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4 Seiten

Der Vermummte/erotische Geschichte 8

Schauriges · Kurzgeschichten
© rosmarin
Gleich in der Früh, nach dem kurzen Schlaf, wusste Lisa: Heute würde es geschehen. Heute.

Es war ein trüber Herbsttag. Regenverhangen und grau. Keinen Hund würde man bei diesem Wetter auf die Straße jagen. Sie aber ging freiwillig. Ruhelos trieb es sie noch einmal, ein letztes Mal, in diese Novemberriesenstadt.
Traurig schaute sie in den Nieselhimmel, spazierte gedankenverloren am Spreeufer entlang, blieb manchmal auf einer Brücke stehen, beugte sich über das Geländer, starrte in das dunkle Wasser.
Spukhaft spiegelten sich die noch nicht ausgeschalteten, verschnörkelten Straßenlaternen darin.
Wie kleine Kobolde.
Wie liebte sie diese undurchsichtigen Tage. Diese Grenze zwischen Hell und Dunkel. Gut und Böse. Gedeih und Verderb. Leben und Tod. Sie liebte sie. Und an diesem Tag liebte sie sie besonders.

Wann würde sie überschritten werden. Wann.
Die Grenze zwischen Realität und Wahnsinn. Wann.

Schnell lief sie weiter, achtete nicht auf den Regen, nahm nicht wahr, dass sie zitterte, fror, hatte nur ein Ziel. Die Kirche. Die herrliche Kirche im Gotikstil. Die Kirche mit der Wendeltreppe. Den Ort, an dem alles begann, alles enden wird.

Wendeltreppen hatten sie von je her fasziniert. Schon als Kind ist sie auf jeden Kirchturm, der eine Wendeltreppe hatte, gestiegen; unzählige, verbeulte, ausgetretene Stufen versprachen Abenteuer, Erlebnisse, die nur ihr allein beschieden sein würden.
Die Wendeltreppe ihrer Lieblingskirche schlängelte sich wie ein Wurm, höher, höher, immer noch höher. Vielleicht in den Himmel. Die Sonne. Den Mond.
Je nach Laune führte sie die Treppe in ein verstecktes Kämmerlein, ein gruseliges Verlies, einen anderen Weg. Wie viele Füße hatten diese Abdrücke hinterlassen, wem mögen sie wohl gehört haben.

Mutig setzte sie einen kleinen Fuß vor den anderen, gelangte endlich zu der Öffnung im hohen Turm, lauschte atemlos dem lauten Klopfen ihres Herzens, schaute aus einem winzigen in groben Stein gehauenen Guckloch hinab auf die Erde.
Unwirklich schien sie ihr, wie ein bunter Teppich, ein Märchenland, das sich da unter ihr ausbreitete.
Doch sie wollte in den Himmel, verließ den Weg, stieg und stieg, höher und höher, bis sie sich zwischen Himmel und Erde auf der gefährlichen Brüstung unter dem Turm befand.
Glücklich hielt sie ihr kleines, erhitztes Gesicht den Wolken entgegen, der Sonne, dem Wind.
„Ich bin frei!“, jubelte sie. „Frei! Frei!“
Und wie zum Einverständnis brauste der Wind um ihre Ohren.
Weit breitete sie ihre kleinen Arme aus, streckte sie dem unendlichen Himmel entgegen, hatte das unwiderstehliche Gefühl, fliegen zu müssen. Fliegen zu können. Wie ein Vogel. In den Himmel. Die Sonne. Den Mond.
„Ja!“, schrie sie. „Das wäre die größte Freiheit.“
Doch leider hatte sie keine Flügel.
„Dann sollen mir welche wachsen“, verlangte sie eines Tages.

