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16 Seiten

Unglaublich - aber wahr!

Romane/Serien · Trauriges
Andreas hat es sich auf der Couch des Wohnzimmers gemütlich gemacht.- wartend auf Jaqueline, die in jedem Moment von der Arbeit kommen müsste.
Den Tisch hat er ihr zuliebe schon gedeckt. Angenehmer Kaffeeduft steigt aus dem langen Hals der Porzellankanne.
Nicht nur Andreas wartet ungeduldig auf Jaqueline, auch der saftige Rhabarberkuchen, der wohligen Geruch verströmend, auf der Tortenplatte der blumigen Tischdecke ruht, will endlich auch ihre Zunge verwöhnen.

Eine Schönheit aus Tausend und einer Nacht verkörpert Jaqueline zwar nicht. Um ihre Hüfte haben es sich einige Speckröllchen zuviel gemütlich gemacht - dennoch - wunderschön anzuschauen ihre leuchtenden Bernsteinaugen, die ihr ovales Gesicht mit der spitzen kleinen Nase und den lustigen Sommersprossen zieren, die sich in großer Zahl auf ihren Wangen tummeln, die sich oft noch über Gesellschaft in Form von feschen Grübchen, freuen dürfen.
Für kein Geld der Welt würde er seinen Schatz mehr hergeben.
Innigste Liebe verbindet Andreas und Jaqueline und das schon seit über fünfundzwanzig Jahren. Auch jetzt noch knistert es zwischen den beiden - so wie einst im zehnten Schuljahr- als ihr verliebtes Lächeln ihn total verrückt gemacht hatte und ihm nichts anderes übrig geblieben war, als sie zum Tanz aufzufordern. Die erste Runde genügte - und schon hatte es auch bei ihr gefunkt. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick.

Andreas windet sich von der Couch und tippelt vor zur zur schmucken Spitzengardine, die er sorgfältig nach außen rollt. Prüfend senkt sich sein Blick zum Fahrbahnrand. Doch ihre Parklücke, in der sein liebstes Schätzchen ihren hellroten VW-Passat einparkt, ist immer noch verwaist.
„Da türmen sich wiedermal unzählige Aktenberge auf ihrem Schreibtisch“, ahnt der sportlich schlanke Typ.
Andreas kennt dieses leidige Problem schon zur Genüge.
Der zweiten Hand des Chefs wächst die Arbeit viel zu oft über den Kopf. Da ist an pünktlichen Feierabend nicht zu denken.

Plötzlich heult die Sirene los. Dieses kann den zweiundvierzigjährigen Familienvater in der Regel nicht aus der Ruhe bringen. Da er keine Rauchschwaden sieht, schließt er die Gardine und setzt sich wieder auf die Couch.
„Da werden es einige Chaoten wiedermal auf Abfallcontainer abgesehen haben, mutmaßt Andy- so wird Andreas von seinen Freunden genannt - nicht zu unrecht, da einige Jugendliche in den vergangenen Wochen mehrfach gezündelt haben.

Minuten vergehen. Andreas hat das Gefühl, der Zeiger der Uhr wäre stehengeblieben. Doch der Eindruck täuscht. Er dreht sich so schnell, wie es ihm nun mal vorgeschrieben ist.
Pünktlich verlässt der Kuckuck seiner Schwarzwälder Uhr sein Häuschen, um den Gesetzen der Natur folgend, siebenmal zu schreien. Andreas - normalerweise die Ruhe selbst - treibt das doch einige Sorgenfältchen auf die Stirn.

Erneut wagt er einen Blick aus dem Fenster.
Gespenstisch dicke Nebelschleier wälzen sich um die Laterne, durch die sich nur noch ein fahles Licht schält. In diesem Augenblick nähert sich ein Einsatzwagen der Polizei und zwängt sich gekonnt, in die einzige noch freie Parklücke, in der normalerweise Jaqueline ihr Auto einlenkt. Der Wagen kommt unter Bremsenquietschen zum Stehen. Andreas sieht, wie sich flugs die beiden vorderen Türen um einen breiten Spalt öffnen. Zwei Bedienstete - darunter auch eine Frau - winden sich eilig aus dem Fahrzeug, lassen hektisch die Tür ins Schloss fallen und rasen auf die Haustür zu.

Andreas kommt dieses Szenario doch sehr sehr merkwürdig vor.
„Was wollen die denn hier?”, fragt sich Andreas mit sorgenvoller Miene. Urplötzlich geht ihm ein Licht auf. Die Sirene!
„Ein Feuerteufel in diesem Haus, in dem nur anständige Leute, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen, wohnen" - für ihn ein Ding der Unmöglichkeit.
Doch plötzlich durchfährt ein gehöriger Schreck seine Knochen. Der nicht enden wollende schrille Klingelton hat ihn aufhorchen lassen. Andy springt wie eine Feder auf und stürmt in den schmalen Korridor, wo die Haussprechanlage in Höhe seines Halses widerlich grinst.
Das Herz des Erschrockenen gerät jetzt vollends aus dem Takt.
„Die Polizei? Was wollen die denn bei mir?"
Andreas ist sich keiner Schuld bewusst. Er ist doch kein junger Spundus, kein Vollidiot, einer der - aus purer Langeweile - mit dem Feuer spielt, um den nötigen Kick zu bekommen..

