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11 Seiten

Rocking Chairs - Teil 18

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Tintentod
18
Sidney holte Rick vom Krankenhaus ab, obwohl er sicher einen Weg nach Hause gefunden hätte. Sophies Vater hatte seine Gründe, ihn abzuholen und die halbe Stunde allein im Auto mit ihm zu nutzen, bevor sie wieder zu Hause waren.
„Wie sieht es aus?“ fragte Sidney, kaum, dass Rick neben ihm im Auto saß, „werdet ihr heiraten?“
So begann die lange hinausgeschobene Unterhaltung mit Sophies Vater, der die ganze Zeit etwas ahnte, ein wenig mehr vermutete, als er hörte, dass ein ehemaliger Polizist aus New York so etwas wie ein väterlicher Freund für Rick war, und nach der Geburt des Babys wissen wollte, was los war. Sie alle wussten, dass Sophie vielleicht noch Wochen in Blue Hill bleiben würde, dann entscheiden würde, was sie mitnahm und was nicht. Sie würde nach Monhegan Island gehen, mit Rick Scanlon, der die meiste Zeit ein netter Kerl zu sein schien, aber bei dem man sich nie sicher sein konnte. Sobald sie das Haus verlassen hatten, würde sich vermutlich keine Gelegenheit mehr ergeben, um einige Dinge zu klären.
Rick machte nur einen einzigen Versuch, um diese Unterhaltung herumzukommen. Er sagte: „Wir sollten dicke Zigarren rauchen auf die Geburt eines Sohnes, der den Namen deines Vaters trägt.“
Undeutlich erinnerte er sich an die irische Tradition, den Neugeborenen die Namen des Großvaters und der Großmütter zu geben, weshalb sich die irischen Namen endlos zu wiederholen schienen. Sophie hatte ihm den Namen ihres Großvaters genannt und er war damit mehr als einverstanden gewesen. Sidney legte den Kopf schief, schaltete den Blinker rechts und fuhr auf die Einfahrt eines Farben-und Tapetengeschäftes, wo er den Motor ausschaltete.
„Ich vermute, dass ihr darüber gesprochen habt. Über eine Heirat. Ich rede nicht davon, dass wir eine große Feier möchten, zu der die gesamte Stadt eingeladen wird, ich rede auch nicht davon, deine Familie kennenzulernen. Wovon ich spreche und eine ehrliche Antwort von dir haben möchte ist Folgendes. Werdet ihr heiraten und eine altmodische Familie werden? Das ist es, was Kinder brauchen, egal, was die Leute heutzutage davon halten. Kinder brauchen Sicherheit und Geborgenheit und beides ist nur ein anderes Wort für Familie.“
Rick saß neben ihm in dem alten Familienauto, das immer ein wenig nach Essig, Holz und Leder roch, hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben, sah während dieser Ansprache mit konzentriertem Gesichtsausdruck durch die Windschutzscheibe. Als Sophies Vater verstummte, das letzte Wort „Familie“ noch immer in der Luft hing, seufzte Rick und streckte ihm seine rechte Hand entgegen. Sie war zur Faust geballt, die geschlossenen Finger nach unten, nicht wirklich sauber, aber unter den Umständen war das verständlich, und Sidney wartete interessiert darauf, was passieren würde. Rick drehte die Faust und öffnete die Finger. Auf seiner Handfläche lag eine kleine Plastiktüte mit Zippverschluss, gerade so groß, dass sie in seine Handfläche passte. Sidney glaubte eine kurze Sekunde an das Zeug, das Sophie in Ricks Jacke gefunden und den Streit ausgelöst hatte, er wusste, dass es für gewöhnlich in solchen wiederverschließbaren Tüten transportiert wurde, aber in dem kleinen Tütchen war kein Krümelkraut. Er glaubte es zu sehen, aber er blinzelte und korrigierte sich. Es waren zwei Ringe.
„Von meinem Bruder“, sagte Rick, „keine Ahnung, wo er sie herhat, vielleicht sind sie aus der Familie oder er hat sie günstig irgendwo gekauft. Ich trage sie schon eine Weile mit mir herum und hab auf den perfekten Moment gewartet. Hat man mir wohl nicht angesehen, was ich vorhatte.“
Sidney erwiderte, er habe sein Pokerface perfekt aufrecht erhalten und sie grinsten.
