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19 Seiten

Ouray, Colorado - Teil 6

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Rick hätte Ouray verlassen, wenn er gekonnt hätte, aber er war gefangen wie eine Ratte in der Falle. Freiheit war etwas subjektives, Rick genügte es meist, einfach durch die Gegend zu fahren, um diese Freiheit zu spüren und nicht erdrückt zu werden von Gefängnismauern – es war ihm egal, wenn ihm jemand seine freie Meinungsäußerung beschnitt oder er kein rotes Hemd tragen durfte. Für ihn war Freiheit die Freiheit die Straße, der Highways, der Trucks und Automobile, die Straßen, die schnurgerade bis zum Horizont führten. Das hatte er in Ouray nicht. Er wünschte sich zurück in den Albatros. Dort wollte er ein Guinness trinken, allein und ganz in Ruhe, er wollte selbst Hollis und Mascot nicht dabei haben, denn allein war die Chance größer, dass er wieder Ordnung in seine wirren Gedanken brachte.
Er lief durch die Straßen, glaubte, er habe Sophie geschlagen und war darüber wütend und entsetzt, vor allem, weil er sich nicht richtig daran erinnern konnte. Er wusste, dass er nicht in New York war und fragte sich gleichzeitig, wie Sophie nach Ouray gekommen war. Der einzige Orientierungspunkt, den er hatte, war die Tatsache, dass es noch eine kleine leise Stimme in seinem Kopf gab, die genau wusste, was wirklich geschehen war.
Du hast Sophie nicht geschlagen, denn Sophie ist nicht hier. Sie ist noch immer in New York. Niemand weiß, dass du hier festsitzt. Überleg doch mal, wer dich so wütend gemacht hat, dass du dich nicht mehr beherrschen konntest. Was fällt dir ein?
Vor seinem inneren Auge tauchte verschwommen Sophie auf, aber er konnte ihr Bild nicht festhalten.
Ich will sie nicht sehen, dachte er, das ist zu viel für mich.
An seine Wut konnte er sich erinnern, er spürte sie noch immer wie einen alten Freund in seinem Inneren.
Hi, Killer, hatte Dash im Scherz gesagt.
Niemand konnte ihn so nennen, denn er hatte niemanden umgebracht. Seine Wut blieb; unbestimmt, an niemanden persönlich gerichtet und nicht einmal er würde sagen können, wie sie zu mildern war. Das Herumlaufen führte ihn ins nichts. Rick war durchgefroren bis auf die Knochen, er zitterte wie ein Junkie auf Entzug und spürte seine Füße nicht mehr.
Geh dich irgendwo aufwärmen, Mann. Es nützt nichts, hier weiter herumzulaufen, du wirst nirgends ankommen.
Rick sah in dieser Ecke von Ouray, in der er noch nicht gewesen war, eine Bierreklame über einer Tür und folgte dieser Verlockung. Der Geruch von nasser Kleidung und Alkohol empfing ihn bereits am Eingang und er fühlte sich wie zu Hause.
Hier bist du gut aufgehoben, buddy, aber lass dich nicht sinnlos vollaufen.
Die Bar zog sich in einem Oval durch die halbe Bar, an den Stützbalken hingen Fotos und Zeitungsausschnitte, Bilder von Boxern und Rennpferden. Die Theke war aus dunklem Holz, abgeschabt und heller an den Kanten, von Rissen und Kratzern durchzogen. Überall lagen Budweiser-Bierdeckel herum, ebenso an den Tischen der engen Sitzgruppen.
„Was darf’s sein?“
Die Frau hinter der Bar trug einen weißen Rollkragenpullover und jede Menge Ketten aus billigen Steinen. Es klimperte, wenn sie sich bewegte.
Rick fand es wohltuend, dass kein Radio und kein Fernseher liefen.
„Ein Bier?“ antwortete er, war sich nicht sicher, was Mascot davon halten würde. Ein Bier konnte er vertragen.
„Gern.“ Sie lächelte verbindlich, aber mit einem Hauch von echter Aufmerksamkeit, was Rick allerdings auf seinen desolaten Zustand zurückführte.
„Ich bin in Ordnung“, sagte er, „ich muss mich nur etwas aufwärmen.“
Er sah kurz an sich herunter und bemerkte erst jetzt, dass sein Hemd halb aus der Hose gerutscht war, an seiner Jeans waren angetrocknete Flecken der Pferdescheiße, ebenso an seiner Jacke. Das machte nicht gerade den besten Eindruck. Das Bier war Okay und der Alkohol schaffte es, dass er sich wieder an den Streit mit Sammy Joe erinnerte. Es konnte ihn in den Knast bringen.
Aus dem einen Bier wurden mehrere und er fühlte sich besser, weniger angespannt und weniger unter Strom, konnte sich mit der Barfrau einigermaßen locker unterhalten, wenn er auch das Blaue vom Himmel herunterlog, als sie ihn fragte, wo er herkäme. Sie lächelte über seine Geschichte. Er war nicht der einzige Gast, einige Pärchen saßen an den Tischen und die Männer ohne Begleitung bevorzugten die Bar.
„Frauen mögen nicht im stehen trinken“, hatte irgendjemand mal zu Rick gesagt, „frag mich nicht warum, aber es ist so. Wenn du eine chica loswerden willst, stell dich mit ihr an die Bar, das ist der schnellste Weg.“
Frauen gingen nur an die Bar, wenn kein Tisch mehr frei war oder sie anschafften und auf der Suche nach Kunden waren.
Skifahrer kamen herein, bereits etwas angeheitert und mit einem Westküstenakzent, der bei diesem Wetter seltsamerweise nur schwer zu ertragen war. Sie trugen neonfarbene Jacken und passende Hosen, einer hatte sich die Skibrille ins Haar geschoben und rieb ständig an seiner verbrannten Nase herum. Die zwei Mädchen, die bei ihnen waren, schienen zu betrunken zu sein, um noch auf ihren Füßen stehen zu können, sie fielen fast hin, kicherten und hielten sich aneinander fest.
Mit reichlich Aufwand und Krach schoben sie zwei Tische zusammen, damit sie daran sitzen konnten, bestellten sich zwei Liter Bier und sechs Gläser. Obwohl sie reichlich gut drauf waren und ihre Späße untereinander trieben, blieb alles friedlich; eines der Mädchen schwankte auf Toilette, um sich zu übergeben und kam mit glasigen Augen und verschwitztem Gesicht zurück an den Tisch.
Hart im Nehmen – sie trank weiter, als wäre nichts gewesen.
Rick drehte ihnen den Rücken zu, bestellte sich ein Bier, was er jedoch nicht anrührte. Hinter der Bar erkannte er in dem Spiegel sein undeutliches Gesicht zwischen den Wodka und Rumflaschen, zwischen Jameson und Kentucky Bourbon und dachte, dass er dort vielleicht nicht hingehören sollte.
Als er Sophie kennen gelernt hatte, hatte er das Trinken fast aufgegeben, um ihr einen Gefallen zu tun und ihr zu beweisen, dass er es konnte; er konnte ohne Sprit leben. Aber außerhalb New Yorks und getrennt von Sophie gab es den Alkohol wieder als Seelentröster und als Aufputschmittel. Es war einfach für ihn, nicht mehr an die Warnungen zu denken, denn seit neun Monaten war er unterwegs, um zu vergessen und vielleicht auch, um sich umbringen zu lassen. Selbstmord, bei dem man einem anderen die Schuld daran in die Schuhe schieben konnte. Bis jetzt hatte es noch nicht geklappt, was sicher nicht an ihm lag.
„Alles in Ordnung?“
„Nein“, sagte er, „aber daran lässt sich nichts ändern. Ich überlege nur, was ich tun soll.“
Die Barfrau ließ ihm sein Bier, legte ein paar Servietten zusammen und füllte die gesalzenen Erdnüsse auf, während Rick sein Bierglas als Meditationshilfe benutzte. Er musste eine Entscheidung treffen.
Verkrieche ich mich, wird das Overturf noch wütender machen, weil er glaubt, ich hätte was zu verbergen. Er denkt, ich habe jemanden umgebracht. Früher oder später schnappen sie mich in dem Nest hier, also ist es besser, ich kläre die Sache so schnell wie möglich.
Er trank das Bier, in einer selbstverachtenden Aktion, mit großen Schlucken und ohne abzusetzen. Ein wohltuender Schleier legte sich über seinen Geist, den er begrüßte und der möglichst lange anhalten sollte, deshalb bestellte er sich noch einen Jameson hinterher, einen doppelten.
Er sah Julia erst, als sie direkt neben ihm stand, ihre Bestellung aufgab und bei seinem Anblick am liebsten unsichtbar geworden wäre. Sie war in männlicher Begleitung und der war offensichtlich gut bekannt mit den feucht feiernden Skifahrern. Während Julia an der Bar wartete, hatte Elliott einem der Jungs eine Hand auf die Schulter gelegt und fragte in die Runde, wie viel sie noch vertragen würden. Allgemeines lautes Gelächter. Elliott kam an die Bar zurück und murmelte: „Gut abgefüllt. Hoffentlich fahren sie sich nicht tot, die Rechnungen sind noch nicht bezahlt.“
„Deinen Humor möchte ich haben.“
Aus Julias ordentlich frisiertem Zopf hatte sich eine Strähne gelöst, sie hing an ihrem Gesicht herunter und sie schob sie mit einer Handbewegung hinter das Ohr. Rick dachte: ‚Sieht besser aus, wenn du die Strähnen auf beiden Seiten hast, mit diesen Locken am Ende’ und als Julia ihn entgeistert ansah, merkte er erst, dass er es laut ausgesprochen hatte.
„Woher...“ brachte sie hervor, verstummte wieder und ignorierte den Drink, den Elliott ihr reichte. Sie wusste ganz genau, dass sie sich diese Art von Frisur noch nicht gemacht hatte, nicht, seit sie zu Hause war. Das letzte Mal, dass sie sich das Haar hochgesteckt und diese Strähnen eingedreht hatte, war in Harvard gewesen. An diese besondere Gelegenheit zu denken trieb ihr noch immer die Röte ins Gesicht.
„Sorry“, sagte Rick. Für ihn war es damit erledigt, nicht für Julia.
Sie konnte nicht fragen, wo er sie mit dieser Frisur gesehen hatte, es musste ein Zufall sein. Er war betrunken und durch den Wind, hatte keine Ahnung, wovon er redete. Julia überging es, nahm ihr Glas Wein entgegen und musste Elliott dann doch erklären, woher sie den Typen kannte.
„Er ist der Freund von Sammy Joe.“
Das musste reichen, denn sie erinnerte sich daran, dass er jemanden umgebracht hatte. Ohne es Elliott merken zu lassen, musste sie den ganzen Abend an diese Bemerkung denken.
Er konnte sie in Harvard nicht gesehen haben, vollkommen unmöglich. So weit sie wusste, gab es auch keine Fotos von ihr, die sie so zeigten. Er hatte sie angesehen, als wüsste er etwas von ihr, wovon niemand eine Ahnung hatte und das war der Hauptgrund, weshalb sie in dieser Nacht überhaupt nicht schlafen konnte.