Zitternd reißt er den Hörer aus der Verankerung und presst ihn ans Ohr.
„Reinhold”, sagt Andreas unruhig.
„Polizei! Ich bitte Sie zu öffnen! Ich muss ihnen eine wichtige Nachricht überbringen!”, tönt ein unheimliches Krächzen aus dem knackenden Lautsprecher.
Ängstlich reißt er die Wohnungstür auf. Noch lauter hämmert es in seiner Brust - der Puls wahrscheinlich schon auf hundertachtzig.
Ein hochaufgeschossener Mann - schlank, etwa Mitte vierzig - rast hektisch auf ihn zu und gibt ihm nur flüchtig die Hand.
Hinter seinem Rücken klebt seine hübsche Assistentin, als wolle sie sich vor ihm verstecken. Ihr Gesicht mit er topgestyltem dunkelbraunen Frisur und den großen kristallblauen Augen kann sich wahrlich sehen lassen, wie auch ihre schönen schlanken Beine und die formschönen Rundungen ihrer Brüste.

Doch Andys sorgenvolle Augen wollen die Schönheiten dieser Frau nicht wahrnehmen.
Natürlich nicht! Er hat ja seine Jaqueline, die er nie aus den Augen verlieren möchte.
Schon deshalb sind andere Frauen für ihn total uninteressant und außerdem plagen ihn jetzt ganz andere Sorgen

„Polizeiobermeister Hunger!
Guten Abend, Herr Reinhold”, bricht es ungehobelt aus der Kehle des Herrn, der seinem weiten Augenaufschlag geschuldet, furchteinflößende Falten auf seine Stirn zieht.
„Warum ist dieser Mann nur so kalt und so gefühllos. Ich habe doch nichts verbrochen!”, denkt er und wirft dem Polizisten einen fragenden Blick zu.

Andreas ist zwar ein sehr feinfühliger Mensch, aber auch einer der es versteht, selbst in den hektischsten Situationen kühlen Kopf zu bewahren.
Unerwartet schiebt sich plötzlich die Frau an Hunger vorbei.

„Polizeimeister Fröhlich”, stellt sich die Frau, deren schwer zu deutender Blick noch viele Fragen offen lässt, vor. Freundlich streckt sie ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Gefühlvoll sanft gleitet ihr „Guten Tag, Herr Reinhold!” über ihre tiefroten Lippen. Wenigstens in diesem fadenkleinen Moment spürt er die beruhigende Wärme ihrer Hand in seinen Adern. Sein Puls schwächt sich kurzzeitig etwas ab.

Als sie jedoch ein paar Sekunden schweigt, als ihr suchender Blick versucht, die Körpersprache ihres Vorgesetzten - selbst noch so kleinste Zuckungen - zu deuten, senken sich seine Augenbrauen, sodass sich unmittelbar über der Nase unansehnliche trichterförmige Falten in Richtung seiner Stirn furchen.
Andreas sind diese auffälligen Gesten nicht entgangen.

Warum überlässt der Vorgesetzte ihr das Wort?
Was soll dieser schmalschlitzige, dieser verängstigende Blick!
Andy sucht nach Erklärungen - findet jedoch keine.

"Herr Reinhold", bricht die Frau die geheimnisvolle Stille des Raumes und pustet dreimal kräftig durch.
„Herr Reinhold", wiederholt die Frau, die verzweifelt versucht nach Worten zu ringen.
„ Nehmen Sie doch bitte erstmal Platz!”, bittet Andy die beiden Bediensteten mit zitternder Stimme und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger die Richtung..
Ist auch nötig, denn der unerwartete Besuch harrt immer noch zwischen Tür und Angel, in der ungastlichen Enge des Korridors.
„Nett von Ihnen. Leider müssen wir uns kurz fassen. Die Zeit sitzt uns leider im Nacken”, stellt die Frau klar.

Ungeduldig rückt Andreas die beiden klobigen Sessel, die an den Stirnseiten des kleinen rechteckigen Tisches arrangiert sind, zurecht. Die beiden lassen sich nieder. Auf dem Tisch wartet immer noch der leckere Rhabarberkuchen, Doch der Appetit ist Andy längst im Halse stecken geblieben. Ein widerliches Brennen stößt von der Speiseröhre hinauf bis in den Rachen.
„Herr Reinhold....” Wieder zögert die Frau, deren Kopf leicht fällt.
Der sichtlich auf die Folter gespannte Mann, kann sich auf dem Sofa kaum noch halten.
Urplötzlich ist Jaqueline in sein Gedächtnis gerückt, an die er - diesem unvorhersehbarem Stress geschuldet - gar nicht mehr gedacht hat.
Ihm wird schwarz vor Augen.

„Mit meiner Frau,...mit meiner Frau, ...meine Frau!, die ist doch nicht etwa tötlich verunglückt.
Bitte! Bitte! Sie dürfen mir das nicht sagen, bitte nicht!” fleht Andy wild gestikulierend.