„Du wirst den richtigen Augenblick schon finden“, sagte Sidney, „für mich scheint der Augenblick auch richtig, dich nach ein paar anderen Dingen zu fragen. Und ich hoffe, dass du mich nicht anlügst.“
Rick log nur in dem Sinne, dass er einige Dinge ausließ. Er erzählte, wie er Dom kennengelernt hatte und weshalb er ständig in Schwierigkeiten war. Er erzählte von seinen alten Freunden, von den Zeiten, die sie gemeinsam unterwegs gewesen waren. Er erzählte kein einziges Wort von Mascot, jedenfalls erwähnte er dessen Namen nicht, und er schnitt das Thema Familie nur sehr kurz an. Je länger er erzählte und Sidney neben ihm saß und einfach zuhörte, umso mehr schien es, als würde er zu sich selbst sprechen.
„Ich bin von zu Hause abgehauen, während mein Bruder in der Army war. War das Beste, was ich tun konnte. Wir haben keinen Kontakt mehr, haben es einmal versucht vor ein paar Jahren und es war eine Katastrophe.“
Er ließ gnädigerweise aus, wie dieses Zusammentreffen zustande gekommen war und Sidney gab sich mit der Erklärung, es sei eine Katastrophe gewesen, zufrieden. Möglicherweise glaubte er an eine dramatisierte Umschreibung der Situation und Rick würde ihm freiwillig nicht verraten, was in Ft. Lauderdale passiert war.
Er versuchte zu erklären, weshalb sein Leben so schief gelaufen war und weshalb Sophie es geschafft hatte, es zu ändern. Es war nicht so, als hätte er nie gewusst, dass es falsch war, was er tat – er hatte nur nie etwas dagegen tun können. Sein Leben war eine einzige Kettenreaktion gewesen, eine Aktion forderte die Nächste und die Nächste und es gab nichts, was er hätte dagegen tun können.
Was er ebenfalls nicht erzählte, war die Tatsache, dass er mit neunzehn im Knast gelandet war und weshalb. Das war etwas, an was er nie gerne zurückdachte und es war nur inzwischen nur noch eine verschwommene Erinnerung in seinem Hinterkopf.
Sidney berührte in einer nachdenklichen Geste seine linke Augenbraue, rieb die Spitze des Zeigefingers hin und her, fragte schließlich, wie viel Sophie von diesen Dingen wusste.
„Von dem alten Scheiß hab ich ihr alles erzählt“, sagte Rick, „die anderen Sachen hat sie, naja, mitbekommen.“
Sie weiß mehr, als sie jemals zugeben wird, setzte er in Gedanken hinzu.
Sidney legte in einer plötzlichen Bewegung die Hand zurück aufs Lenkrad, schlug fast darauf und Rick zuckte leicht zusammen. Die ganze Zeit, während er erzählt hatte, hatte er die kleine Tüte mit den goldenen Eheringen von einer Hand in die andere wandern lassen, jetzt ließ er sie zurück in seine Tasche verschwinden. Er sah Sophies Vater mit kritischem Gesichtsausdruck an und wartete.
„Du wirst dir Mühe geben“, sagte Sidney schließlich, „du wirst die Chance nutzen, die Sophie dir gegeben hat. Du weißt, dass sie dich hätte zum Teufel schicken können. Ich werde Martha nichts von dem erzählen, das ist etwas, was sie nicht wissen muss. Und ich hoffe, du weißt, was ich mit dir anstellen werde, wenn du irgendetwas tust, was meine Tochter und meinen Enkel in Gefahr bringt. Ich setze mal voraus, dass du schlau genug bist, um zu wissen, was ich meine.“
Bevor er sich selbst stoppen konnte, erwiderte Rick: „Shit fucking hell, als ich dich das erste Mal gesehen hab, hattest du einen Hammer in der Hand und ich habe gedacht, wenn ich einen falschen Schritt mache, zertrümmert der mir erst die Kniescheiben und dann den Schädel.“
Sidney grinste, als habe er in eine Zitrone gebissen.




