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3 Seiten

Herbst

Kurzgeschichten · Herbst/Halloween · Romantisches
Herbst
Es war Anfang November und das bunte Laub lag dick und raschelnd auf den Wegen. Es raschelte bei jedem meiner Schritte. Manchmal, nach einer Regennacht, klebte es an den Schuhen und ich trug es mit ins Haus.
Aber an diesem Tag raschelte es und sprach mit mir. Fast wäre ich auf ihn getreten, hätte er mich nicht mit seinen grünen Augen angesehen. Er lächelte unter einem Ahornblatt hervor, es war orange-rot verfärbt, deshalb wollte ich es aufheben, zwischen den Seiten eines dicken Buches pressen, um es zu bewahren.
Und da sah ich seine lächelnden grünen Augen. Es war ein November Nachmittag, an dem ich meinen Spaziergang machte und ihn traf. Er lächelte, klopfte sich die Blätter ab und wir gingen ein Stück gemeinsam. Zu Beginn erzählte er sehr viel von sich, aber ich erfuhr nicht sofort, wo er wohnte, wie er sich die Zeit vertrieb, aber ich wusste sofort, dass er jemand besonderes war. Er konnte auf jeden Menschen zugehen und sofort mochten ihn alle. Er gab allen das Gefühl, willkommen zu sein, er interessierte sich im Supermarkt, wo die dunkelhaarige Kassiererin mit dem starken Akzent herkam, er ließ sich an der Tankstelle die Lebensgeschichte des Tankwartes erzählen. Und er hörte immer zu.
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag und er verschwand. Erst zu Hause dachte ich „Was war das denn jetzt?“ und zog meinen Mantel und die Stiefel aus. Einen Augenblick später zog ich sie wieder an, lief zurück an die Stelle, wo ich ihn getroffen hatte, suchte das Ahornblatt und nahm es mit nach Hause.
Am nächsten Tag war er pünktlich an der verabredeten Stelle und wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Nein, er wollte nicht ins Kino gehen, er würde dort nur einschlafen, aber er lud mich in ein Restaurant ein und wir saßen dort sehr lange und redeten. Längst lagen unsere Hände auf der Tischdecke erst neben- dann ineinander. Schmale kleine Hände. Er hatte ein indisches Restaurant ausgesucht und erzählte, dass er einige Male in Indien und in Birma gewesen sei.
Alle Menschen sollten Buddhisten sein, sagte er, dann wäre das Leben sehr viel einfacher.
Mein Leben schien wie aus den Angeln gehoben. Vorher war ich nicht unglücklich, aber nun war ich überglücklich. Es schien, als seien die Farben farbiger, die Gespräche zwischen uns intensiver, das Blut rauschte schneller und heißer in mir. Jede Bewegung und jede Berührung wurde zu etwas einzigartigem. Wir verbrachten jede Minute gemeinsam, aber wir zogen nicht zusammen. Nachts rief er mich an, ich rief ihn früh morgens an, wir plauschten am Telefon, wenn wir uns nicht sahen. War er unterwegs, rief er mich vor dem Schlafengehen an. Manchmal murmelte er nur noch ganz leise, weil er schon halb schlief, während er telefonierte.
Nie war er wütend, aber immer voller Emotionen. Ich war mein halbes Leben lang wütend, sagte er, und ich habe eines Tages beschlossen, damit aufzuhören, wütend zu sein.
Wir tauschten unsere Lieblingsbücher aus, fanden heraus, dass wir die selbe Musik mochten und als wir das erste Mal gemeinsam frühstückten, wunderte ich mich, wie er so viel Essen in sich rein bekam. Ab und zu verwandelte er sich in einen hyperaktiven Terrier und fragte später, ob er „zu enthusiastisch“ gewesen sei. Wir hatten einen Sex-Marathon nach dem anderen, aber wir bekamen nie genug voneinander.
Der Herbst zog an uns vorüber, der Winter kam und ich dachte daran, mit ihm in ein gemeinsames Haus zu ziehen, aber ich sprach es nie an. Weshalb nicht? Ich weiß es nicht. Ich wollte das, was wir in der Gegenwart hatten, nicht mit Plänen zerstören. Er war niemand, der viele Pläne machte. Das meiste ließ er auf sich zukommen und damit kam er sehr gut zurecht. Und als hätte ich es geahnt, genoss ich jede Sekunde mit ihm. Alles ist vergänglich. Nichts können wir festhalten.
Er fuhr einen alten roten Mini. Ein kleines Auto für einen kleinen Mann. Er konnte sehr gut fahren, hatte einen implantierten Navigator. „Ich bin der Sonne gefolgt“, sagte er, wenn er ohne Straßenkarten unterwegs gewesen war und den Zielort punktgenau gefunden hatte. In seinem Mini roch es immer ein wenig nach Fernost.
Meine Katzen liebten ihn ebenso wie ich ihn liebte. Saßen sie neben ihm auf der Couch, dösten sie zu dritt ein und ich saß daneben und bekam nicht genug davon, sie zu beobachten.
Er lief täglich eine Stunde im Wald oder er verschwand unter dem Schnee, wo er heimlich Dinge tat, die niemand sehen sollte. Ich werde niemals lügen, sagte er, und deshalb stellte ich ihm die Frage nicht, was er unter dem Herbstlaub getan hatte und was er unter dem Schnee tat.
In Alaska habe es sehr viel Schnee gegeben, sehr viel mehr als hier, aber er sei nur ein Jahr lang in Alaska gewesen. Das sei nur noch eine Erinnerung an ein früheres Leben.
Ein Jahr lang waren wir zusammen. Ein Jahr wie ein in sich geschlossenes Leben, ein Leben zu zweit. Nach dem Frühling und einem langen Sommer kam der Herbst zurück, mit ihm die bunten Blätter, die als sterbendes Laub auf dem Waldboden lagen und er sagte eines Tages, dass er gehen würde. Er wolle mich nicht verlieren, aber er würde gehen. Und weil ich von ihm gelernt hatte, was Liebe ist, was Liebe immer noch ist, habe ich ihn gehen lassen.
Er huschte zurück unter das bunte Laub, seine grünen Augen blitzten und – er verschwand.
 