„Auf der B173, zwischen Falkenau und Oederan, wiedermal in dieser berüchtigten Soldatengrabkurve, hat sich erneut ein schwerer Unfall ereignet.
Ein junger Fahranfänger hatte an dieser unüberschaubaren Stelle eine Zugmaschine überholt und ist dabei mit dem Wagen ihrer Frau kollidiert. Die Wucht der Kollision hat diesen bis über die Leitplanke geschleudert. Der junge Mann musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Herr Reinhold! Ärzte und Sanitäter haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben. Leider muss ich ihnen die traurige Mitteilung machen, dass ihre Frau noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben ist!
In atemberaubendem Tempo hat Frau Fröhlich diese Herz zerreißenden Sätze heruntergespult.
Schwer genug ist es ihr gefallen. Doch es hilft nichts.
Die junge Uniformierte hat die Pflicht - die verdammte Pflicht sogar, Andreas die Wahrheit zu sagen - mag diese auch noch so bitter sein - der dienstgradmäßig über ihr stehende Polizeiobermeister sowieso. Doch sein Mund bleibt stumm. Sein verdutzter Blick verirrt sich an der Decke, an den Wänden, nur das Gesicht des Betroffenen spart er (bewusst?) aus.
Er macht einen mutlosen Eindruck. Steckt in dieser rauen Schale vielleicht doch ein weicher Kern.
Es ist bei weitem nicht die einzige Todesnachricht, die die junge Bedienstete überbringen musste.
Dennoch - immer wieder hatte ihr dieser schwere Schritt ein hohes Maß an Überwindung gekostet.
Auch unsere Schutzbefohlenen sind nur Menschen, Menschen wie wir es alle sind, mit Stärken, aber auch mit Schwächen. Auch vermeintlich Hartgesottene haben eine Seele - dürfen auch mal weinen. Nur geschieht das fast ausschließlich im Verborgenen. Dieser knallharte Job gebietet nicht den Gefühlen freien Lauf zu lassen Doch Gefühle sind nun mal da, die lassen sich nicht so ohne Weiteres ausblenden - Tiefer Schmerz der in der Seele brennt, schon gar nicht.

Andy hatte bereits angefangen zu weinen als erste schlimme Worte aus der Kehle der mutigen Frau entsprungen waren. Bestürzung,Wut, Trauer, die pure Verzweiflung haben sich in diesen denkbar kurzen Zeit - in den wahrlich schlimmsten Minuten seines Lebens aufgestaut - wie das Wasser eines reißenden Stromes, was selbst vor den stärksten Dämmen keinen Halt macht, welches alles begräbt, was ihm im Wege steht. Schier endlose Tränen, die klagend aus todtraurigen Augen rollen, finden schnell einen Weg, sparen selbst seinen roten Rollkragenpullover nicht aus, die meisten gerinnen sogar bis zu seiner schon etwas in die Jahre gekommenen Jeanshose.
„Nein, das darf doch nicht wahr sein! Warum nur! Warum muss das sein!
Nicht mit mir! Nicht mit mir!" schießt es so emotionsgeladen aus ihm heraus, dass nicht nur die Wände anfangen zu zittern. Auch Hungers Leib, selbst die schlanken Beine der Ordnungshüterin, fangen an zu wackeln wie köchelnder Pudding. Rein zufällig fällt Andys Blick durch das blitzblanke Glas der Vitrine. Dahinter - das Hochzeitsbild.
Andys Wut und Verzweiflung wird noch größer, als er durch einen dichten Tränenschleier Jaqueline sieht - lebensfroh lächelnd, gehüllt in ein schneeweißes Brautkleid. Auch Andy, der sich fest an sie schmiegt, zeigt sein Sonntagsgesicht - sein wahres Gesicht. Denn er war eine Frohnatur, auch zu manchen Scherzen aufgelegt - alles andere als ein Miesepeter.

„Alles war so schön und hätte auch weiterhin so schön bleiben können, so wunderschön war es mit Jaquelin", flucht Andy mit tränenerstickender Stimme. Am liebsten würde er dieses Bild, welches in einer goldigen, mit feinsten Schnörkeln versehenen Umrandung, einen würdigen Rahmen gefunden hat, mit voller Wucht auf den Teppich knallen.
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„Herr Reinhold, bitte, bitte, ich bitte Sie doch, werden sie endlich..., werden Sie endlich vernünftig!”stochert Hunger, aus dessen Gesicht Wutfalten furchen.

„Wenn Sie herumbrüllen, dann macht das doch die ganze Sache auch nicht einfacher!", fährt Hunger in einem Tonfall fort, der sogar noch etwas an Schärfe gewonnen hat.
Seine Assistentin schweigt und schweigt. Das Zittern ihrer Knochen und das andauernde Flackern ihrer Augen, die nur noch müde blinzeln, auf die sich ein feuchter Film gelegt hat, zeugen von Wärme, von Mitgefühl, von tiefster Menschlichkeit. Es hat den Anschein, als wolle sie mit all ihren zur Verfügung stehenden Kräften einen Tränenfluss verhindern, der sich nicht so einfach stoppen lasse.
Wäre es peinlich, wenn die junge Frau ihre Gefühle offen zeigen würde?
Andreas würde es mit Sicherheit nicht so sehen. Wie aber würde Hunger reagieren.

Vernünftig werden! - viel leichter gesagt als getan, vor allem dann, wenn das Herz eines geliebten Menschen - welches stets wohlige Wärme und unersetzliche Geborgenheit ausstrahlte, - völlig unerwartet - aufgehört hat zu schlagen.

Auffallend sein stechender Blick und auch die Zornesröte, die sich trotzig um seine Augäpfel gefressen hat, die der mystischen Gestalt eines Vampirs sehr nahe kommt.
Braut sich da etwa noch mehr zusammen? Noch viel mehr als ein stinknormales Gewitter?