Sammy Joe und Aimee schliefen nach ein paar Gläsern Bier im Wohnzimmer ein. Sie hatten darüber diskutiert, wie sie das Haus auf Vordermann bringen könnten, mit viel Arbeit und vielleicht etwas Unterstützung von Tante Ruth.
„Alle Möbel raus“, sagte Sammy Joe, „ich kann den ganzen alten Plunder nicht mehr sehen. Ich will eine Couch aus Büffelleder.“ Sie zog vorsichtig die Nase hoch, die noch immer pochte.
„Die sind viel zu teuer, aber vielleicht kriegst du irgendwo eine gebrauchte.“
„Also wenn, dann will ich ’ne Neue.“
Im Kopf hatte sie bereits alles perfekt eingerichtet, wohnte schon darin und beeindruckte sogar Julia mit ihrem Sinn für Stil. Die Wirklichkeit sah anders aus. Ihre Wäschekommode im Schlafzimmer war endgültig auseinander gebrochen, die Laufschienen hatten sich gelöst und die Schubladen ließen sich nicht mehr herausziehen. Weil sie ihre Wäsche nicht auf den Boden stapeln wollte, hatte sie jetzt die Schubladen direkt offen auf dem Teppich stehen, sortierte dort ihre Höschen und BHs hinein. Es sah aus wie bei der Altkleidersammlung für Bedürftige.
Über Rick hatten sie nicht gesprochen.
Das kam erst beim Frühstück im Diner, als sie dort wie zwei Trauerklöße saßen und Aimee unvermittelt sagte: „Verdammt, ich bin an allem Schuld.“

