marie war nicht in Stockton, oder? Hast du sie gesehen?“
Ian schüttelte den Kopf. Sie kehrten zur Scheune zurück, mit Angst schlichen sie an Lloyds Wagen vorbei, der mit offener Fahrertür auf dem Hof stand und sie atmeten erst auf, als sie in der Scheune waren.
„Hast du Daddy heute schon gesehen?“ fragte Ian und Andrew sagte: „Er hat nur kurz zu mir rübergesehen, als ich die Bücher verbrannt hab, nur ganz kurz und dann war er wieder weg.“
Sie hörten Lloyd den ganzen Nachmittag und Abend im Haus schreien und poltern, als würde er auch weiter Möbel zerschlagen und Wände einreißen. Selbst Bobby und Andrew glaubten nicht mehr daran, dass ihre Mommy noch im Haus sein könnte; sie musste nach Stockton geflohen sein, um dort Hilfe zu holen. Sie konnte praktisch jede Minute zurück sein. Daran hielten sie fest, machten sich über das trockene Brot und die Äpfel her, die Lilian gerecht zu verteilen versuchte. Sie hatte stundenlang geweint, versuchte es zu verbergen, aber die Spuren in ihrem Gesicht ließen sich nicht überspielen, wenn sie es auch versuchte. Sie selbst aß nur eine Ecke Brot, ebenso wie Ian, der so tat, als habe er in Stockton schon etwas gegessen.
Als der Lärm im Haus nebenan plötzlich verstummte, atmeten sie auf, zuckten aber dann um so mehr zurück, als Lloyd die Scheunentür aufriss, hereinstürmte und mit den bloßen Händen auf Andrew einschlug. Dotty und Vern schossen in die Ecke, verbargen ihre Gesichter, umklammerten sich gegenseitig wie im Mutterleib. Lilian hielt Bobby und Ian fest, schrie immer wieder „Daddy“, damit er nur mit der wahnsinnigen Prügelei aufhörte. Andrew wusste nicht, was mit ihm geschah, bekam einen besonders harten Schlag auf das rechte Ohr und war sofort taub. Unter den Schlägen war er bereits auf den Knien, ließ sich nach vorn fallen und hob die Arme über den Kopf, und sah seine Geschwister, die ihm stumm etwas zuriefen, aber nicht verhindern konnten, dass er weiter verprügelt wurde. Ian wollte sich dazwischen werfen, wurde von Lilian daran gehindert und festgehalten, was ihn noch verzweifelter werden ließ. Lloyd hatte nicht viel Energie an diesem Tag oder ihm fehlte einfach die Lust, weiter auf seinen Sohn einzuprügeln, das Resultat war einfach, das er unvermittelt aufhörte; statt dessen betrachtete er den Rand seines Ärmels, an dem nicht nur Schlamm und Dreck sondern auch Blut klebte. Er kratzte gedankenverloren an den verkrusteten Flecken herum, drehte sich um und verschwand fast lautlos aus der Scheune.
Andrew hob so vorsichtig den Kopf, als fürchtete er, er könne zurückkommen, sobald er sich bewegte, seine Nase blutete und das rechte Auge war zugeschwollen, er wolle aufstehen, konnte sich aber gerade mal aufsetzen und bewegte sich dann nicht mehr. Lilian hob ihn vorsichtig hoch, legte ihn auf sein Bett und kümmerte sich um ihn. Andrew blutete aus dem rechten Ohr, wovon Lilian glaubte, Lloyd hätte ihn im Ohr verletzt und sie wischte ihm nur das Blut ab, blieb bei ihm sitzen, bis er eingeschlafen war.
„Er hat auf dem Feld seine Schulsachen verbrannt“, sagte Ian, „das hat Dad wütend gemacht. Nicht wegen der Bücher.“
Lilian fragte: „Was ist mit dem Feld?“ und Ian murmelte: „Weiß ich nicht, aber wir sollten da nicht mehr hingehen.“
Die Zwillinge wollten nicht aus ihrem Versteck unter Stroh und Decken herauskommen, egal, wie sehr Lilian sich bemühte. Andrew lag in seinem Bett, wachte ab und zu auf und linste dann mit seinem gesunden Auge zu den anderen hinüber, bis er wieder einschlief. Obwohl er ganz ruhig dalag, war ihm furchtbar schwindelig und ein stetiger Strom floss ihm den Rachen herunter, von dem er nicht wusste, dass es Blut war.
„Ich hab keine Streichhölzer mehr“, seufzte Lilian, „was sollen wir morgen essen? Wir können uns nicht ewig von altem Brot ernähren. Die Kleinen sind schon richtig ausgezehrt, dass ihnen die Rippen rausstaken.“
„Ich fahr morgen nach Stockton“, erwiderte Ian flüsternd.
„Du bist ein kleiner Engel, Ian.“
Wieder setzte er sich an die Dachluke, starrte betäubt nach draußen, machte eine weitere Eintragung in seinen Kalender, horchte auf jedes Geräusch.