"Dieser Verbrecher, dieser Verbrecher, dieser Verbrecher", wiederholt der zu einem wahren Feuerkopf mutierte Reinhold mehrmals," dem werde ich's heimzahlen, den mache ich fertig,..., das Schwein bring ich um, wenn der mir in die Hände fällt, bringe ich ihn um, diesen Chaoten, dieses Schwein, dieser hirnverbrannte Vollidiot", und schmettert sein schmuckes Kaffeeservice mit voller Wucht gegen den schmucken Perserteppich. Unzählige Splitter hat es selbst bis in die entlegensten Ecken des Wohnzimmers gestreut.
Noch nie, wirklich niemals in seinem Leben, hatte Andreas so die Kontrolle über sich verloren.
Ein jeder, der diesen gutmütigen Menschen kennt, würde kaum glauben, dass er es fertig bringen könnte, wie eine Granate zu explodieren.
Wenn nicht dieser polizeibekannte Raser - dem erst vor zwei Monaten der Führerschein entzogen worden ist - das Leben seiner Frau ausgelöscht hätte, wäre er auch jetzt noch unbescholten geblieben.
Selbst Hunger, der in seinem nicht ungefährlichen Job, schon viele schlimme Dinge über sich ergehen lassen musste, ist plötzlich in Schockstarre versunken.
Doch nach ein paar Sekunden macht es in ihm klick. Zielsicher packt er den Verwirrten am Arm, um ihn auf den Boden zu befördern. Doch wer glaubt, das Feuer dieses Vulkans ließe sich wie das harmlose Flämmchen einer Kerze löschen, der sollte sich getäuscht haben.

„Dich Schwein mache ich fertig!", brüllt Andy wie ein Drachen. Er hält mächtig dagegen und ihm gelingt es jetzt sogar, den rechten Arm des Polizisten von seinem Körper weg zu wuchten. Bei diesem zähen Gerangel und Gewürge, kippt zu allem Überdruss auch noch der Tisch um. Auch der saftige Rhabarberkuchen und der kalt gewordene Kaffee, der eben noch in der Kanne schmorte, müssen jetzt dran glauben. Die klebrige Masse des Kuchens vermischt sich mit zahllosen Splittern - es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld.
Doch daran denkt Andy nicht. Die verständliche Wut in seinem Bauch hat das Fass zum Überlaufen gebracht.
„Jetzt reicht es aber!” wettert Hunger in seiner unnachahmlichen Art. Er ist so wütend, dass die Polizistin sich genötigt sieht, beruhigend auf ihn einzuwirken.
„ Der kann doch nicht anders, der ist doch total durchgedreht, dieses musst du verstehen!"
Hunger sagt kein Wort, er nickt zustimmend, gurgelt aber noch mit den rot unterlaufenen Augen.
Wenig später nimmt die Polizistin ihr Herz in beide Hände. Sie tut das einzig Richtige. Instinktiv packt sie den anderen Arm des Traumatisierten, um ihrem Kollegen zu helfen. Andy jedoch versucht seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Doch das zähe Ringen nimmt ein jähes Ende. Die Kräfte haben ihn verlassen. Widerstandslos lässt er sich nach oben ziehen. Dabei gibt er undefinierbare Laute von sich, die aus dem Urwald stammen könnten - ein sichtbares Zeichen, dass ihm die elementarste Handlungsfähigkeit entglitten ist.
Fast mühelos gelingt es den beiden Andy auf das Sofa zu zerren. Wie von selbst fällt er in die Lehne zurück.

„Der ist total ohnmächtig, er leidet unter einem wahnsinnigen Schock!"
„Sehe ich auch so, antwortet Hungers Assistentin knapp und ergänzt:
„ Sofort muss er ins Krankenhaus - in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie!
Hunger stimmt ihr kopfnickend zu.

Beide mühen sich, Andy aus der Wohnung zu schleppen.
„Was,...was, was macht ihr,...was macht ihr nur mit mir", quetscht er stotternd aus sich heraus.
„Keine Sorge, wir wollen ihnen nur helfen", versucht die Ordnungshüterin Andy zu beruhigen.
Mit Erfolg.
Vielleicht hat die Besonnenheit und das feine Gespür der Bediensteten dazu beigetragen, dass er endlich zur Ruhe kommen konnte. Auch sie kann es nur erahnen.
Dass die beiden Uniformierten Andreas durch's Treppenhaus zerren, bekommt er unterschwellig noch mit. Andreas hat das Gefühl, um ihn herum würde sich alles nur noch drehen.
Beim Weg durch das Treppenhaus - eine Etage tiefer - tuscheln zwei Mitbewohnerinnen dieses viergeschossigen Plattenbaus.
Als sie sehen, wie Andreas von den Polizisten aus seiner Wohnung geschleppt wird, erschrecken beide so sehr, dass sie mächtig zusammenzucken, die Tür sperrangelweit aufreißen und wie im Trance in die Küche flüchten.
Die Reinholds waren im ganzen Haus sehr beliebt, da beide stets zuvorkommend und immer freundlich waren.
Was wird in den Köpfen der beiden Frauen vor sich gehen.
Diese Verzweiflungstat dürften den beiden Frauen mit Sicherheit nicht überhört haben.
Wissen die vielleicht schon was Sache ist?
Anzunehmen ist es. Erst recht, wenn aufgestauter Zorn, aufgestaute Wut, umschlägt in puren Hass, dessen unheilvolles Gemisch eine Explosion heraufbeschwören lässt, deren Knall wahrlich nicht zu überhören ist.
Während der Fahrt in die Klinik bleibt Andreas stumm. Nicht mal ein spärliches Wörtchen entschlüpft ihm - ein untrügliches Zeichen, dass er den Schock immer noch nicht überstanden hat.