Bier und Whiskey war eine gute Mischung. Es ließ ihn unempfindlich werden, taub und blind gegenüber den Gefahren der Nacht und knackte zwei Autos. Das erste noch in der Straße, in der die Bar lag. Er fuhr damit kreuz und quer durch Ouray, ruhelos und verbissen, ganz wie in seinen wilden alten Zeiten, als er mit Mascot unterwegs gewesen war, nur mit dem Unterschied, dass er räumlich so eingeschränkt war, dass er fast wahnsinnig wurde. Er fuhr durch die ruhigen Wohnstraßen, durch die Einkaufsstraße, vorbei an den geschlossenen Geschäften. In dem Wagen war Rick so lange unterwegs, bis er den kaffeebraunen Camaro am Straßenrand stehen sah, entgegen der Fahrtrichtung abgestellt. Er verdrehte den Hals, pfiff durch die Zähne, als er an dem Camaro vorbeikam und drehte an der nächsten Kreuzung, um wieder zurückzufahren. Hinter dem Camaro war eine Parklücke frei, dort stellte er den Wagen ab und stieg um.
Es war früher Morgen, das Leben war noch nicht ganz erwacht in Ouray und er fühlte sich überhaupt nicht müde, obwohl er die ganze Nacht unterwegs gewesen war. Es kümmerte ihn wenig, dass eine Frühaufsteherin ihren Kinderwagen an ihm vorbei schob und interessiert beobachtete, was er da tat. Von außen hatte der Camaro gepflegt ausgesehen, aber der Schein trog; als Rick den Motor anwarf, spuckte er eine blaue Wolke aus dem Auspuff und knatterte wie ein Traktor. Mit einer Hand kurbelte Rick aus der Parklücke, beugte sich zum Handschuhfach hinüber und ließ dabei einen Moment die Straße aus den Augen. Der Camaro geriet auf die Gegenspur und Rick zog ihn erst wieder auf die Fahrbahn zurück, als der entgegenkommende Autofahrer panisch zu hupen begann.
„Reg dich ab“, rief Rick, inspizierte weiter das Handschuhfach. Sein Puls war vollkommen ruhig dabei.
Er fand eine Großpackung Papiertaschentücher, die er nach hinten auf den Rücksitz warf, ebenso wie die Plastikmappe mit Familienfotos. Die Fotos waren alle verwackelt oder überbelichtet. Eine Rolle mit Pfefferminz steckte er in seine Tasche, sauer darüber, dass der Wagen so schlecht lief und kein Geld zu finden war. Auf den glatten Straßen von Ouray konnte er den Wagen nicht ausfahren und er kam aus der Stadt nicht heraus. Als er es trotzdem versuchte und den Skyrocket Creek entlang brauste, kam er genau bis an die Stelle, wo die Lawine heruntergekommen war. Dort waren noch immer Arbeiter beschäftigt, wenn auch nicht gerade motiviert.
Rick hatte den Wagen am Straßenrand geparkt, war ausgestiegen und sah ihnen zu, wie sie die eine Maschine, die sie hatten, in dem Haufen gefrorene Scheiße festfuhren und dann Feierband machten. Zwei arbeiteten noch etwas nachlässig mit der Spitzhacke, andere wärmten sich die Finger am Tonnenfeuer. Rick lehnte sich gegen den Camaro, hielt die Arme verschränkt und sah ihnen zu, wie sie in einen Wagen stiegen und nach Hause fuhren. Einer der Arbeiter warf eine Bierdose aus dem Fenster, als er auf Ricks Höhe war.
Ich merk mir deine Karre, du Arschloch.
Er betrachtete die zu festem Eis erstarrte Lawine, rauchte eine seiner letzten Zigaretten und ließ sie zwischen seinen Lippen hängen. Es gelang ihm, an nichts mehr zu denken, sein Kopf war leergepustet und wenn es nicht so eisig kalt gewesen wäre, hätte er es hier länger ausgehalten. Es war still und einsam, der Himmel war kobaltblau ohne eine einzige Wolke. Es würde nicht schneien in den nächsten Stunden. Der Blick auf die Berge und Wälder war atemberaubend in der klaren Luft. Rick sah hoch üben über den Berggipfeln große Vögel kreisen, vielleicht waren es Adler, er hatte keine Ahnung, aber die Vögel waren einsame Spitze dort oben in dem blauen Himmel.
Auf dem Weg zurück kam er an der Villa vorbei, dachte an Julia und an diesen Idioten David, der dort oben wohnte. Noch auf dem Pass stieg er nach hinten, suchte alles zusammen, was er angefasst hatte und warf es in den Graben, weil er auf den Gegenständen seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte.
Zurück in Ouray war er den spuckenden Schrotthaufen leid, vor allem, als er die Aufmerksamkeit eines Passanten auf sich zog, der ihm nachstarrte, ihm dann winkend und schreiend einen ganzen Block hinterher rannte. Rick behielt ihn über den Rückspiegel im Auge, bis ihm die Ähnlichkeit mit dem Mann auf den Amateurfotos auffiel. Er drückte auf die Tube und ließ den empörten Besitzer des Camaros hinter sich.
Auf der Rückseite des Supermarktes wurde er den Wagen los, das Licht des Ladens zog ihn an und er ging hinein.
Schokolade, das wär’s jetzt. So viel Schokolade, wie reingeht und irgendwas zum nachspülen. Schnappen die Idioten mich endlich?
Im Supermarkt taten ihm von der Beleuchtung die Augen weh, an einem Drehgestell nahm er sich eine Sonnebrille, setzte sie auf und marschierte mit seiner Cadburys und dem läppischen Dosenbier an die Kasse. Die Kassiererin zog die Sachen über den Scanner und sagte: „Die Brille muss ich noch durchziehen.“
„Das ist meine.“
„Und wieso hängt dann noch unser Preisschild dran?“
Wortlos legte Rick die Brille auf das Band, aber bevor die Frau den Preis einscannen konnte, nahm er sie und warf sie Richtung Zeitschriften zurück.
Die Schokolade brachte seinen Zuckerspiegel wieder auf den normalen Level und das Bier ließ ihn relaxen. Aus dem Supermarkt heraus lief er ohne nach rechts und links zu sehen über die Straße, das Reifenquietschen ignorierend, und hätte fast ‚na endlich’ gesagt, als Overturf vor ihm auftauchte und ihn am Kragen packte. Er verlor keine Worte, was Rick ihm anrechnete, aber es hätte ihn auch wenig gekratzt, wenn der Sheriff ihm eine lange Predigt gehalten hätte.