Längst hatten sie keinen Cent mehr, um irgendetwas zu kaufen, aber einmal in Stockton würde ihm schon etwas einfallen. Beim letzten Mal hatte er einen Schulkameraden getroffen, das hieß, er hatte ihm vor seinem Haus aufgelauert und dann so getan, als sei er zufällig vorbeigekommen und erzählte ihm eine haarsträubende Geschichte von verlorenem Geld, das er von seiner Mutter bekommen hatte, um etwas für die Kleinen zu kaufen. Er musste nicht mehr erzählen und bekam von dem Jungen alles Kleingeld, was er in den Taschen herumklimperten hatte. Es war nicht viel, aber es reichte, um in dem Gemischtwarenladen einen guten Eindruck zu machen und den Rest anschreiben zu lassen.
Er stand früh auf am nächsten Morgen, suchte die besten Klamotten zusammen und schlich sich nach draußen. Hinter der Scheune staunte er nicht schlecht; er sah sich um, kratzte sich den Kopf und es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was geschehen war. Sein Rad war weg. Keiner der Geschwister hätte es gewagt, ihm einen solchen bösen Streich zu spielen, nicht mehr in ihrer Situation, und Ian musste sich damit abfinden, dass Lloyd es fortgeschafft hatte.
Stockton war damit nahezu unerreichbar geworden, denn zu Fuß würde er schon für eine Strecke mehrere Stunden brauchen und das konnte er nicht mehr schaffen. Seit Wochen hatte er sich nicht mehr satt gegessen, nur Wasser aus der Pumpe auf dem Hof getrunken, wenn er hungrig war, und schon die Fahrradtour zehrte jedes Mal an seinen Kräften. Sie waren Gefangene auf der Farm, dem irren Vater auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Wir werden verhungern, dachte Ian, einer nach dem anderen, und dann wird man Dad irgendwann fragen, wo wir alle geblieben sind. Warum kümmert sich niemand um uns? Was sagt Dad den Leuten am Telefon, wenn sie anrufen?
Ian tat das einzige, was er in dieser Situation tun konnte, er schlich sich in Lloyds Pick-up, fand dort eine angebrochene Flasche Coke und die Reste von Lloyds Frühstück, das er sich in Stockton genehmigt hatte. Er brachte die Coke und den halben Burger zu Lilian, es war längst nicht genug und deshalb wagte Ian sich erneut in den Pick-up. Wenn Lloyd Essenreste in seinem Wagen herumliegen hatte, mochte er dort auch noch andere Dinge finden – Geld, Kekspackungen, irgendetwas Trinkbares. Während er durch den Wagen kroch, im Unrat nach etwas essbarem suchte, hielt Ian angespannt die Ohren auf Empfang, zuckte bei jedem Geräusch hoch und linste durch die beschmierten Fenster. Lloyd überhörte er leider, weil er gerade damit beschäftigt war, knisternde Plastikverpackungen nach vergessenen Resten zu untersuchen.
Nicht so laut, dachte er verzagt, oh Mann, nicht so laut. Wenn Dad dich hört...
Er fand eine winzige handvoll Zuckerbonbons in einer Tüte, freute sich schon über die begeisterten Gesichter der Zwillinge, wenn sie sich die Bonbons in die kleinen Münder schoben.
„Was machst du Bengel in meinem Wagen, verdammt noch mal?“
Die Stimme kam aus seinem Rücken, als bräuchte Lloyd nur die Hand auszustrecken, um ihn im Nacken zu packen und wie einen jungen Hund zu schütteln, der auf den Teppich gepinkelt hat. Ian konnte nicht mehr atmen, er verkrampfte sich in Panik, seine Nackenhaare sträubten sich. Er war paralysiert, konnte und wollte sich nicht bewegen, aber eine Stimme flüsterte ihm ein, das Lloyd noch wütender werden würde, wenn er nicht reagierte und er schaffte es irgendwie. Seine Hand umfasste die Bonbons in der Tüte, verbarg sie in der Faust und schob sich rückwärts aus dem Fußraum.
Als er sich aufrichtete und umdrehte, steckte er geistesgegenwärtig die Bonbons in seine Hosentasche. Was immer Lloyd mit ihm anstellte – die Bonbons bekam er nicht zurück.
Lloyd stand vor der Sonne, Ian blinzelte zu ihm hinauf und sagte mit trockenem Mund: „Wir haben Hunger, Dad.“
Es wunderte ihn, dass er ihm überhaupt Zeit für eine Erklärung ließ und dann stellte er auch erstaunt fest, wie leicht ihm das ‚Dad’ über die Lippen kam. Möglicherweise verstand Lloyd ihn überhaupt nicht, aber was machte das schon, Prügel bezog er sowieso.
„Ihr habt was?“ Lloyds stimme klang ganz normal und auch sein Gesicht war ruhig und das war der einzige Grund, weshalb Ian überhaupt den Mut aufbrachte zu antworten.