„Es soll geschehen.“
Erschreckt zuckte sie zusammen. Sie war nicht allein. ER stand plötzlich vor ihr. ER. Der Unbekannte. Geheimnisvolle. Der Vermummte.
Verwundert und ohne eine Spur Angst schaute sie zu dem Fremden auf.
„Ich werde dich das Fliegen lehren“, sagte er mit seltsam leiser Stimme. „Möchtest du?“
Sie nickte stumm, der Vermummte nahm ihre Hand.
Langsam stiegen sie die wenigen Stufen hinauf zu dem Turm.
Ihr Herz klopfte laut. Bis hierhin hatte sie sich nie gewagt. Nie. Und jetzt geschah es. An der Hand des Fremden.

Der Vermummte holte einen großen Schlüssel aus der Tasche seines weiten, schwarzen Umhangs, steckte ihn vorsichtig in das Schloss, drehte ihn zweimal nach rechts, drückte auf die geschmiedete Klinke. Leise knarrend öffnete sich die Tür.
Der Mann schob sie in einen runden Raum.
Betörender Duft von Weihrauch nahm ihr fast den Atem.
Das mit einem bunten Seidentuch bedeckte Tischchen gleich neben der niedrigen Tür war überladen mit unzähligen Duftölen, Seifen, Kerzen, Wässerchen, exotischen Steinen, Ketten, Armbändern, Kreuzen und anderen geheimnisvollen Dingen.
Alles glänzte, glitzerte, strahlte in magischer Schönheit.
„Mein Heiligtum." Der Mann zog sie fest an sich. „Möchtest du etwas trinken?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, schritt der Fremde zu dem Tischchen, goss eine rote Flüssigkeit in ein bereitstehendes Gefäß, einen antiken Zinnbecher mit verschnörkelten Elementen, führte es an ihre Lippen. „Trink“, forderte er sie auf. „Es wird dich in eine wundersame Welt versetzen.“
Schon nach den ersten Schlucken fühlte sie sich leicht und beschwingt und lächelte den Mann erwartungsvoll an.
„Du bist jetzt ein junges Mädchen“, flüsterte er erregt. „Es ist Zeit, dass ich dich einweihe in das Geheimnis meines Mysteriums.“ Langsam knöpfte er ihre leichte Sommerbluse auf. Ihre jungen Brüste lagen fest und bloß in seinen Händen. „Es birgt die abgründigen Geheimnisse aller Geschöpfe“, sprach er leise, wie beschwörend, weiter. „Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, ihr eigenes Geheimnis, ihre Zukunft zu erahnen. Ich bin auserkoren, dir dabei zu helfen. Komm.“

Sie hatte keine Zeit, über diese rätselhaften Worte nachzudenken; sie folgte, beeindruckt vom Klang der warmen, verhalten flüsternden Stimme, dem erregenden, unbekannten Gefühl der zärtlichen Hände auf ihren Brüsten, willig dem Vermummten. Er konnte kein böser Mensch sein. Das fühlte sie.
Sie gingen tiefer in das Zimmer hinein. Orientalische Teppiche schmückten die runden Wände des orakelhaften Raumes. Ein Fenster war nicht zu erkennen. Das diffuse, warme Licht verbreiteten die Altarkerzen auf dem Boden. Zwischen ihnen lagen, wie zufällig verstreut, eine Unmenge bunter, weicher Kissen aus kostbaren Stoffen. Von irgendwoher ertönte leise morgenländische Musik. Und noch immer roch es berückend nach Weihrauch.
Wie verzaubert ließ sie sich auf die Kissen ziehen. Was würde geschehen. Ein Wunder. Unheimliches. Außergewöhnliches. Phantastisches. Mehr noch als bisher. Verborgen in diesem delphischen All?
„Bist du bereit?“ Der Mann blickte mit seinen Glutaugen hinter der Maske tief in ihre hellen, blauen Augen. „Weißt du, was geschehen wird?“
Wieder nickte sie stumm. Sie war ja kein Kind mehr, hatte es erwartet. Aber wohl nicht so. Von ihm. Dem Fremden. Plötzlich fühlte sie sich magisch hingezogen zu dem Mann, schmiegte ihren weichen Körper fest an seinen, hielt ihm ihr Gesicht entgegen.
„Wie schön du bist.“ Der Mann streichelte zärtlich über ihre langen, blonden Haare. „Eine wunderschöne Rose, die sich nur für mich öffnen wird.“
Die Hände des Mannes wanderten über ihr Gesicht, seine Lippen folgten, berührten ihre, saugten sich fest, während seine Hände abwärts streichelten, sanft ihre Schenkel öffneten.
Sie seufzte, stöhnte, wimmerte, schrie auf, als der Mann in sie drang. Doch bald schon wich der Schmerz einem ekstatischen Lustgefühl. Die Welt war draußen. Die Leidenschaft nahm Besitz von ihrem Sein.
„Zeig mir dein Gesicht“, bat sie später, als sie erschöpft und glücklich nebeneinander lagen.
„Nein. Ich kann nicht. Bitte mich nie wieder darum“, sagte der Mann kaum hörbar. „Es wäre unser Ende.“