Sie saßen in der kalten Zelle zusammen, Rick auf einem Stuhl, Overturf stand vor ihm, sah auf ihn herab und stellte seine Fragen.
„Ist der Junkie abgekratzt?“
„Er ist wieder zu Hause, aber das geht dich nichts an. Ich behalte dich hier, bis die Straße frei ist und was danach kommt, weißt du. Du kannst es dir hier gemütlicher machen, wenn du mir sagst, was an der Sache dran ist.“
„Es ist gar nichts dran. Ich hab niemanden umgebracht.“
„Ich will wissen, was passiert ist.“
Rick tat unbeteiligt, sah zur Decke und versuchte ein Grinsen, aber sein Herz raste und ihm brach der Schweiß aus, obwohl er fror. Er klemmte sich die Hände unter die Achseln, weil er das Zittern nicht unter Kontrolle brachte. Overturf beugte sich zu ihm herunter, starrte ihm ins Gesicht und griff nach seinen Händen, hatte kein Problem damit, ein Messer in die Wunde zu stecken und die Klinge herumzudrehen.
„Was ist los, Scanlon? Weshalb hast du solche Angst davor, mir zu erzählen, was passiert ist?“
Ich sollte keine Angst haben, verdammt, aber ich komm damit nicht klar. Es macht mich fertig. Ich kann versuchen, es ihm zu erklären, aber ich werd mich dabei nicht gut fühlen.
„Okay“. Ricks Stimme klang müde und die Zustimmung ging an sich selbst, nicht an Overturf.
„Wir sind einem Bullen in New York in die Quere gekommen, in der Bowery. Wir standen auf seiner Liste und meinen Kumpel hat’s erwischt. Ich bin davongekommen, er nicht, das ist alles. Ich will zurück, aber ich kann nicht. Stimmen sie mir zu, dass ich ein Problem habe?“
„Ich bin sicher, dass du mir in deiner Situation keine Märchen auftischen würdest, aber es ändert nichts daran, dass du hier bleibst. Du hast dir einen Wagen für eine Spritztour ausgeliehen und es versäumt, den Besitzer um Erlaubnis zu fragen. Dumme Sache.“
Noch lange nicht so dumm wie das, was ich alles schon angestellt hab.

„Keine Partys mehr“, sagte Sammy Joe. Ohne das gestylte Haar und ohne Make-up hätte Ruth sie fast nicht erkannt.
„Ich werde mich nach einem Job umsehen. Den Jungs gehe ich aus dem Weg, versprochen. Es wird Zeit, dass ich irgendetwas anstelle mit meinem Leben.“
Ruth bemerkte die geschwollene Nase und die nasale Aussprache, aber sie dachte an eine aufkommende Erkältung, was bei dem Wetter kein Wunder war. Misstrauisch war sie nicht.
„Tut mir leid, wenn ich in letzter Zeit über die Stränge geschlagen habe. Ich hab mich wieder so hilflos gefühlt, du weißt schon, wie damals.“
Tante Ruth tat es in der Seele weh, wieder daran erinnert zu werden und sie verzieh Sammy Joe alles, was es auch war, weil sie die Hoffnung hegte, das Mädchen könnte endlich erwachsen geworden sein. Außerdem kaufte sie ihr noch etwas in der Drogerie. Gegen die Erkältung.

Im Pinball trafen Sammy Joe und Aimee auf die üblichen Bekannten, sie tranken Eistee und machten ein paar Spiele.
„Was denkst du, wo er steckt?“
„Ich weiß nicht, was ich denken soll. Nach allem, was passiert ist, könnte er doch einen Weg aus der Stadt gefunden haben.“
„Kein schönes Ende“, sagte Aimee.
„Wir hätten auch den Mund halten können.“
Sie hatten die Schuld zu gleichen Teilen untereinander aufgeteilt und versuchten, das beste daraus zu machen. Sammy Joe sah ohne ihr wüstes Augen Make-up seltsam normal aus. Dash kam zu ihnen herüber und fragte, ob alles in Ordnung sei im Partyland.
„Rick ist weg.“
„Ich weiß. Seit er mit bei Manda war, hab ich ihn auch nicht mehr gesehen.“
Sammy Joe drehte sich zu ihm herum und sagte: „Was?“