„Wir haben seit Tagen nichts mehr gegessen“, sagte er, „ich war auf der Suche nach irgendwas.“
„Wieso habt ihr keine Lebensmittel mehr?“
„Uns ist das Geld ausgegangen.“
Seine Augen tränten, weil er so angestrengt in die Sonne sah und vielleicht war das der Auslöser, dass Lloyd in seine Jackentasche griff und eine handvoll Geldscheine hervorzog. Ohne nachzuzählen drückte er sie Ian in die Hand, berührte kurz Ians Haar, bevor er sich umdrehte. Lilian nahm den Bollerwagen und machte sich auf den Weg nach Stockton von wo sie mit Lebensmitteln für eine Woche wiederkam. Sie feierten bis spät in die Nacht, aber ohne dabei laut zu werden und ohne zu vergessen, wer in ihrer Runde fehlte.

Andrew hatte von den Schlägen ein verquollenes Gesicht, dämmerte vor sich hin und war nicht ansprechbar. Wenn er kurz aufwachte, murmelte er, dass sein Kopf weh täte und Lilian legte ihm ein feuchtes Tuch um die Stirn, bis er wieder einschlief. Bobby kümmerte sich um die Zwillinge, schleppte eimerweise Wasser in die Scheune, um sie zu waschen, obwohl sie weder Seife noch Shampoo hatten. Ihre Vorräte neigten sich wieder dem Ende zu, Lilian sagte, sie bräuchten Medikamente für Andy, dem es immer noch nicht besser ging, aber sie hatte keine Ahnung, was ihm fehlte und was er benötigte.
Mitten in der Nacht riss Lloyd Ian unsanft aus dem Schlaf, und das war nicht mehr der Vater, der ihm Geld fürs Essen gegeben hatte. Er schleifte Ian auf das Feld, hielt ihm die Taschenlampe und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Ian halb nackt und mit bloßen Füßen ein neues Loch zu graben hatte. Diesmal waren Lloyd die Mülltüten ausgegangen und das, was heimlich verschwinden sollte, lag eingeschlagen in einer Wolldecke auf dem Boden.
Nach dieser Nacht dachte Ian, das schlimmste sei ihm schon zugestoßen und er wurde stumm und desinteressiert.
Als Lloyd mal wieder vom Hof verschwunden war, schlich Ian sich ins Haus, in der verzweifelten Hoffnung, dass Lloyd sein Rad einfach nur reingetragen hatte, aber er konnte es in dem Chaos nirgends finden. Das Innere des Farmhauses war nicht länger als eine menschliche Behausung zu erkennen, die Möbel waren verschwunden, Löcher waren in Wände und Bodendielen geschlagen, selbst die Tapeten waren mit den Fingernägeln heruntergerissen. Überall stank es furchtbar, Ian hielt sich die Hand vor dem Mund, weil er fürchtete, sich übergeben zu müssen. In den oberen Stock kam er nicht mehr, denn Lloyd hatte die Stufen aus der Treppe herausgerissen. Da Lloyd die Fenster vernagelt hatte, kam kaum noch Tageslicht herein und im Halbdunklen wirkte die ganze Zerstörung noch furchtbarer. Ian tastete sich zur Tür zurück, verließ das Haus, das er nie wieder betreten würde, und auch die brennende Sonne schaffte es nicht, ihn wieder aufzuwärmen. Er zitterte am ganzen Körper, als er sich aus dem Haus schlich, abzuschätzen versuchte, ob er den Fußmarsch nach Stockton überstand oder nicht. Vielleicht hatte er Glück und ein Farmer nahm ihn mit dem Wagen mit. Irgendetwas musste erst noch in der Scheune geben, das er als Pfand verwenden konnte, um an Essen und Medikamente für Andrew zu kommen. Seine Mom hatte ihnen immer Aspirin gegeben, wenn sie krank waren und es hatte immer geholfen.
Die Schweine und die Kuh, die sieh gehabt hatten, waren längst nicht mehr da, Lloyd hatte sie in einen Viehtransporter geladen und weggefahren, aber es musste noch irgendetwas in der Scheune herumliegen, was jemand in Stockton gebrauchen konnte. Ian biss an seinen Fingernägeln herum, an seinem nach dem anderen, ignorierte den Schmerz und das wunde Nagelbett, durchsuchte die ganze Scheune, auch den Teil, den sie nicht zum schlafen benutzten. Er fand eine zerbrochene Heugabel und ein altes verschimmeltes Strickhalfter, was die Kuh getragen hatte.
Besser als gar nichts, dachte er und eine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte: Dad kann niemandem etwas am Telefon erzählen, denn es gibt kein Telefon mehr. In einem klaren Moment hat er allen Leuten erzählt, Patsy habe die Kinder genommen und ihn verlassen und das sei nur seine Schuld, er könne ihr deswegen keinen Vorwurf machen.
Niemand wollte wissen, wo sie hingegangen sein könnte, Patsy Carver, geborene Sheedy, die über die Grenzen des Bezirks nie hinausgekommen war.