Sophie verließ das Krankenhaus fünf Tage später, trug den kleinen Ben in einer Babytragetasche in den Nova, den Rick vor dem Krankenhaus geparkt hatte. Sie setzte sich nach hinten, schnallte die Tagetasche neben sich fest und setzte sich vorsichtig zurecht. Dort, wo sie gerissen und genäht worden war, war es noch immer wund, aber es wurde von Tag zu Tag besser. Dr. Walden hatte gemeint, dass Risse besser heilten als Schnitte und in ein paar Wochen würde sie nichts mehr davon merken.
Bereits am ersten Tag zu Hause waren die Wundschmerzen nicht mehr das, was im Mittelpunkt stand. Ben schlief etwa zwei Stunden in der Nacht, wachte dann mit einem Mordshunger oder Langeweile auf und schrie das Haus zusammen. Sophie hatte sich fest vorgenommen, nicht wütend darüber zu werden, denn sie hatte auf der Station eine Frau kennengelernt, die überglücklich gewesen wäre, könnte ihre kleine Tochter solche Töne von sich geben. Die kleine Nora war mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen und hatte kaum genug Kraft, die Milch zu trinken. Ihr standen schwere Operationen bevor, wenn sie die ersten Monate überlebte.
Ben hatte sein kleines Himmelbett in ihrem Zimmer und sie war schnell aus dem Bett, setzte sich in den Sessel ans Fenster und legte ihn erst an die rechte, dann an die linke Brust, wechselte seine Windel und legte ihn in sein Bettchen zurück. Rick wachte ebenfalls auf, drehte sich nur einmal auf die andere Seite und schlief weiter.
Für die nächsten zwei Stunden.
In der zweiten Nacht fanden sie heraus, dass Ben nach einer nächtlichen Mahlzeit erst nach vier bis fünf Stunden aufwachte und schrie, wenn Rick ihn im Arm hielt oder ihn sich in Bauchlage auf seine Brust legte. Wenn Sophie es versuchte, funktionierte es nicht.
„Zu nahe am Futtertrog“, sagte Rick und zuckte mit den Schultern.
Er übernahm es, Ben nach seiner Mahlzeit herumzutragen und das Baby schlief zufrieden in seinem Arm. Ab und zu wachte er auf, blinzelte Rick entgegen, zeigte ein kleines Engelslächeln und schlief weiter. Rick fand es nicht ungewöhnlich, er kannte keine anderen Babys und dachte, es sei immer so.
Als Ben vier Wochen alt war, setzte Rick sich mit ihm in einer Vollmondnacht ans Fenster, war tief in die Polster des alten Sessels gerutscht, legte das schlafende Baby in die leichte Furche zwischen Brust und Oberarm. Ben war noch immer so klein, dass er nicht herunterfallen würde, selbst, wenn Rick einschlief. Was schließlich auch passierte, nachdem er eine Weile den süßen Babygeruch eingeatmet hatte. Er wachte auf, als Ben kleine Geräusche von sich gab.
„Guu“, machte Ben, das Geräusch war begleitet von einem Giggeln und quietschendem Ton und seine winzigen Finger bewegten sich auf Ricks T-Shirt. Rick öffnete die Augen, sah aus dem Fenster und in die dunkelblaue Landschaft des Gartens und des Meeres dahinter, alles beleuchtet von dem Vollmond, der sich gerade durch die Wolken schob. Sophie hatte erklärt, dass Babys in dem Alter noch nicht viel sehen konnten, hell, dunkel, undeutliche Schatten und Bewegungen, mehr nicht. Aber Rick war sicher, dass Ben die Gestalt am Fenster genau sehen konnte. Er selbst erschrak schon lange nicht mehr, wenn er aufwachte und Mascot undeutlich im Augenwinkel sah oder als Schatten in einer schlecht beleuchteten Ecke entdeckte.
„Die alte Rothaut passt auf dich auf, wenn ich mal nicht in der Nähe bin“, flüsterte Rick in das winzige Babyohr und wieder giggelte Ben. Rick ließ Mascots Erscheinung nicht aus den Augen, bis sich eine Wolke vor den Mond schob, das weiche Licht verschwand, und er nicht mehr zu sehen war.