Es lässt sich überprüfen, dachte Overturf. Ich könnte noch ein paar Details erfahren. Ich muss nur ein paar Hebel in Bewegung setzen und auf das Fax warten.
Er wollte nicht nach Hause fahren. Das Abendessen hatte er sich aus dem Diner bringen lassen, es war gut gewesen, aber trotzdem hatte er es kaum angerührt. Scanlon war ruhig in seiner Zelle.
Ich gebe seinen Namen an und sehe, ob er mich angelogen hat oder nicht. Dustman reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, dass ich nicht alles lückenlos überprüft habe.
Das Telefonat dauerte etwa eine viertel Stunde und das Telefax kam zwei Stunden später. Overturf blieb neben dem Apparat stehen, nahm die Blätter zur Hand und las, während der Rest noch durchgeschickt wurde. Er seufzte, runzelte die Stirn, während er Passagen übersprang, Absätze zwei- und dreimal las, auf den dunklen Fotos etwas zu erkennen versuchte. Zum Glück waren die Seiten des Faxes durchnumeriert, ansonsten wäre er heillos durcheinander gekommen.
Er warf die Reste seines Essens weg, wischte die Krümel von der Schreibtischplatte und überlegte, ob er einen Kaffee trinken sollte, trug die Akte von Rick Scanlon mit sich herum, bereits zerknickt und mit Eselsohren. So etwas ähnliches las er seit Jahren, konnte diese Art von Lebensläufen schon nicht mehr zählen, aber das hier war etwas anderes.
Das war eine heiße Kiste; heiße Scheiße, wie sein Vater gesagt hätte.
Rick Scanlon war geboren und aufgewachsen in einer Kleinstadt in Indiana, mit fünfzehn von dort weggelaufen und hatte damit seine Karriere als Kleinkrimineller begonnen.
Mit seiner frischen Tasse Kaffee setzte sich Norman Overturf an seinen Schreibtisch, legte ein Bein hoch und konnte noch immer kaum glauben, was er dort las.
Es war der Kurzbericht des New Yorker Büros der DEA, der Drogenbehörde, ein paar Jahre alt und dort hieß es, dass Rick Scanlon als Lockvogel benutzt worden war, um an einen Kolumbianer namens José Quintero Ramos heranzukommen. Es war in die Hose gegangen. Der Bericht endete sehr abrupt mit dem Statement, dass Scanlon gewarnt worden sei, untergetaucht und nicht auffindbar war. Seine Verbindung zu Quintero Ramos war nicht aktenkundig, aber es musste sie geben, sonst wäre die DEA nicht auf so eine Idee gekommen.
Sie vermuteten, dass einer der Agenten ihn gewarnt hat, dachte Overturf, aber vielleicht ist die Sache auch aus ganz anderen Gründen schief gegangen.
Die Verbindung zu einem kolumbianischen Drogenboss warf ein heikles Licht auf Scanlon; solche großen Fische traf man nicht wie Gelegenheitsdealer an der nächsten Straßenecke und der Sheriff hätte gern erfahren, was sich da genau abgespielt hatte, aber die Akte gab nicht mehr her.
Vereinzelte Verhaftungen wegen Autodiebstahls, Einbruchs, aber keine einzige Anklage und Verurteilung.
Ihm klebte das Glück am Hacken.
Einen kurzen Querverweis hätte er fast übersehen und ausgerechnet dort fand sich die Bestätigung der Geschichte, wie Rick sie angerissen hatte. Einer seiner Freunde war von einem Polizisten in Notwehr erschossen worden.
Die Akte endete mit einem letzten Hinweis auf Karl Dominique, ehemaliger Polizist und nun Ermittler einer Versicherungsgesellschaft. Diese Verbindung konnte bedeuten, dass da jemand war, der etwas über Scanlon wusste und auch darüber reden würde. Für Overturf war es leicht, die Telefonnummer herauszufinden und hatte dann die ganze Nacht Zeit, sich zu überlegen, was er wissen wollte.
Ob es gefährlich wird, dachte er, das muss ich wissen. Ich kann ihm ansehen, dass er nicht ohne ist und was ich hier gelesen habe, bestätigt es. Ich werde ihn eingebuchtet lassen, schon allein wegen Dustman, damit er mich in Ruhe lässt.
Er fuhr nach Hause. Mit einem Bier setzte er sich vor den Fernseher, ohne sich für das laufende Programm zu interessieren. Mit leeren Augen starrte er auf den Bildschirm, ohne zu blinzeln und ohne darüber nachzudenken, was er hier eigentlich tat. Sein Gehirn lief im Leerlauf, aber sein Unterbewusstsein ackerte hart, auch noch, als er mit der Flasche in der Hand einschlief. Als eine Frau im Film laut schrie, schreckte er hoch, verschüttete Bier und tappte müde ins Schlafzimmer hinüber, ließ den Fernseher laufen. Bereits jetzt hatte er die Entscheidung für morgen früh getroffen, schlief gut und wachte erst auf, als jemand unter seinem Fenster hupte.

Herbert hatte Rick bereits ein paar Sandwiches und Kaffee gebracht.
„Alles klar da drin?“
„Er sieht nicht gerade glücklich aus, vielleicht schmeckt ihm unser Essen nicht.“
„Über das Essen sollte er froh sein. Ich hätte ihm keine Sandwiches gemacht.“
„Die waren noch von gestern“, sagte Herbert.
„Ich rede mit ihm.“
Herbert wartete einen Herzschlag lang und fragte dann: „Wie lange willst du ihn hier behalten?“
„So lange, bis der Skyrocket Creek frei ist und ich ihn nach Montrose bringen kann. Gestern Abend hab ich erfahren, was in einer Vergangenheit passiert ist und das hat mir nicht gerade gefallen. Ich kann ihn nicht herumlaufen lassen.“
„Okay“, sagte Herbert mit müder Stimme, „wie willst du ihm das sagen? Er glaubt, dass er wieder rauskommt.“
„Er sollte es besser wissen.“
„Du redest mit ihm.“
„Das sagte ich bereits.“
Etwas stimmte nicht mit Herbert, er lief nicht mehr in der Spur, er war weich geworden aus irgendeinem Grund, aber ob es mit Scanlon zu tun hatte, konnte Overturf nur erraten. Es gab noch Schreibkram, der zu erledigen war, den würde er Herbert aufs Auge drücken, damit er wieder auf normale Gedanken kam. Inzwischen sollte Scanlon seine alten vertrockneten Sandwiches aufgegessen haben, Overturf ging hinüber in den Zellentrakt und schloss die Zelle auf.
„Scanlon?“
„Ich glaube, ich bin noch hier“, sagte Rick.
Er sah unausgeschlafen aus, sein Haar war struppig und durcheinander, die dunklen Bartstoppeln in seinem Gesicht erinnerten an seine ursprüngliche Haarfarbe, die unter dem gebleichten Haar nicht zu erkennen war.
„Wir haben noch was zu besprechen.“
Im Zellenvorraum saßen sie zusammen an dem Tisch, auf unbequemen Holzstühlen, zwischen sich die Tischplatte und herumliegende Unterlagen. Overturf las vor und Rick tat so, als würde er gar nicht zuhören.
„Billy Braverman hat jemanden in seinem Camaro durch die Straßen fahren sehen und erst an einen schlechten Scherz geglaubt. Da sind dann noch die Wagen der Famlien der Kennans, der Ashworths, der McFarlanes, der Deschaumps, der Lausters. Das sind die, die sich bis jetzt gemeldet haben. Das geht nicht auf das Konto der Jugendlichen hier in Ouray, denn so etwas haben wir hier noch nie gehabt. Was sagst du dazu? Ich weiß, dass du oft genug wegen Autodiebstahls gesessen hast, in New York und auch anderswo. Erzähl mir also keinen Mist.“
Rick kratzte sich übe das stoppelige Kinn und sagte gar nichts. Er zuckte zusammen, als der Sheriff mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
„Wir haben die Wagen untersucht, wir haben überall die gleichen Spuren gefunden, also nehmen wir an, dass es sich um eine Person handelt. Im Moment werten wir noch die Fingerabdrücke aus, die wir gefunden haben und meine Männer sind ganz heiß darauf, weil sie so etwas nur selten zu tun bekommen.“ Overturf machte eine Pause und wartete, bis Rick ihn ansah.
„Was wird passieren, wenn wir deine Abdrücke nehmen?“
„Was soll passieren?“
„Wir könnten Übereinstimmungen finden.“
Rick zuckte mit den Schultern.
„Wenn sie mich verdächtigen, dann sagen sie’s. Dann will ich einen Anwalt, falls es hier bei euch einen gibt. Ansonsten sag ich dazu überhaupt nichts.“
Der Sheriff erhob sich und trat hinter Rick, beugte sich über seine linke Schulter herunter und sagte: „Wir sind hier nicht in New York, buddy. Hier achtet niemand auf deine Rechte, bei uns bekommst du einen Tritt in den Arsch, aber keinen verdammten Anwalt. Was willst du also tun, wenn Amnesty International nicht in der Nähe ist?“
„Ich kann warten.“
„Worauf, du Bastard? Du hast fast ein Dutzend Wagen aufgebrochen, geklaut und bist mit ihnen herumgefahren. Glaubst du, irgendjemand in der Stadt hat ein Interesse daran, dir zu helfen?“
Niemand in Ouray, das hast du dir verscherzt, Ricky. Ich hätte dir sagen können, dass das mit der chica schief laufen wird.
„Sie können mich hier nicht ewig festhalten.“
Overturf schlug ihm mit der flachen Hand auf das Ohr und er meinte es nicht als Scherz – er schlug so hart zu, dass Ricks Gehör klingelte.
„Es wird nicht nötig sein, dich auf ewig festzuhalten, weil ich dich vorher fertig machen werde. Niemand vermisst dich. Du bist aus New York verschwunden, weil dort ein Bulle hinter dir her ist und niemand weiß, wo du bist. Ich hab ein leichtes Spiel mit dir, wenn du dich quer stellst.“
Overturf schlug wieder zu, diesmal auf das andere Ohr. Rick presste die Lippen zusammen, um keinen Ton von sich zu geben, hielt den Blick fest auf seine Hände gerichtet, hörte dem Sheriff nur mühsam zu.
„Du bist hier, weil du die Autos gestohlen hast und ich werde dich zu Bezirksstaatsanwalt fahren, sobald die Straße geräumt ist. Ob du gestehst oder nicht. Du bist vielleicht kein Mörder, aber du bist ein notorischer Autodieb und noch irgendwas, was du verborgen hältst. Das finde ich auch noch raus.“
„Das sollten sie lassen.“
Der Sheriff zog ihn vom Stuhl, drehte ihn herum und hätte ihm für diese Frechheit die Faust in den Solar plexus, den Kotzpunkt, gerammt, aber Rick meinte es ernst; er versuchte nicht, seinen Arsch zu retten, er versuchte, etwas im Dunklen zu lassen, was ins Dunkle gehörte. Es machte ihm Angst, dass jemand etwas davon erfahren könnte.
„Ich werde ein wenig durch die Gegend telefonieren und mich umhören. Ich werde mich schlau machen und du wirst mich nicht daran hindern, Scanlon.“
Er packte ihn in die Zelle zurück.
Scanlon blieb an der Gittertür stehen, ließ die Handgelenke auf der Querverstrebung liegen und sah auf den Vorraum hinaus.
Dir wird niemand helfen, dachte Overturf.
Es wurde Zeit für einen Anruf.