Ian setzte sich zu Andrew, um ihn kurz aufzuwecken und ihm zu verraten, dass er jetzt nach Stockton lief und Aspirin für ihn holte, er wolle so schnell machen wie er konnte und er würde nicht lange warten müssen. Andrews Gesicht war so bleich, dass unter seinen geschlossenen Augen und auf seiner Stirn blaue Äderchen zu sehen waren, die Ian bisher nur gesehen hatte, wenn sie in dem eiskalten Weiher geschwommen waren, dann waren selbst ihre Füße und Hände hellblau. Andrew schlief so tief, dass er ihn nicht wecken konnte, er wachte einfach nicht auf, obwohl er ihn immer wieder anstupste. Sein Mund war halb geöffnet, die Lippen farblos und trocken und als Ian konzentriert hinstarrte, begriff er endlich, dass Andrew nicht mehr atmete. Ein dünner Streifen Blut war wieder aus seinem Ohr gelaufen, aber er war bereits schwarz angetrocknet. Ian stand auf, deckte Andrew sorgfältig bis ans Kinn zu und verschwand an seine Dachluke. Er fühlte gar nichts mehr, nur noch Erschöpfung. Lilian würde bald wieder nach Andy sehen und entdecken, was passiert war und vielleicht konnte sie sagen, was sie tun sollten. Er hatte versucht, sie alle zu beschützen und es nicht geschafft, vielleicht konnte sie es. Sie war größer und älter als er.

Lilian stieß ein herzzerreißendes Wimmern aus und verstummte wieder, gemeinsam legten sie Andrew in eine Decke, trugen ihn nach draußen und wuschen ihm Hände und Gesicht, bevor sie ihn ganz einwickelten. Ian sagte kein einziges Wort mehr.

Lloyd griff sich wieder Ian, als er ahnte, dass er im Haus gewesen war, schlug und verletzte ihn, wie er nur konnte, als wollte er ihn für alles büßen lassen, was passiert war. Die Wunden, beigebracht mit Messern und Knüppeln, hatten kaum Zeit zum heilen und Ian dachte, es sei an der Zeit für ihn, dort hinzugehen, wo auch seine Mom und Andy und vermutlich Marie waren, fast schon sehnte er sich danach. Dann liefen die Ereignisse so rasend schnell ab, dass die Kinder kaum noch in der Lage waren, ihnen zu folgen. Ohne es verborgen halten zu wollen, brachte Lloyd wieder ein Mädchen auf die Farm, aber diesmal sparte er sich den Weg ins Haus, er führte sie direkt auf das Feld und zur Senke herunter, wo er sicher sein konnte, dass ihn niemand beobachtete.
Ian verließ seinen Fensterplatz nicht mehr und war nicht mehr ansprechbar, was Bobby und Lilian auch versuchten. Sie wollten Wasser aus der Pumpe holen, aber in den frühen Morgenstunden, nachdem Lloyd mit dem fremden Mädchen fertig gewesen war, hatte er den Pumpenschlegel demontiert. Es gab kein Wasser mehr für die Kinder in der Scheune, die schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatten. Stunden später kam Bobby zu Ian und flüsterte, dass Dotty auch tot sei. Ihr kleiner Körper war vom Fieber einfach ausgetrocknet worden.
Wer ist der nächste? dachte Ian, sah aus dem Fenster und sein Blick verschwamm etwas. Er begriff erst nach einer Weile, dass er weinte.
Er zog sich seine löchrigen Schuhe an, nahm seinen Kalender und verließ wortlos die Scheune. Lilian hielt Vern und Bobby im Arm, bemerkte sein Verschwinden nicht. Er marschierte am Wagen seines Vaters und am Farmhaus vorbei, folgte dem schnurgeraden Weg bis zur angrenzenden Bundesstraße. Es war einer der heißen Nachmittage, an denen jeder zu Hause bleibt, wenn er nicht gerade gezwungen ist unterwegs zu sein, und deshalb musste Ian die ganze Strecke bis nach Stockton zu Fuß laufen. Er brauchte fast sechs Stunden, weil er so langsam ging, sein Verstand hatte vollkommen abgeschaltet und alles konzentrierte sich nur noch darauf, einen Schritt vor den anderen zu machen. Er nahm die richtigen Abzweigungen wie im Schlaf, erreichte Stockton und schleppte sich weiter, bis er mit glühendem Gesicht und flachem Atem beim County Sheriff vor dem Schreibtisch stand.
„Ian Carver“, sagte der Sheriff, „wie siehst du denn aus? Was ist passiert, Junge?“
Ian konnte gar nicht antworten und die Sekretärin brachte ihm ein Glas eiskalte Limonade, was er in einem Zug austrank und sofort wieder erbrach. Er versuchte sich für die Schweinerei zu entschuldigen, aber statt dessen kam ein erneuter Schwall. Während seine Sekretärin die Pfütze wegwischte, nahm Sheriff Dunning Ian mit in eines der Besprechungszimmer.