Die geschlossene Psychiatrieabteilung des Städtischen Klinikums droht aus allen Nähten zu platzen.
Kein Bett mehr frei!
Andys Gesicht ist kreidebleich. Immer noch verliert er kein Wort, von einem unverständlichem Grummeln mal abgesehen. Teilnahmslos starren seine schläfrig wässrigen Augen durch den langen Gang dieser Klinik, die leider keinen guten Ruf in der Öffentlichkeit genießt, da sie jene Patienten behebergt, die von vielen für verrückt erklärt werden. Menschen, die in unserer gnadenlosen Leistungsgesellschaft keine Lobby haben, Menschen denen anzusehen ist, dass in ihrer Seele zahllose Wunden klaffen, Menschen die den Anschluss an das Leben für immer verpasst zu haben scheinen, glotzen rechtsseitig des Ganges - auf harten Stühlen hockend - stumpfsinnig vor sich hin. Einige versuchen sich mit dem beliebten Gesellschaftsspiel „Mensch ärgere dich nicht" vom grauen Klinikalltag abzulenken.

Der Polizeiobermeister erläutert Herrn Winter, dem diensthabenden Oberarzt sehr ausführlich, wenn auch gewöhnungsbedürftig hektisch, die Gründe dieses schrecklichen Nervenzusammenbruchs und die beleidigenden Worte, die ihm entglitten waren, als er die Kontrolle über sich vollends verloren hatte. Er müht sich um Sachlichkeit, obwohl Oberarzt Freising nicht entgeht, wie sehr die scharf geschnittenen Augen des Polizeibeamten rollen..
Doch Hunger lässt sich nicht entmutigen und bohrt immer wieder nach.
Da fällt ihm seine Assistentin ins Wort:
„ Herr Oberarzt, ich bitte Sie, Herr Reinhold ist völlig durch den Wind, er muss unbedingt zu ihnen in die Station!"
Oberarzt Freising denkt einige Sekunden scharf nach.
„Mal sehen was sich machen lässt. Die Geschlossene ist zwar überfüllt, aber bei den leichteren Fällen ist noch ein Bett frei. Ich kann es nicht ändern. Leider sind auch mir die Hände gebunden, sagt er fast ein wenig entschuldigend. Es ist das alte Lied: zu wenig Personal, kaum freie Betten.
„Glaub's ihnen”, antwortet Frau Fröhlich trocken.

Plötzlich klingelt Hungers Diensthandy.
Eile ist geboten - schon wieder der nächste Verkehrsunfall.
Ein Radfahrer soll einen Fußgänger angefahren und diesen erheblich verletzt haben.

„Manchmal gibt es Tage, da möchte man am liebsten gleich ganz im Bett bleiben - unabwendbares Schicksal eines Polizisten!"
Die Assistentin nickt den Kopf.

Mit einem flüchtigen Händedruck verabschieden sich die Gesetzeshüter vom Oberarzt, aber auch von Andy, der stumm bleibt. Ober- und Unterlippe bilden einen langen Strich..
„Denken Sie, dass ihnen nur hier geholfen werden kann!", ruft die Polizistin ihm hinterher, als sie schon dabei war, sich mit Hunger aus dem Staube zu machen.

Zwei Krankenpfleger schleppen den Verwirrten in das Zimmer fünf der Station G+1.
Einer dieser freundlichen jungen Männer hilft ihm beim Einräumen des Kleiderschrankes und auch beim Ausziehen, wozu er allein immer noch nicht fähig ist.
Nachdem Andy sich ins Bett gerollt hat, knipst der Krankenpfleger das Licht aus und tritt aus dem Krankenzimmer.
Bereits fünf Minuten später - als Andy scheinbar gelangweilt vor sich hin döst - fällt ein breiter Lichtstrahl auf den hellblauen Fußbodenbelag. Doch er merkt noch nicht, dass die Tür sich geöffnet hat.
Eine junge gut aussehende Frau hat den Raum betreten. Geschwungenen Schrittes steuert sie den Nachttisch an, um das Tablett mit den Medikamenten abzulegen.
„Herr Reinhold, ihre Medikamente!"
Ihr Tonfall sehr rau - alles andere als einfühlsam. Eine ruppige Art, die ganz und gar nicht zum Bild dieser Schönen passt, die aber sehr wohl die knallharte Realität, die derzeit in deutschen Krankenhäusern herrscht, wahrhaftig widerspiegelt.
Da Andy nur mit einem kaum wahrnehmbaren Augenaufschlag reagiert, reißt ihn die Schwester gewaltsam nach oben.
Widerwillig setzt er sich auf die Bettkannte.und schluckt die fünf starken Tabletten, die der Oberarzt ihm verordnet hat.
Wortlos - wie ein geölter Blitz - schießt die Schwester aus dem Zimmer. Andere Patienten warten schon ungeduldig auf ihre Abendtabletten.
Das Einschlafen bereitet Andy diesmal keine Mühe. Kein Wunder!
Die starken Beruhigungspillen haben ihn regelrecht zugedröhnt.