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Kommentare  

Unterm Laub findet man so einiges - Mitunter Dinge, die man dort nie vermuten würde. Vielleicht ist es gut das diese Geschichte kein Happy End hat, sie wäre sonst nicht das was sie ist - Lebensnah.

Killing Joke (23.11.2009)

Nicht nur eine sehr romantische, auch eine sehr emotionale Liebesgeschichte. Sehr gelungen - obwohl der Ausgang kein Happy-End hat. In dieser Geschichte kommt aber auch eindrucksvoll zum Ausdruck, dass Liebe im Inneren, auch nach einer Trennung, fortbestehen kann - nicht selten lastet ein schmerzlicher Leidensdruck auf den Betroffenen.

Michael Brushwood (27.10.2009)

Oh, das gefällt mir aber auch. Zärtlich romantische Liebesgeschichte mitten im Herbstlaub. Könnt`man glatt mehr von lesen.

Petra (13.10.2009)

Wunderschön gefühlvoll. Liebe ist dann am schönsten, wenn sie ohne Anspruch ist und einfach nur gegeben und empfangen wird. Liebe ist etwas, was tief im Herzen ist und niemals verloren geht.
LG


CC Huber (13.10.2009)

Danke nochmals. ;0)
Aber wisst ihr, was ich am feuchten Laub ganz besonders gut finde? Dass die japanischen Frauen ihre pensionierten Männer so nennen - wenn die Arbeitstiere mit einmal den ganzen Tag bei ihnen zu Hause sitzen und ihnen auf den Geist gehen - feuchtes Laub - klebt einem am Bein und ist zu nix gut.
Domo arigato! ;0)


Pia Dublin (12.10.2009)

Verträumt und irgendwie zart ist diese Liebe. Da muss ich Doska recht geben. Und man riecht förmlich das frisch gefallene, feuchte Laub in deiner Geschichte.

Jochen (12.10.2009)

Ich kann mich nur Jürgen und Rosmarin anschließen. Das ist wirklich eine besonders außergewöhnliche Herbstliebesgeschichte. Voller Leben und voller bunter Blätter, die ebenso Knistern wie die zarte Erotik in deiner Geschichte.

doska (12.10.2009)

eine sehr poetische geschichte. ja, die liebe ist wie ein schmetterling, kommt und geht, nascht hier von einer blüte, dort von der nächsten. wir können sie nicht halten. aber wir können jede stunde mit ihr genießen. sie ist einfach da. sie ist ein geschenk, das wir jederzeit wieder hervor holen können. eine wirklich schöne kleine geschichte.
gruß von


rosmarin (11.10.2009)

;0) Danke! ;0)
Ich habe mich extra gebremst bei dieser kurzen Herbst-Geschichte, aus privaten Gründen. Ich mochte einfach nur das Bild vom bunten Laub auf dem Boden als Metapher. Eigentlich besteht die ganze kurze Geschichte nur aus Metaphern.
Liebe Grüße Dubliner Tinte


Pia Dublin (11.10.2009)

Wirklich eine GUTE kleine Geschichte,die mich
sehr fasziniert hat,hätte auch ruhig ein klein bischen länger sein können.
Also bei diesen TOLLEN Schreibern hier von
Hobbyliteraten zu sprechen,ist ja wohl ein bischen falsch ODER ???
Diese Dame hier sollte so schnell wie möglich mal ein BUCH veröffentlichen,vieleicht kann ich ja helfen...
beste grüße Duluoz


Jürgen Hellweg (11.10.2009)

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