Sie wollte sich in Arbeit stürzen, wohl zum ersten Mal in ihrem Leben, aber sie hatte keinen Job und irgendwann war das ganze Haus aufgeräumt und sauber, irgendwann gab es nichts mehr zu tun.
Sammy Joe ertappte sich immer wieder, wie sie im Bad vor dem Spiegel stand, sich anstarrte und in Trance fiel; manchmal wurde sie eine halbe Stunde später wieder wach und wusste nicht, was los war.
Verliere ich den Verstand?
Dann begriff sie, dass sie immer nur ihre Nase kontrollierte, dabei war die Schwellung und Rötung gar nicht mehr zu sehen. Die Spuren der Schläge waren verschwunden, aber sie suchte noch immer nach ihnen.
In der Stadt gingen Gerüchte herum, Rick Scanlon säße bei Sheriff Overturf in einer Zelle und wartete auf seine Auslieferung nach Montrose.
„Was soll ich tun?“ fragte sie ihr Spiegelbild, aber sie bekam keine Antwort.
Eines Morgens wusste sie, was sie zu tun hatte, um alles wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie stylte ihr Haar und legte ihr Make-up so sorgfältig auf, als bereite sie sich für Filmaufnahmen vor. Diese Maske, die sie auflegte, schützte sie und machte sie unverwundbar. Nur so konnte sie zu Sheriff Overturf gehen.