Am Frühsport, der am nächsten Morgen wie immer auf dem Programm steht, braucht Andreas noch nicht teilzunehmen. Wäre auch nicht möglich gewesen Auch auf das Frühstück verzichtet er. Selbst dazu fehlt ihm die Kraft - so ausgepowert ist der Unglücksrabe in jener Morgenstunde..
Eine Stunde später wirft die tägliche Visite ihre Schatten voraus. Doch der unfreiwillige Patient spürt nicht mal, dass vor der Tür schon ein ganzes Geschwader aus Ärzten, Krankenschwestern, Krankenpflegern - auch die Sozialberaterin der Klinik ist mit im Bunde - beratschlagt.
Zwei Minuten später klopft es an der Tür, die sich nach einem blitzkleinen Moment bis zum Anschlag öffnet.
Ein Schreck durchfährt seine Knochen und reißt den Ausgebrannten automatisch aus dem Halbschlaf.
Wie eine Spannfeder springt er auf und wirft seinen Hintern auf die Bettkannte.
„Guten Tag! Na wie geht es ihnen, Herr Reinhold!”, fragt der stämmige Chefarzt, während seine gestrengen Augen den neuen Patienten tiefgründig unter die Lupe nehmen.
Auffallend, seine harte energische Stimme, die nicht die geringsten Zweifel aufkommen lässt, dass er in dieser verruchten Klinik das Sagen hat.
Auch die anderen Blicke fallen verächtlich auf Andreas, der immer noch wie ein Häufchen Unglück auf der Bettkante klebt, dessen aufmerksame Augen aber vermuten lassen, dass er ganz allmählich zu begreifen scheint, was sich vor seinem Kopf so alles abspielt.
'S, s, wird schon wer'n, stottert Andy, der einen undefinierbaren Blick in die Runde wirft.
„Sind Sie schon soweit soweit, dass wir noch heute, vielleicht gegen vierzehn Uhr, das Aufnahmegespräch machen?"
Hab' nichts dagegen, antwortet Andy ohne auch nur eine Sekunde zögern zu müssen.
Dieses stimmt den Oberarzt optimistisch. Selbst dem gestrengen Chefarzt gelingt es ein haarkleines Lächeln auf seine Lippen zu legen.
Oberarzt Winter dreht sich um, streckt den Zeigefinger aus und fährt fort:
„Herr Reinhold, ich darf ihnen vorstellen - Frau Martin, die Sozialarbeiterin unserer Klinik. Freiwillig riskiert sie einen Schritt nach vorn, ihr Gesicht macht aber einen auffallend müden Eindruck.
Sie sagt kein Wort- warum sollte sie es auch. Dieses hat der Oberarzt ihr bereits abgenommen.
„Herr Reinhold", sagt Oberarzt Winter weiter; „Mir ist doch bekannt, dass Sie sich in einer verdammt schwierigen Situation befinden.
Frau Martin wäre bereit morgen, gleich nach dem Mittagessen mit ihnen ein Gespräch führen.
Würde es ihnen passen?
„Ich ich, wäre, wäre sehr angenehm, würde mir passen - es muss ja weitergeh'n!”, quetscht er mühsam aus sich heraus, Viel wichtiger ist, dass er wieder Herr seiner Sinne ist - ein gewaltiger, ein nicht zu unterschätzender Fortschritt.
„Sehr gern würde ich ihnen Helfen. Nutzen Sie ihre Chance. Auch ich habe in letzter Zeit viel durchmachen müssen. Alles Andere können wir morgen besprechen", sagt die Frau ihm freundlich ins Gesicht.
„ Find ich" - Andy zögert - „ sehr nett von ihnen!

Bevor die Abordnung gedenkt, den Raum zu verlassen, um sich den anderen Patienten widmen zu können, sagt der Chefarzt:
„Herr Reinhold, ihre Medikamente fahren wir ein wenig herunter, damit Sie nicht mehr so müde sind", sagt der Chefarzt in einem Tonfall, der deutlich moderater klingt.

Andreas kommt allmählich zur Ruhe.
So langsam bekommt er auch wieder Appetit, obwohl der Schweinebraten immer noch schwer in und durch den Magen rutscht.
Anschließend bitten ihn Ober- und Chefarzt zum Aufnahmegespräch.
Auch da sind Fortschritte nicht zu übersehen. Das Stottern ist merklich schwächer geworden.
Oberarzt Winter ist zufrieden - kaum zu glauben, angesichts des Ausmaßes dieser Tragödie, die ein ganzes Leben im Normalfall auf den Kopf stellt.

Am nächsten Tag besucht Andreas erstmalig die Ergotherapie.
Die Aufgabe lautet: Zeichnen Sie ihr Lieblingstier!
Er malt einen Schäferhund. Für Andy nicht einfach. Seine Hände zittern - dennoch sind nach relativ kurzer Zeit erste Konturen zu erkennen.. Versteht sich von selbst, dass er in solch einer Gemütslage nicht fähig sein kann, ein vernissagereifes Werk auf's Papier zu zaubern. Wenigstens ist noch zu erahnen, dass es sich um einen Schäferhund handeln könnte.
Dieses ist aber nur zweitrangig. Viel wichtiger ist, dass er sich der Sache annimmt - und das zählt!