Ian sah nach Monaten sein eigenes Spiegelbild in der Glastür des Büros und erkannte sich selbst nicht. Er war bis auf die Knochen abgemagert, totenbleich und gleichzeitig mit Sonnenbrand im Gesicht, das Haar so schmutzig, dass es nicht mehr wie Haar aussah. Er durfte sich setzen, und als Sheriff Dunning ihn fragte, was los sei, wusste er nicht mehr, wo er anfangen sollte.
„Mein Dad“, sagte er, „mein Dad hat...“
Das Blut rauschte in seinem Kopf, dass er seine Stimme nicht mehr hörte. Dunning sah ihn zweifelnd und mit wachsender Ungeduld an und die reine Panik überfiel Ian bei dem Gedanken, er könne ihm nicht glauben, ihn zur Farm zurückfahren und dort Lloyd übergeben, ohne zu sehen, was dort vor sich ging. Er versuchte, von vorn anzufangen, bei dem Mädchen mit dem roten Haar.
„Mein Dad hat ein Mädchen mit nach Hause gebracht.“ Seine Stimme war hoch und heiser, nicht nur von dem langen Fußmarsch in der brütenden Hitze, er fühlte sich ausgetrocknet und erschöpft, dass ihm selbst das Sprechen schwer fiel. Sheriff Dunning drehte sich in dem Stuhl herum, starrte mit in den Nacken gelegten Kopf die Decke an.
„Was hat dein Daddy dann gemacht?“
„Er hat uns alle in die Scheune gesperrt, wir dürfen nicht mehr ins Haus.“
„Das Mädchen ist auch in der Scheune?“
„Nein“, krächzte Ian, „die ist tot, genauso wie die anderen.“
Dunning sah ihn sehr lange und sehr scharf an und Ian konnte nur noch denken: er glaubt dir nicht, Junge. Wie konntest du auch nur annehmen, dass ein Erwachsener dir Zwerg Glauben schenken würde. Gleich wird er sagen, dass der erste April noch lange hin ist und wird dich vor die Tür setzen.
„Welche anderen?“
Ian blieb stumm, konnte nicht mehr reden, es war alles verloren. Niemand würde ihm glauben. Aber auch ohne eine Antwort begann Sheriff Dunning laut zu überlegen.
„Er war doch in Behandlung wegen seiner Kopfverletzung“, murmelte er, „und Lloyd war seit dem wirklich seltsam. Ich hab ihn mal auf der Straße angehalten, weil er Schlangenlinien gefahren ist und er hat geschworen, nichts getrunken zu haben. Hat gemeint, es seien seine Kopfschmerzen.“
Er hatte selbst Erfahrungen mit einem kriegsgeschädigten Familienmitglied und bei ihm gingen die Alarmglocken los, als er darüber nachdachte, dass so eine halbe Portion nicht zur Polizei marschierte und so eine seltsame Geschichte erzählte, wenn nicht etwas im Busch war. Und der Junge sah schrecklich aus.
„Was genau ist bei euch los, Junge?“
„Mein Dad tut schlimme Dinge“, flüsterte Ian, „und meine Mom ist verschwunden.“
Er konnte nicht mehr sagen, der Mut, der ihn hergeführt hatte, verließ ihn plötzlich und er wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder auf der Farm bei seinen Geschwistern zu sein und einfach nur abzuwarten, dass alles von allein besser wurde. Es war doch möglich, dass er nach Hause kam und alles in bester Ordnung vorfand; Mom und Marie waren wieder da und auch Andy und Dotty ging es gut, sie spielten draußen auf dem Hof und alles war nur ein dummes Missverständnis.
War das wirklich möglich? Dass er sich diese quälenden Monate nur eingebildet hatte?
Ian war so erschöpft, dass er darüber nicht mehr nachdenken konnte. Sheriff Dunning nahm seine Autoschlüssel und sagte zu Ian: „Wir fahren jetzt zu dir nach Hause, Junge, und da sehen wir nach dem rechten.“
„Ich heiße Ian“, murmelte Ian und das war das letzte, was er für lange Zeit sagte. Auf der Fahrt zur Farm versuchte Dunning noch etwas aus ihm herauszubekommen, aber er saß klein und zusammengesunken auf der Rückbank und reagierte auf keine Frage. Er wollte nicht auf die Farm zurück, er hatte zuviel Angst, dass Lloyd da sein würde. Obwohl er seinen Vater noch nicht bei anderen Leuten erlebt hatte, konnte er sich die Katastrophe nur zu deutlich vorstellen – wie Sheriff Dunning freundlich um eine Erklärung bat und Lloyd daraufhin vollkommen ausflippte, ihn vielleicht sogar umzubringen versuchte. Von außen sahen die Farmgebäude aus wie immer und dass die Felder nicht bestellt waren, war kein Einzelfall in dieser Gegend. Ian wollte nicht aussteigen aus dem Polizeiwagen, als er Lloyds Wagen auf dem Hof abgestellt sah und er seinen Vater irgendwo in der Nähe wusste. Er hoffte, seine Geschwister würden aus der Scheune gelaufen kommen.