„Einen Moment, Sheriff, ich stelle sie durch.“
Die Frau mit dem New Yorker Akzent war freundlich und Sheriff Overturf musste nicht lange auf seinen Gesprächspartner warten. Solche Telefonate waren nicht üblich für die Polizeiarbeit in Ouray und wenn die Abrechnung kam, würde es noch ein wenig mehr Schreibkram bedeuten.
„Dominique.“
„Sheriff Normal Overturf, Ouray County Police Department, Colorado. Kann ich sie kurz sprechen?”
“Klar, schießen sie los.” Die Stimme hatte einen hohlen entfernten Klang, er hatte die Lautsprechanlage eingeschaltet und die anderen Nebengeräusche bewiesen, dass er nebenbei weiterarbeitete. Papier raschelte, Kratzgeräusche auf Holz und das Knarren eines Bürostuhls waren zu hören.
„Ich lasse die Katze aus dem Sack, ich sehe keinen Grund, lange Reden zu halten. Sie kennen Rick Scanlon.“
Statt einer Antwort klackte es in der Leitung und die Stimme aus New York war nahe und direkt an seinem Ohr. Die Stimmlage hatte sich deutlich verändert, als Dominique den Lautsprecher ausgeschaltet hatte.
„Ist er bei ihnen?“
„Ich habe ihn eingebuchtet.“
„Colorado“, wiederholte Dom, „ich wette, er ist nicht zum Wintersport bei ihnen gelandet. Sheriff, kann ich bei ihnen vorbeikommen und ihn sehen? Wissen sie, Rick hat vor Monaten die Stadt verlassen und wir wussten nicht, ob er überhaupt noch lebt.“
„Er lebt, soviel ist sicher. Aber mit ihrem Besuch müssen sie noch warten. Eine Lawine hat uns von der Außenwelt abgeschnitten. Außer natürlich, sie geben das Geld für einen Hubschrauber aus.“
„Das fehlte noch. Was hat Rick bei ihnen angestellt?“
„Einige Wagen haben unfreiwillig den Besitzer gewechselt.“
Dom seufzte. Es klang seltsam, einen Mann so seufzen zu hören, jedenfalls in Overturfs Ohren, er hatte kein Verständnis dafür, dass sich jemand um Rick Scanlon Sorgen machte. Er konnte nicht sagen, wie alt Dominique sein mochte, seine Stimme war zeitlos, dunkel und markant, aber ohne Alter.
„Kann ich mit ihm sprechen?“
„Nein, tut mir leid.“
„Sie haben mich angerufen, Sheriff.“
„Sie haben recht, Okay. Ich muss von ihnen wissen, ob er uns gefährlich werden kann. Ich will kein Risiko eingehen, falls ich ihn doch laufen lassen muss. Er ist mehr ein Gelegenheitsdieb, das weiß ich und ich dachte, dass sie mir weiterhelfen können bei dem, was nicht in den Akten steht.“
„Ich kann ihnen nichts sagen. Rick ist ein Freund, ich helfe ihm, wenn er in Schwierigkeiten ist, weil ich ihm das versprochen habe, aber ich werde ihnen nichts sagen, was Rick in ihre Hände spielen wird. Zwar habe ich hier viel zu tun, aber ich komme zu ihnen nach Colorado, ob ihnen das gefällt oder nicht.“
„Was hatte die Drogenbehörde gegen ihn in der Hand?“
Aus dem Schweigen hörte Norman Overturf, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, grinste in sich hinein und wartete genüsslich auf die Ausrede oder Ausflucht, aber alles, was Dom sagte, war: „Rick hat sie ausgetrickst und ist untergetaucht, noch bevor die merkten, was los war. Der Einsatzleiter musste seinen Hut nehmen, weil sie glaubten, es hätte eine undichte Stelle gegeben. Die Wahrheit ist, dass Rick ein falsches Spiel riechen kann. Das können sie mir glauben. Er kann Gedanken lesen.“
Herbert kam herein und machte einen Wink mit der rechten Hand, um Overturf zu deuten, dass es dringend sei.
„Ich habe ihre Nummer“, sagte er zu Dom, „ich werde mich wieder bei ihnen melden.“
„Tun sie mir einen Gefallen und sagen sie Rick, dass hier alles in Ordnung ist. Er hat zwar ein großes Chaos hinterlassen, aber das sollte er wissen.“
Herbert wartete gar nicht erst, bis Overturf aufgelegt hatte, er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter.
„Da draußen wartet Scanlons Alibi und möchte dich sprechen.“
Sammy Joe sah genauso aus, wie man sie kannte, gestylt und mit schwarz umrandeten Augen, ausgeflippten Klamotten unter der warmen Jacke. Sie grüßte, setzte sich vor den Schreibtisch und wartete, dass Overturf sie fragte, was sie wolle.
„Sie halten Rick fest.“
Overturf nickte.
„Was soll er angestellt haben?“
„Er hat ein paar Autos geknackt.“
„Kann er gar nicht getan haben. Wir waren Tag und Nacht zusammen, seit er hier in Ouray ist. Davon hätte ich was mitbekommen.“
Mit jedem Wort zog sich das Gesicht des Sheriffs mehr zusammen, bis sich seine Augenbrauen in der Mitte berührten.
„Was soll das heißen?“
„Wenn er die Autos geknackt hätte, hätte ich es gesehen und das habe ich nicht.“
„Du weißt nicht mal, um welche Zeiträume es sich dreht.“
„Sheriff, wir kennen uns seit ein paar Wochen, wir fallen jede freie Minute übereinander her. Soll ich noch deutlicher werden?“
„Sammy Joe, ich glaube dir das nicht. Du erzählst mir einen Mist, damit ich Scanlon raus lasse.“
„Das ist kein Mist.“ Ihre Stimme war so ruhig wie ihr Gesicht, sie konnte dem Sheriff ohne zu zögern in die Augen sehen.
„Es gibt keine Zeugen dafür, nehme ich an.“
„Jemanden, der uns beobachtet hätte? Für was halten sie mich?“
Overturf wurde wütend und begann Sammy Joe die Sache vom Meineid herunterzubeten, dass sie dafür ins Gefängnis kommen könne, sollte sich herausstellen, dass sie gelogen hatte, aber selbst das beeindruckte sie nicht.
Er kannte dieses Mädchen; bis auf den üblichen Blödsinn, den die Jugendlichen sich so einfallen ließen, hatte sie sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, sie hatte die Schule abgeschlossen und hatte es durch den frühen Tod ihrer Mutter sicher nicht leicht gehabt. Dass sie keinen Job hatte und mit den falschen Freunden herumhing, konnte man ihr nicht wirklich zum Vorwurf machen – in Ouray war die Auswahl einfach zu eingeschränkt. Es war nicht ihre Art, so unverfroren zu lügen, dazu noch für jemanden, der es nicht wert war.
Was, wenn sie die Wahrheit sagt und es ist doch ein anderer für die aufgebrochenen Autos verantwortlich? Bill könnte sich getäuscht haben, vor allem, weil er Scanlon nur als ‚Fremden mit gefärbten Haaren’ beschrieben hat. Es spricht alles gegen ihn, aber es ist mein Job, jeder Spur nachzugehen.
„Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du hier bei mir eine Aussage machen, dass du Tag und Nacht mit Rick Scanlon zusammen warst und dass du diese Aussage auch unter Eid wiederholen würdest.“
„Ja, Sir.“
„Wir haben Scanlon einige Male aufgegriffen oder in der Stadt gesehen und da war er allein.“
„Ein paar Mal war ich in einem Laden und er ist vorgegangen oder umgekehrt. Meinen sie, in diesen zehn Minuten hätte er sofort etwas angestellt? Sie haben ihn doch kein einziges Mal erwischt, oder?“