Aber eigentlich passten alle auf Ben auf, wenn Rick oder Sophie nicht in der Nähe waren. Carlos lag im Eingang zu Sophies Zimmer, die Schnauze auf den Pfoten und schien zu schlafen, aber er spitzte jedes Mal die Ohren und horchte konzentriert, sobald Ben auch nur einen seltsamen Laut von sich gab. Martha war ebenfalls ständig in seiner Nähe, konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen, um ihn nicht dauernd herumzutragen.
Sophie wusste die Hilfe und ständige Aufmerksamkeit zu schätzen, aber sie konnte es sehr deutlich sehen, wo es enden würde, wenn sie jetzt nicht auf die Insel verschwanden.
Während Rick einen Zug durch die Gemeinde machte, um sich zu verabschieden, packte sie Kartons mit Babysachen und eigener Kleidung, stopfte Bettwäsche und Decken in Plastiktüten, sortierte ihre hochhackigen Schuhe aus, die sie Candy schenkte.
Sophie nahm Abschied von ihrer Familie, als würde sie nur für ein langes Wochenende verschwinden, abgesehen von dem vollgepackten Chevy Nova. Rick würde mit der Shadow hinter ihr herfahren und spätestens beim ersten Stop vorschlagen, das Baby vor sich auf die Maschine zu setzen.
Kurz bevor sie losfuhren, hatte Sophie beobachtet, wie ihr Vater Rick beiseite genommen und mit ihm gesprochen hatte, eine Hand locker auf Ricks Schulter gelegt. Rick erwiderte ein paar Worte und nickte.
Rick erfüllte sein Versprechen auf der Fähre, als Monhegan in der klaren heißen Luft des Sommers in Sicht kam. Sophie saß mit Baby Ben auf dem Arm und Carlos zu ihren Füßen in der Kabine, hatte sich mit einer der Inselfrauen unterhalten, bis diese für eine schnelle Zigarette nach draußen aufs Deck gegangen war. Rick setzte sich neben sie und sagte: „Gib mir mal deine Hand.“
Die Frau, die für ihre Zigarette vor die Kabine getreten war, sah durch die kleine Doppelglasscheibe zu Sophie, weil sie das Baby beobachten wollte, das zufrieden im Arm seiner Mutter lag, den Kopf bedeckt mit schwarzem Babyhaar und Milchschorf. Sie sah, wie die Mutter die Hand ausstreckte, als ihr Mann sich neben sie setzte und sie dazu aufforderte, er etwas hineinlegte und sie ihn mit großen und erstaunten Augen anstarrte. Dann tat sie etwas, was sie als Mutter mit ihrem ersten Baby outete – sie stieß einen schrillen Schrei aus. Das Baby zuckte zusammen, verzog das Gesicht und begann zu brüllen, worauf die Mutter es dem Vater in den Arm drückte.
Das Baby beruhigte sich schnell wieder, ganz erstaunlich für so einen kleinen Winzling, dass er sich so schnell ruhigstellen ließ.
Rick hielt Ben locker in der Armbeuge, den kleinen Körper an seine Seite geklemmt, hatte so beide Hände frei, um Sophies Hand zu halten und ihr den Ring an den Finger zu stecken.
„Wir sind auf einem Schiff“, sagte Sophie, „hat Willy Burton die Erlaubnis, Trauungen vorzunehmen?“
Der Ring, der für Rick vorgesehen war, passte nicht auf den Ringfinger seiner linken Hand, wo die Knöchel von alten Verletzungen verdickt waren, deshalb steckte er ihn in die Tasche zurück. Bei Gelegenheit würde er ihn weiter machen lassen.
„Ich fürchte, Elisabeth Ann würde es tun, aber bei Willy bin ich mir nicht sicher.“
Sophie sah erst, wer Elisabeth Ann war, als sie die Fähre verließen, sie in dem Wagen und Rick auf der Shadow.