„Komm mit“, sagte Sheriff Dunning, „raus mit dir. Ich will mich umsehen und du wirst mir alles zeigen.“
Er deutete mit dem Kinn zu dem Pick-up hinüber. „Ist dein Daddy zu Hause, wenn der Wagen da ist?“
Ian nickte eingeschüchtert und Sheriff Dunning brauchte noch mehr Überredungskunst, bis er endlich ausstieg.
Er deutete zum Feld hinüber, dann marschierte er einfach los und wartete nicht darauf, ob Sheriff Dunning ihm folgte oder nicht, er marschierte los und wollte endlich die Sache hinter sich bringen. Der Boden war trocken und staubig, selbst in der Senke, die sonst immer unter Wasser stand, war der Boden fast eingetrocknet und Ian hatte keine Schwierigkeiten, die aufgegrabenen Stellen wieder zu finden. Er hockte auf den Knien, schaufelte bröckelige Erde zur Seite und ließ sich auch vom Sheriff nicht unterbrechen, der ständig rief: „Junge? Was machst du da, Junge?“
Sheriff Dunning nahm seinen Hut ab, wischte sich über den kahlen Schädel und sah sich um, ratlos, was er tun sollte, um Ian von der sinnlosen Buddelei abzuhalten. Er trat näher, sah Ian vorn übergebeugt über die Schulter und riss ihn an den erschreckend mageren Armen zurück, als in dem Loch Kleidungsfetzen auftauchten.
„Oh Gott“, flüsterte sie.
Mit seinem Hut schirmte er die Sonne ab, setzte ein Knie auf den Boden und stierte auf das, was er für die Reste einer Sommerhose hielt, wie sie die Mädchen trugen. Der Geruch war modrig und gasig und er hielt nicht länger die Nase darüber.
„Was ist hier passiert?“ schrie er zu Ian hinüber, der bereits über dem zweiten Loch saß. Sein Taschenkalender lag neben ihm. Dunning schrie: „Hat dein Dad hier jemanden vergraben? Mehr als einen? Du hast ihn dabei beobachtet?“
Ian hob den schweren Kopf, wischte sich mit einer erdigen Klaue die Tränen aus den Augen.
„Nein“, sagte er, „ich musste ihm dabei helfen.“
Er konnte nicht mehr aufhören zu graben, seine Fingerkuppen begannen zu bluten, aber er grub, bis er unter seinen Händen das Plastik zu fassen bekam. Er krallte seine Finger hinein, zerrte so lange und verzweifelt genug, dass der Abfallsack aufriss. Sheriff Dunning versuchte ihn zurückzuhalten, aber Ian kroch auf Händen und Knien vor ihm davon, griff in den schwarzen Sack und zog eine Ecke geblümten Stoffes hervor.
Später konnte er sich nicht daran erinnern, in der Erde gegraben und das Grab seiner Mutter gefunden zu haben; das sagten sie ihm erst sehr viel später. Der Geruch von Fäulnis und Verwesung, der aus dem Sack aufstieg, nahm er nicht wahr, weil er ihn nicht wahrnehmen wollte, allein der Anblick des Kleiderstoffs, von dem er wusste, dass ihn seine Mutter getragen hatte, ließ ihn nach allen Richtungen abschalten. Er wurde ohnmächtig, ohne völlig die Kontrolle zu verlieren, hockte nur noch mit offenen Augen da und bewegte sich nicht mehr. Sheriff Dunning steckte den Kalender ein, nahm den Jungen so vorsichtig in seine Arme, als habe er Angst, ihn zu zerbrechen.
Ian wurde vom Sheriff zurück in den Wagen getragen, von dort rief er die Zentrale an und bat um Verstärkung, bevor er sich dann wirklich auf die Suche nach Lloyd Carver machte. In der Scheune fand er verwahrloste und halb verhungerte Kinder, die so verschüchtert waren, dass sie sich nicht nach draußen wagten. Lloyd Carver wurde schlafend in seinem Bett gefunden und festgenommen, neben ihm lag ein junges Mädchen in Unterwäsche, als würde sie schlafen, aber als einer der Beamten sie vorsichtig berührte, rollte ihr Kopf zur Seite und blieb in einem schrägen Winkel liegen. Ihre Augen waren geschlossen, aber die Abdrücke auf ihren Augenlidern ließen vermuten, dass man sie ihr zugedrückt hatte, ebenso gewaltsam, wie man ihr das Genick gebrochen hatte.
Das Bett war das einzige Möbelstück im ganzen Haus, das nicht zerschlagen war, aber die Laken waren so schmutzig, dass einer der Beamten meinte, er könne darin ein Schwein geschlachtet und danach in dem Bett geschlafen haben.
Lloyd wurde wach bei seiner Festnahme, aber er sagte nichts, fragte auch nicht nach den Kindern.
Die erste Nacht verbrachten die Geschwister gemeinsam im Krankenhaus, wo man sie versorgte, aber über alles andere im Ungewissen ließ. Niemand sagte ihnen, dass man Patsy und Marie auf dem Feld gefunden hatte, neben anderen noch unbekannten weiblichen Leichen. Ian bekam Besuch von einem Ermittlungsbeamten, der ihn sehr vorsichtig verhörte, dabei ein Tonband laufen ließ und auf Ians Frage, was mit ihnen passieren würde, keine Antwort hatte.