Overturf gab sich nicht die Blöße, das zuzugeben, er griff zum Telefon, um das Labor anzurufen.
Die Polizei von Ouray nutzte das Krankenhauslabor, weil es schneller ging, als die Proben in die nächste Stadt zu schicken; die Labormäuse konnten nicht nur Blutalkohol bestimmen oder Drogentests durchführen, sie hatten ein Programm zum Vergleich von Fingerabdrücken auf dem Rechner, von dem Overturf wusste, dass es die meiste Zeit nur aus Quatsch benutzt wurde, um Praktikantinnen zu beeindrucken. Das Labor vor Ort hatte seine Vorzüge. Im Frühjahr hatte Herb einen Amokfahrer festgenommen, der zehn parkende Wagen mit seinem Pick-up demoliert hatte und bei dessen Blutuntersuchung herausgekommen war, dass er nicht hoffnungslos besoffen sondern ein unterzuckerter Diabetiker gewesen war.
Ja, sie hatten Scanlons Fingerabdrücke mit denen aus den Wagen verglichen, aber kein einziger der klaren vollständigen Abdrücke stimme überein. Einige Fragmente konnten passen, aber die seien für eine genaue Auswertung zu wenig. Entweder hatte da jemand seine Fingerabdrücke verschmiert, oder die Deputys hatten unsauber gearbeitet, das könne Overturf sich aussuchen.
Mühsam beherrscht legte er auf.
Sammy Joes Geschichte mochte noch so fadenscheinig sein, es gab nichts, womit er sie widerlegen konnte.
„Ich behalte euch beide im Auge.“
Er ließ Sammy Joe die Aussage auf einem Stück Papier datieren und unterschreiben und grunzte abfällig, als er sich das Schreiben noch einmal durchlas. Er schickte sie vor die Tür und überließ es Herbert, Scanlon die Zelle aufzuschließen und ihn laufen zu lassen.
„Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende“, sagte er, als Rick seine Jacke überzog und sich umsah.
„Soll ich darauf noch was sagen?“
„Du solltest lieber die Tür hinter dir zumachen.“
Sammy Joe wartete auf der anderen Straßenseite, die Arme über der Brust verschränkt, ihr Atem stand vor ihrem Gesicht. Sie hob zögernd die Hand und winkte, steckte die Hände zurück in die Jackentaschen und wartete.
Rick brauchte eine Zigarette und er brauchte einen langen Spaziergang, er musste sich abreagieren, nachdem er tagelang in der Zelle auf seinem Hintern gesessen hatte. Er ließ einen mit Skiern beladenen Wagen vorbei und trabte zu ihr hinüber, sagte Hi und wollte fragen, ob sie etwas damit zu tun hatte, dass man ihn rausgelassen hatte und war nur froh, dass man die Spuren seiner Schläge in ihrem Gesicht nicht mehr sehen konnte.
„Wie geht’s dir?“
„Ging mir schon schlechter. Warum hat der Sheriff mich rausgelassen? Und was machst du hier?“
„Man könnte sagen, dass ich ein gutes Wort für dich eingelegt habe.“
Sie lächelte vorsichtig. Unter dem Make-up sah er eine Veränderung, die in ihr vorgegangen war. Sammy Joe sah erwachsener aus, zielstrebiger. Als sei sie plötzlich die Partys satt, die Drogen und den schnellen Sex zwischendurch.
„Du hast doch nicht irgendwas unterschrieben?“
Als sie nickte, seufzte Rick, fuhr sich durch das Haar und suchte in seinen Taschen nach den Zigaretten, die er noch irgendwo vermutete. Sammy Joe gab ihm ihre Packung Luckies.
„Hoffentlich bereust du das nicht irgendwann. Ich bin bald verschwunden, aber was ist mit dir? Sie könnten es dich spüren lassen.“
„Nicht, wenn ich es geschickt anstelle. Gehen wir ein Stück?“
Die Straßen waren noch immer glatt und verschneit, Autos mit Schneeketten fuhren im Schneckentempo an ihnen vorbei, im Diner gab es heiße Schokolade und warmen Apfelkuchen zum Sonderpreis.
„Wie soll’s weitergehen?“
Das konnte Rick ihr nicht sagen; sie hatte eben erst die Hand für ihn ins Feuer gelegt und ihren Seelenfrieden für ihn in Gefahr gebracht, da konnte er ihr nicht sagen, dass es alles in einem einzigen Desaster enden würde.
„Wie wär’s erstmal mit was zu essen?“
In der Zelle hatte er gefroren wie ein Nackthund, die Nieren taten ihm weh, es pochte und zog auf beiden Seiten, dass er nicht wusste, wie er sich wenden sollte, damit es aufhörte. Er musste trinken und was gegen die Schmerzen nehmen, bevor sie noch schlimmer wurden.
„Du bist in Mandas Hütte gewesen. Ich hab Dash getroffen, er hat’s mir erzählt.“
Rick war abgelenkt von der Bedienung, die seine Bestellung haben wollte und mit dem Kugelschreiber klackerte, und der Tatsache, dass Chuck – ohne seine Hunde – ein paar Tische weiter saß. Er bestellte sich Kaffee und Apfelkuchen mit Zimt, sah dann erst wieder Sammy Joe an, die noch einmal bemerkte, dass sie wusste, dass er bei Manda gewesen sei.
„Nur ein paar Stunden.“
„Wenn der Sheriff davon erfährt, ist dein Alibi geplatzt.“
Wen kümmert schon mein Alibi.
„Scheiß aufs Alibi. Der Sheriff könnte nach New York telefoniert haben.“
„Wirst du dort doch gesucht?“
„Nicht von den Bullen.“ Er sagte das mit einem schiefen Grinsen, verlagerte etwas seinen Schwerpunkt, um die eine pochende Niere zu entlasten und bemerkte bei einem flüchtigen Blick zu Chucks Tisch hinüber, dass der alte Furz zu ihm herüberstarrte. Das interessierte ihn nicht, obwohl die Stimme in ihm sagte, dass er sich dafür interessieren solle.
Sammy Joe fragte, von wem man sonst noch gesucht werden und sich Sorgen deswegen machen konnte und alles, was Rick dazu sagte, war: „Mein Boss sieht es nicht gern, wenn ich in der Scheiße stecke. So wie hier.“
Es hörte sich seltsam an, dass er von einem Boss sprach, Sammy Joe nahm sich eine Ecke von seinem Kuchen, obwohl sie den Zimtgeschmack eigentlich nicht mochte.
 
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Kommentare  

Ich kann nur Fan-tasia zustimmen. Es wird immer spannender. Ricks geheimnisvolle Vergangenheit kommt immer mehr ans Licht. Sammy- Joe konnte ihn aus dem Gefängnis holen, aber zur Ruhe kommen wird er wohl nicht.

Jochen (03.06.2009)

Also das ist ja jetzt gerade Hochspannung ;-) Jetzt kommen so nach und nach die Geheimnisse ans Licht. Man weiß zwar immer, dass irgendwas nicht stimmt und kann was erahnen, aber man weiß doch nichts, denn man wird bis zuletzt auf die Folter gespannt und erst nach und nach erfährt man immer etwas mehr und am Ende ist doch alles ganz anders als man denkt. Das gefällt mir immer sehr bei all Deinen Geschichten. Mal sehen, wer denn jetzt der tote Freund ist, oh je hoffentlich nicht der, den man denkt und für was sich denn Julia so schämt und wer ist den überhaupt Sophie? hm, ich glaub von ihr haben wir vorher auch noch nichts gehört. Es bleibt weiterhin äußerst spannend.

Fan-Tasia (02.06.2009)

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