Sie machten sich erst nach dem Einzug ins Strandhaus Gedanken darüber, wen sie zur Hochzeit einladen wollten, kamen schließlich zu dem Entschluss, dass sie entweder eine Feier mit Familien, Freunden und Insulanern organisieren mussten, oder einfach ohne feierliche Zeremonie einfach heirateten.
„Unmöglich“, sagte Sophie. Sie saßen auf der Veranda, Rick hatte einen alten Sessel nach draußen geschoben, damit sie gemütlich darin sitzen und Ben in ihrem Arm liegen lassen konnte. „Wir können nicht ohne meine Eltern feiern. Und wenn wir sie einladen, können wir den Rest nicht ignorieren.“
„Dann laden wir alle ein und sie sollen ihr Essen selbst mitbringen“, sagte Rick, beugte sich vor und kitzelte Bens nackte Fußsohle, „wir stellen die Insel zur Verfügung, mehr nicht.“
Sophie war von dieser Idee nicht begeistert, sie wollte nicht von Anfang an allen auf die Nase binden, dass sie kein Geld hatten. Sie hatte noch Erspartes und etwas von ihren Eltern bekommen, aber da Rick auf absehbarer Zeit keinen ordentlichen Job bekommen würde und sie nicht arbeiten konnte, würden sie eine Weile davon leben müssen. Sie konnte keinen Cent für eine solche Feier ausgeben.

Ben war drei Monate alt und entwickelte sich zu einem Prachtbaby, nach ihrer Meinung zum schönsten und klügsten Baby überhaupt, als Rick noch immer keinen Job hatte und deshalb ab und zu mit der Shadow aufs Festland fuhr, um sich in diversen Werkstätten umzuhorchen, obwohl er wusste, wie gering die Chancen für ihn waren. Sophie bezahlte jede Rechnung erst nach der ersten oder zweiten Mahnung und vermied jede unnötigen Ausgaben. Sie sprachen oft über die Hochzeitsfeier, aber diese fand erst statt, nachdem sie ihre Familie zu Thanksgiving einlud. Ihr Vater sagte ihr in einem stillen Moment, als sie zusammensaßen, dass er die Hochzeit ausrichten würde, mit allem Pomp, den Sophie sich vorstellen konnte.
„Wir haben schon geheiratet“, murmelte Sophie, „wir haben das Aufgebot beantragt und die Papiere sind seit sechs Wochen unterschrieben. Es tut mir leid, ich wollte eine richtige Hochzeit, aber dafür reichte das Geld nicht. Deshalb haben wir einfach geheiratet und fertig. In einem Hotel in Port Clyde. Weil wir uns nicht einigen konnten, wer die Trauzeugen sein sollten, haben wir zwei Angestellte in dem Hotel gefragt.“
Ihr Vater sah sie mit großen Augen an und sie konnte einen Moment lang nicht einmal sagen, ob er amüsiert oder entsetzt war. Sie erwartete einen Ausbruch von Empörung, wie „Ihr hättet uns danach bescheid sagen können!“ oder „Wenn du was gesagt hättest, hätten wir…“, aber was er schließlich sagte, war: „Du bist noch immer für Überraschungen gut, meine Tochter. Dann können wir die Hochzeitsfeier ausrichten, oder?“
Weil das Wetter schlecht genug war, um möglicherweise auf der Insel eingeschneit zu werden und den Partygästen eine unfreiwillige Übernachtung für Tagen oder Wochen auf der Insel zu bescheren, einigten sie sich, die Hochzeitsfeier in Blue Hill abzuhalten. Sophies Eltern würden sich um alles kümmern, Sophie und Rick konnten die Füße hochlegen und bei der Auswahl des Buffets nur noch zustimmen oder ablehnen. Martha lief mit einem Notizbuch herum und fragte Rick nach den Telefonnummern und Adressen der Gäste, die er einladen wolle. Rick überraschte sie mit der Aussage, dass er die Adressen nicht wisse, bis auf die von Dom, aber er nannte ihr alle Telefonnummern aus dem Gedächtnis und ohne groß nachzudenken. Er hatte Curtis Telefonnummer und aus reiner Gehässigkeit auch die von Muriel in Ft. Lauderdale genannt, obwohl er wusste, dass seine Stiefschwester nie im Leben auftauchen würde. Neben Dom und Curtis hatte er die Telefonnummern von Mascots Verwandtschaft in New Mexico angegeben und von vielen Freunden und Bekannten in New York und New Jersey. Deren Namen hatte er angegeben, weil er genau wusste, dass sie der Einladung nicht folgen, aber die Neuigkeiten sofort verbreiten würden. Er wünschte wirklich, dass Mascots Familie vorbeikommen würde, zumindest seine Schwester, aber er wusste nicht einmal, ob sie noch in der Gegend von Ruidoso waren. Er hatte die Telefonnummer des indianischen Andenkenladens angegeben.