Ian gab die Auskünfte, die sie hören wollten, aber er sprach nicht mehr wie ein achtjähriger, er klang wie ein Kind, das gerade erst die ersten Worte und Sätze gelernt hatte. Er versuchte alles, dass sie ihn nur in Ruhe ließen.
Lloyd Carver war in Untersuchungshaft, es fanden sich keine Verwandten, die die Kinder aufgenommen hätten und so brachte man sie in verschiedenen Heimen unter, weil irgendein Psychologe behauptet hatte, es sei besser, die Kinder zu trennen. Sie sahen sich noch in dem Krankenhaus, konnten sich nicht einmal voneinander verabschieden, weil sie ohne Vorwarnung abgeholt wurden, ständig belagert von den Pressereportern und den Fernsehkameras.
Ian brachte man nach Kansas City, wo man ihn noch einige Male wiederholen ließ, wie sein Dad von ihm verlangt hatte, die schwarzen Säcke auf dem Feld zu vergraben, wann sein Dad welches Mädchen auf die Farm gebracht und wann er Marie und seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte. Einer der Beamten war Officer McFadden, der zunächst nur die Aufgabe hatte, Protokolle anzufertigen und aussagen zu überprüfen, bis er nach Monaten in das Kinderheim geschickt wurde, um Ian ein paar Fotos vorzulegen. Sie wollten überprüfen, ob Lloyd mehr Mädchen auf der Farm hatte, die er aber nach seinen Spielchen möglicherweise wieder laufengelassen hatte.
Art McFadden fand einen in sich gekehrten verstörten Jungen, um den sich niemand kümmerte und bei dem es niemanden interessierte, wie er mit dem Geschehen zurechtkam. Er kratzte sich die narbigen Unterarme blutig und fragte nur nach seinen Geschwistern, auf die er doch aufpassen müsse, wo Mom nicht mehr da war. McFadden zeigte ihm kein einziges der Fotos, sondern nahm ihn mit hinaus in den Garten, wo er ihn unter einen Baum setzte und ihm versprach, dass er sich darum kümmern würde, die anderen Kinder zu finden. Sein Verstand sagte ihm, dass er dem Jungen so etwas gar nicht versprechen dürfe, aber er wollte ihm Hoffnung machen, konnte einfach nicht zulassen, dass der Junge alleingelassen langsam verkümmerte.
An dem ersten Tag unter dem herbstlichen Baum und in der noch immer warmen Sonne sagte Ian kein Ton, aber er hörte aufmerksam zu, als habe in den letzten Wochen niemand mit ihm gesprochen. Art McFadden plauderte von seiner Arbeit und seiner Familie, von allgemeinen Dingen und was ihm gerade durch den Kopf ging, dass er irgendwann nicht mehr wusste, wo er begonnen hatte und wie viel Zeit vergangen war. Einer der Betreuer rief Ian zurück ins Haus, weil es Abendessen gab und McFadden begleitete ihn noch ein Stück.
Am Abend, als er zu Hause bei seiner Familie saß und ihm das Gesicht des Jungen nicht aus dem Kopf ging, dachte er zum ersten Mal darüber nach, ein Kind zu adoptieren. Er wagte es nicht, mit seiner Frau darüber zu sprechen, wohl auch, weil er dachte, dieses Gefühl würde am nächsten Tag wieder verschwunden sein. Er besuchte Ian unter dem Vorwand, ihn noch einmal befragen zu müssen, wurde von ihm so begeistert empfangen, dass er vor Rührung einen Klos im Hals hatte.
„Ich konnte leider noch nichts über deine Geschwister in Erfahrung bringen, aber ich arbeite daran. Das hab ich dir versprochen.“
„Ist mein Dad im Gefängnis?“ Ians Stimme klang, als würde er weinen, aber seinem Gesicht war das nicht anzusehen; es schien, als lebe er von Minute zu Minute mehr auf, in denen er mit Art McFadden sprach.
„Ja“, sagte McFadden, „da bleibt er, bis seine Verhandlung beginnt.“
„Sehe ich ihn da noch mal wieder?“ Ians Stimme war noch immer leise und vorsichtig, so wie es sich die Geschwister in der Scheune angewöhnt hatten, und obwohl sich sein Verhalten irgendwann wieder normalisierte, blieb diese Art zu sprechen.