Am Nachmittag des nächsten Tages schleicht sich Frau Schmidt ganz heimlich still und leise in Andys Krankenzimmer.
„Herr Reinhold, es ist soweit. Ich bitte Sie mir zu folgen!
Wir gehen in einen separaten Raum - da können wir in aller Ruhe über alles reden.."
„Nett von ihnen", sagt Andy unter leichtem Herzklopfen.
Spontan geht er auf die Frau zu und reicht ihr zur Begrüßung freundlich die Hand.

Beide gehen durch den langen Gang, der zum Beratungsraum führt.
Frau Schmidt entriegelt das Schloss und öffnet die Tür.
Beide nehmen Platz in dem kleinen spartanisch eingerichteten Raum mit nur einem Tisch.

„Herr Reinhold, ich weiß, dass Sie etwas ganz Schlimmes erleben mussten.
Mir ist es vor drei Monaten ebenso ergangen...”
Frau Schmidt erzählt von ihrem Schicksal. Für Andy nicht einfach zu ertragen.
Seine Knie werden weich - fangen an zu wackeln wie Pudding.
Ihr Mann war erst vor drei Monaten verstorben. Einen langen Leidensweg musste er durchschreiten, denn er war unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt - der Tod für ihn eine Erlösung, für Susanne - so heißt Frau Schmidt - kaum noch zu ertragen.
Daniela - ihrer besten Freundin - hatte Susanne viel zu verdanken.
Vor lauter Verzweiflung hatte die Vierzigjährige den grausigen Gevatter Tod schon ins Auge gefasst.
Die Brücke, von der sie springen wollte, hatte sie sich auch schon ausgesucht.
Hätte Daniela ihr nicht helfend zur Seite gestanden, sei es bei der Hilfe im Haushalt, wenn Einkäufe getätigt werden mussten und nicht zuletzt mit ihren Trost spendenden Worten, die wahre Menschlichkeit und Wärme verströmten - wäre es um sie geschehen.
Und auch ihrem Job hatte sie es zu verdanken, dass sie wenigstens vorübergehend sich etwas ablenken konnte.

Hochemotional - der Klang ihrer Worte. Während sie erzählte blieben Andreas einzelne Tränen nicht verborgen, die aus ihren kristallblauen Augen über ihr blasses Gesicht rollen.

Was ist aus der ehemaligen Frohnatur bloß geworden? Seit ihrem Schicksalsschlag schlummern ihre schönen Augen nur noch glanzlos in tiefen Höhlen - kein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel mehr, von feschen Grübchen, die einst so lustig anzuschauen waren, ganz zu schweigen.

„Herr Reinhold, ich helfe ihnen wo ich nur kann. Ich versuche mal ein gutes Wort beim Chefarzt einlegen, um sie vorübergehend von der Klinik freizustellen.
Auf Sie kommt ja demnächst viel Arbeit zu, schon wenn ich an die Organisation der Beisetzung denke."
„Wirklich sehr nett von ihnen. Ich weiß überhaupt nicht wie ich ihnen danken soll. Mir fehlen einfach die Worte."
„Keine Ursache, sagt Frau Schmidt, mit wohltuend weicher Stimmen.
Susanne legt ihre Hand behutsam auf seine und streichelt diese sanft. Sie wagt sogar ein vorsichtiges Lächeln, als sie ihm in die Augen schaut.
Andy saugt die wohlige Wärme ihrer Hand beruhigend in sich auf.
Er spürt förmlich das Herzblut, welches durch ihre Adern fließt.

In den nächsten Tagen kommt Andreas allmählich zur Ruhe.
Auch der Chefarzt zeigt sich kulant. Von seiner anfänglichen Härte - keine Spur.
Auch Frau Meyer - die behandelnde Psychologin - ist erstaunt, mit welch einer Tapferkeit ihr neuer Patient sein Schicksal erträgt und sogar versucht, es selbst in die Hand zu nehmen.
Jegliche Hilfe wird ihm zuteil.
Die Ärzte haben eine Versetzung in die benachbarte Tagesklinik ins Auge gefasst, da es dort möglich wäre, alles unter einen Hut bringen zu können.

Zu einem emotionalen Höhepunkt gestalten sich die Trauerfeierlichkeiten, auf dem städtischen Waldfriedhof.
Der Raum, indem die Trauerrede stattfindet wird ist schon fünfzehn Minuten vor Beginn der Feier proppenvoll.
Die Rede des Pfarrers berührt Andy so tief, dass dass sein Kopf oft nach unten fällt, sein Blick hin und wieder zwischen den Trauergästen und den liebevoll kreierten Blumenbuketten wandert. Nur selten gelingt es ihm, dem Pfarrer in die Augen zu schauen.
Als der ergreifende Song Time to say goodbye - gesungen von Sarah Brightmann und Andrea Bocelli - erklingt, fließt ein ganzes Meer von Tränen - nicht nur aus Andys Augen.
Diesen Song - passend zu dieser Feierlichkeit - hat Susanne eigens für ihn ausgesucht, denn mit diesem Lied hatte sie auch ihrem Mann die letzte Ehre erwiesen.

Als der Sarg beigesetzt rollen erneut Tränen aus seinen Augen wie bei ihrer zwanzigjährigen Tochter und bei ihrem einundzwanzigjährigen Sohn, die aus Österreich, ihrer neuen Heimat, angereist kamen, auch. Der Arbeit wegen hatte es Sohn und Tochter dorthin verschlagen.
Beide verdienen im Hotel- und Gaststättengewerbe ihre Brötchen.
Tochter Gabriele ist allerdings noch in der Ausbildung.