Die Feier fand im Haus der Reitmans statt, begann am frühen Vormittag für die Älteren mit Kaffee und Tee. Einige Verwandte waren aus der nahen Umgebung angereist und wollten nicht in Blue Hill übernachten, eine Tante hatte sehr deutlich gemacht, dass sie nur einen Blick auf das Baby werfen wolle, mehr nicht.
Sophie meinte, es sei eine von den Tanten, die sie persönlich nicht eingeladen hätte, aber ihre Mutter hatte sie dazu überredet.
„Wir können uns nicht beschweren“, sagte sie, „schließlich kümmern sie sich um alles.“
Zur Feier des Tages trug Rick einen tadellosen schwarzen Anzug und ein helles Hemd, hatte das Haar ordentlich kurz geschnitten und nur, wer einen Blick auf seine Schuhe warf, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er trug dunkelblaue Chucks.
Sophie hatte eine kleine Ewigkeit gebraucht, um sich für ein Kleid zu entscheiden. Sie konnte ihren Anblick im Spiegel nicht ertragen, weil sie vor ihrem inneren Auge nur ihre schlanke Figur vor der Schwangerschaft sah und sich mit diesen ausladenden Brüsten und Speck auf Bauch und Hüften nicht in ein noch so schönes Kleid stecken wollte. Candy hatte sie begleitet und sie schließlich zu einem schlichten langen Kleid aus dunkelrotem Samt überredet. Dazu trug sie eine silberne Kette und passenden Armreif. Ihr Haar war zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt und jeder sagte ihr, wie wunderbar sie aussah, aber sie flüchtete sofort, wenn sie jemanden mit einer Kamera entdeckte.
Um die offizielle Fotosession kam sie nicht herum und es entstanden eine Reihe von Fotos, auf denen entweder Rick oder sie ein finsteres Gesicht machte, dass jemand meinte, sie haben sich nicht entscheiden können, wer wen zu dieser Hochzeit gezwungen hatte.
Ben wurde begeistert hin und hergereicht und machte alles fröhlich mit, bis er übermüdet quengelte und an einem Stück schrie und Sophie ihn in ihrem Zimmer ins Bett legte. Als sie wieder nach unten kam, stritten Candy und Sidney darüber, welche Musik gespielt werden sollte, und Sophie flüchtete in die Küche. Ihre Mutter diskutierte mit einer Angestellten des Catering-Services und das junge Mädchen antwortete stereotyp „Ja, Ma’am, ja Ma’am“, aber sie machte einen aufmerksamen und freundlichen Eindruck. Sophie lächelte, als ihre Mutter zum Abschluss der Diskussion einen kleinen Scherz machte und sie beide laut auflachten. Das Mädchen trabte hinüber in das Speisezimmer und ging wieder an die Arbeit. Sophie sah ihr nach, überlegte und machte eine unsichere Handbewegung.
„Das Gesicht kam mir bekannt vor“, sagte sie.
„Das ist Jenna“, sagte ihre Mutter, „die Jüngste von den Cloutiers.“
„Oh“, machte Sophie. Mit Jennas älterem Bruder hatte sie vor Jahrhunderten ein Techtelmechtel gehabt und sie war froh, wenn er nicht auch auftauchte und dabei Tabletts mit Fingerfood und Getränken trug.