„Hast du Angst ihn zu sehen?“
„Nein“, erwiderte Ian mit schief gelegtem Kopf, „ich will nur sehen, ob er noch verrückt ist.“

McFadden telefonierte stundenlang durch die Gegend auf der Suche nach den getrennten Geschwistern und konnte sie endlich finden. Man hatte sich wirklich Mühe gegeben, sie so weit auseinander zubringen wie nur möglich, Bobby war in einem Waisenhaus in Wichita, der kleine Vern war in Parsons und Lilian ganz weit westlich von Kansas in Garden City. Während Lilian bereits in einer Pflegefamilie untergekommen war, war Vern noch in einem Kinderkrankenhaus und man sagte Art McFadden, dass es noch einige Wochen dauern könnte mit seiner Entlassung, und Bobby war in einem üblichen Kinderheim gelandet. An diese Informationen zu kommen war schon nicht einfach gewesen, aber vollkommen unmöglich schien es, die Kinder wieder zusammenzubringen. Jede Behörde, jede verantwortliche Person stellte sich quer, wenn McFadden dieses Thema auch nur anschnitt. Er wagte es nicht Ian zu erzählen, dass er seine Geschwister nicht so schnell wieder sehen würde, konnte ihm aber auch nicht weiter Hoffnung machen und deshalb bemühte er sich ständig, über etwas anderes zu reden. Nach einigen Wochen, in denen er fast täglich ins Kinderheim fuhr, um einige Stunden mit Ian zu verbringen, hatte er das Gefühl, er würde es auch nach Abschluss des Falles weiterhin tun und er setzte sich mit dem Heimleiter zusammen.
McFadden wagte nicht, von seinen Gefühlen zu sprechen, deshalb sagte er, er habe den Eindruck, dass Ian der Zuspruch fehle und er würde ihn gern für ein Wochenende mit zu sich nach Hause nehmen. Sie sagten, Ian sei durch die Vorkommnisse traumatisiert und vermutlich würde er nie ein normales Leben führen, man habe ihn praktisch schon in ein Heim für geistig behinderte abgeschoben. Nur widerwillig erlaubten sie, dass Ian die Wochenenden bei den McFaddens verbrachte, dann, nach einer endlosen Überprüfung, wurden sie seine Pflegeeltern.
Er war so furchtbar verschüchtert, dass er sich nicht von der Stelle wagte, hatte er einmal das Haus betreten. Inzwischen war es Winter, als er sich die Jacke und den dicken Pullover auszog, sah Mrs. McFadden zum ersten Mal seine vernarbten Arme. Sie weinte in Arts Armen, nachdem sie Ian beim baden helfen durfte und den Rest von ihm gesehen hatte.
„Wie kann ein Vater seinen Kindern so etwas nur antun“, sagte sie und darauf hatte Art keine Antwort.
So fing es ganz klein und nebensächlich an und endete zwei Jahre später mit der offiziellen Adoption, auf die niemand sehnlicher wartete als Ian. Er hatte die Trennung von seiner Familie nicht so einfach weggesteckt, aber für ihn war es ganz klar, dass er den Namen McFadden annehmen würde, war froh, in der neuen Schule nicht wie ein Exot behandelt zu werden. Ein Schuljahr musste er nachholen, aber seine Noten waren danach immer die Besten, er lehnte fleißig und es zeigte sich, dass er nicht dumm war und ihm selbst die kompliziertesten Dinge scheinbar einfach zuflogen. Niemand wusste etwas von seiner Vergangenheit und auch zu Hause sprachen sie nur selten darüber. Lloyd Carver war des siebenfachen Mordes für schuldig gesprochen worden und saß im Staatsgefängnis. Ihn für vermindert schuldfähig zu sprechen aufgrund seiner Hirnverletzung war einfach noch nicht zeitgemäß in den 70ern, man hatte noch keine Erfahrung mit solchen Dingen. Im Knast verhielt sich Lloyd die erste Zeit sehr unauffällig, danach hatte er nur noch Aussetzer und verbrachte die meiste Zeit in der Einzelzelle. Unter seinen harten Zellengenossen galt er als richtiger Irrer.
Als McFadden nutzte Ian seine zweite Chance und versuchte herauszufinden, was er wollte, womit er sein Geld verdienen wollte und was ihn zufrieden machen würde am Ende des Tages. Als er es gefunden hatte, legte er sich ins Zeug, um sein bestes zu geben, ohne danach zu fragen, was es für sein Leben weiter bedeuten würde. Die McFaddens machte er stolz, sie vergaßen manchmal, dass Ian nicht ihr leiblicher Sohn war, und Art konnte es sich nur nicht verzeihen, dass es ihm nie gelungen war, die Carver-Kinder wieder zusammenzubringen.
 
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Kommentare  

Sehr aufrüttelnd, die Kindheit von Ian.
Es wird einem dabei so manches klar. Oft genug liest man von Kindesmisshandlungen, aber man kann sich das Ganze gar nicht so richtig vorstellen, deshalb finde ich es toll, dass du es hier so eindringlich schilderst. Wir sollten wirklich viel aufmerksamer durch`s Leben gehen, bei Verdacht die Polizei schneller aufmerksam machen. Was ich auch immer wieder sehr gut bei deinen Texten finde ist, dass es dort eigentlich gar keinen richtigen Bösewicht gibt. Angeklagt wird bei dir höchstens mal der Staat, der zum Beispiel in diesem Fall viel zu wenig für die Kriegsgeschädigten tut, sie fallen lässt, wie eine zu heiße Kartoffel.


doska (19.05.2009)

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