Wie üblich folgt anschließend ein gemütliches Beisammensein im Ratskeller.
Die Trauergäste, zeigen viel Mitgefühl, viel Verständnis, geizen nicht mit Trost spendenden Worten.
Auch Susanne ist auf kürzestem Wege von der Arbeit gekommmen, um sich dieser Trauergemeinschaft anzuschließen - sie wollte, ja sie konnte Andy, in diesem schmerzlichen Augenblick nicht so einfach im Stich lassen.
Am Abend dieser Feierlichkeit ist an ausreichenden Schlaf wahrlich nicht zu denken.
Er schaltet den Fernseher an, obwohl ihm danach überhaupt nicht zumute ist.
Obwohl er gar nicht so richtig bei der Sache ist, zappt er von einem Kanal zum anderen. Wie im Trance wandelt er im Wohnzimmer auf- und ab.
Schließlich öffnet er das Schubfach mit den Medikamenten und schnappt sich eine Schlaftabletten, die er noch zusätzlich zu den Medikamenten nimmt, die ihn die Tagesklinik verordnet hat.
Anschließend schaltet er den Fernseher aus und geht zu Bett.
Endlos lange wühlt er sich in seinem Kopfkissen.
Nach einer Stunde zeigen die Medikamente endlich Wirkung. Er zwinkert noch ein Weilchen, danach schließen sich seine Auge.

Plötzlich sieht er wieder aufregend schöne Bilder des vergangenen Sommers an ihm vorüberziehen. Hand in Hand, Arm in Arm, wandern Andy und Jaqeline splitternackt an den Ostseedünen Usedoms entlang..
Er haucht ihr zarte Küsschen auf Mund und sagt:
„Meine Jaqueline - es ist so wunderschön mit dir - ich habe dich sooo lieb.
„Ich dich auch, mein lieber Schatz."

Das sollte es aber auch gewesen sein, denn unmittelbar nach ihren Liebesbezeugungen - nach diesen viel zu knappen, nach diesen bewegenden Glücksmomenten - öffnen sich Andys Augen.
Mit fahrigen Bewegungen schreckt er aus dem Schlaf.
„Susanne, wo bist du! Susanne, bitte komm doch zu mir!", halluziniert der Traumwandelnde flehentlich.
Erst einen Tick später ist ihm klar geworden:
Susanne wird er nie mehr wiedersehen - es sei denn auf Fotos oder in einem Traum wie diesem - schaurig schön und doch so schrecklich.

Anfangs versunken in unbeschreiblicher Glückseligkeit und dann eingeholt von der grausig finsteren Realität. Andreas wünscht sich in diesem Moment, dass ihn Jaquelines verliebtes Lächeln nie mehr in seinen Träumen begegnen wird. Die melancholische Bitterkeit, die ihn nach diesem plötzlichen Filmriss, nach dem unerwünschten Öffnen der Augen quält, will sich Andreas nicht länger antun. Nicht nur ihm dürfte es so ergehen. Aber Wunschträume werden leider nur sehr selten wahr.
Schwerwiegende Träume durchfluten dagegen viel zu oft empfindsame Seelen.


Ein knappes Jahr ist vergangen.
Susanne und Andreas haben sich - Gott sei dank - seit ihrem Schicksalsschlag nie aus den Augen verloren. Gemeinsames Leid teilen hatten sich die Leidtragenden ins Stammbuch geschrieben.
Mit fortgeschrittener Zeit gelingt es den beiden immer besser, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Wer auf eine so glückliche Liebe zurückblicken kann wie Andreas und Susanne, dem fällt es natürlich schwer, das Herz eines anderen Menschen zu erobern.
Dennoch sind sich die beiden in den letzten Monaten nicht nur menschlich noch näher gekommen.
Aus Freundschaft ist Liebe geworden - eine wahre Liebe, eine menschliche Liebe, die nicht ausschließlich auf intime Zweisamkeit fixiert ist, eine Liebe in der die inneren Werte an erster Stelle stehen.
Eine neue Liebe braucht auch auch noch etwas Zeit. Diese gönnen sich die beiden.
Da gibt es doch noch dieses alte deutsche Sprichwort:
Was lange währt wird gut!
 
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Kommentare  

Hallo Michael,
tolle zu Herzen gehende Story. Bemerkenswert ist auch, dass du so echt die Gefühle, der scheinbar so rauen, "Bullen" beschreiben kannst. Sie verhindern mit ihrem großartigen Einsatz eine Katatrophe. Sehr gelungen.


Petra (06.12.2009)

Erst fängst du ganz gemütlich und humoristisch an, aber dann legst du mit dieser Traurig richtig los. Man kann Andreas völlig verstehen. Kein Mensch ist ersetzbar, aber andere können trösten und das Herz eines Menschen ist groß. Er kann, wenn er will, viele darin aufnehmen.

doska (06.12.2009)

Hochdramatische Geschichte. Lohnenswert sie zu lesen, denn jeder Mensch dürfte Mal mit dem Thema "Tod" konfrontiert werden. Schön auch, dass die Psychiatrie hier mal nicht wie in Schreckgespenst beschrieben wird.

Jochen (06.12.2009)

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