*

„Zehn Jahre ging das. Zehn Jahre.“
Lisa merkte nicht, dass sie laut sprach, der Regen sie ganz durchnässt hatte, sie immer schneller lief.
Alles war zu Ende. Alles. Mit dieser Schmach konnte sie nicht leben. Niemals! Wieder sah sie die Szene vor sich. Die Bilder, die sie in den letzten Tagen weder wachen noch schlafen ließen.

Sie war zu ihm geeilt, die 534 Stufen, hinein in den Turm, in dem der Vermummte, der schon längst kein Fremder mehr war, sie ungeduldig erwartete.
„Auf unser Jubiläum.“
Er reichte ihr das Getränk, wie beim ersten Mal, trank selbst jedoch noch immer nichts.
Unter dem Kleid war sie nackt, wie er unter seinem Umhang. Verrückt nacheinander, sanken sie auf die seidigen Kissen, verbissen sich ineinander, lachten, stöhnten, schrieen.
Plötzlich riss sie dem Mann in ihrer Ekstase die Seidenmaske vom Gesicht, erstarrte, sprang dann entsetzt auf.
„Vater! Du?“
Voll Panik rannte sie die Treppen hinab, versteckte sich tage - und nächtelang in den Katakomben unter der Kirche, grübelte.

Es regnete noch immer. Lisa stand vor der Kirche, schaute sich gehetzt um. Kein Mensch war zu sehen. Eilig stieg sie die vielen Stufen hinauf, stand auf der Brüstung, kletterte über das nicht sehr hohe Gitter, breitete die Arme aus.

„Ja, Vater!“, schrie sie in den trüben Himmel. „Du hast mich das Fliegen gelehrt!“

***
 
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Kommentare  

hallo, ingrid und doska, danke euch.
@doska - du hast recht, ich hätte die geschichte auch ausführlicher schreiben können, aber es gibt mehrere möglichkeiten. angedeutet habe ich die seltsam leise stimme, das flüstern. vielleicht ist lisa ja ein uneheliches kind, das den vater nur selten gesehen hat. aber es kommt noch schlimmer. der vater ist pfarrer in der kirche und hat sich dort im turm sein domizil geschaffen.
grüß euch


rosmarin (16.01.2010)

Tieftraurig, oh, jeh. Es ist allerdings auch ein Text der Fragen aufwirft. Man fragt sich, wie alt dieses Mädchen ist, weshalb ihr seine Stimme und einiges andere auch im Laufe der Jahre nicht vertraut vorkam. Ansonsten wunderschöner Schreibstil. Gute Geschichte mit einer überraschenden Pointe. Sehr gelungen.

doska (15.01.2010)

eine wunderbare geschichte, fängt so gut an mit dem mysterium, den abgründigen geheimnissen aller geschöpfe, und dann stellt sich raus, dass...
nee, ich sag natürlich nichts. ;)
lieben gruß von mir


Ingrid Alias I (15.01.2010)

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