Martha mischte sich wieder unter die Gäste, forderte den bestellten Fotographen auf, mehr Fotos zu machen, obwohl dieser sich nur gerade ein angebotenes Getränk genommen hatte. Er hatte zwei große Spiegelreflexkameras um den Hals hängen. Dann versuchte sie den Tisch mit den Geschenken in Ordnung zu bringen, gab es aber bald wieder auf. Sophie hatte alle Pakete aufgerissen, das Papier und die Kartons achtlos herumliegen lassen, manches war auf den Boden gefallen und Carlos hatte es mit sich herumgeschleppt. Eine ganze Weile hatte er versucht, an die leckeren Happen auf dem langen Tisch zu gelangen, aber Rick pfiff ihn jedes Mal zurück. Als ihm das Haus zu voll wurde, verschwand Carlos in den Mud Room, wo er sich hinlegte und den Rest der Feier verschlief.
Der Fotograph erwischte Rick mitten in der Bewegung, wie er sich seinem Bruder Curtis zuwandte, der am frühen Morgen angekommen war, und gleichzeitig nach den Zigaretten in der Brusttasche seines Sakkos griff. Beide grinsten und trotz des großen Altersunterschiedes war die Familienähnlichkeit sehr groß. Das Foto ließ Sophie sich später vergrößern und einrahmen. Es bedeutete ihr noch mehr als die offiziellen Hochzeitsfotos als Paar.
Dom sah hervorragend aus, hatte wieder an Gewicht zugelegt und hatte eine ganze Tasche mit Geschenken mitgebracht. Rick wunderte es nicht, dass Dom und Curtis sich in eine Ecke zurückzogen und sich lange unterhielten.
Als es Abend wurde und die Reste des Buffets zusammengeräumt wurden, um Tische abzuräumen, die nicht mehr benötigt wurden, legte Candy eine für ihre Verhältnisse sehr romantische Tanzmusik auf und es wurde generationenübergreifend getanzt.
Rick zog Sophie nach draußen auf die Terrasse und in den Garten hinaus. Die Luft war schneidend kalt und prickelte auf der Haut.
„Hast du’s dir so vorgestellt?“ fragte Rick und sie sagte: „Es ist besser, als ich dachte. Besser, als ich es hätte planen können. Nur Mom ist pikiert, dass nur Dom und Curtis gekommen sind.“
„Das ist schon in Ordnung so. Stell dir mal vor, Hollis wäre aufgetaucht.“
Manche hatten auf die Einladung, die schriftlich rausgegangen waren, mit Grußkarten reagiert, zumindest diejenigen, die für so etwas einen Sinn hatten. Hollis hatte angerufen und sich lange mit Rick unterhalten, ihm erzählt, was inzwischen passiert war. Von Flea, Mascots Schwester, hatte er einen Brief erhalten und den hatte er niemandem gezeigt, nicht einmal Sophie. Er hatte ihn gelesen und am Strand verbrannt.

Nach der Feier blieben sie noch wenige Tage in Blue Hill, dann fuhren sie zurück auf die Insel. Sophie brannte darauf, endlich ihre Familienfotowand aufzuhängen, die sie zusammengestellt hatte. Dort hatte sie ihre eigenen Kinderfotos und die ersten Fotos von Ben gesammelt und zusätzlich die Fotos, die Rick ihr irgendwann mal in die Hand gedrückt hatte. Es waren alte Fotos, die ihn als Kind auf der Farm zeigten, ein einziges Foto von seinem Großvater, der irgendwo auf einer Straße stand und freundlich lächelte. In der Mitte des Fotorahmens hatte sie das Foto angebracht, das sie alle drei gemeinsam zeigte: Sophie mit Ben auf dem Arm, Rick neben ihr, einen Arm um sie gelegt, Carlos hechelnd zu ihren Füßen. Hinter ihnen konnte man das Meer sehen, über ihren Köpfen einen strahlend blauen Himmel mit vereinzelten weißen Wolken.
Das Foto hatte Sidney aufgenommen, an dem Tag, als Sophie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Sophie trug ihren Ehering, der Ring an Ricks Hand sah seltsam aus, fast abstrakt. Wenn seine Knöchel, die er sich oft verletzt hatte, zu dick angeschwollen waren bei Wetterumschwüngen, trug er ihn an der anderen Hand oder am kleinen Finger. Er vergaß nie, ihn anzuziehen.
Ben schien beruhigt darüber, wieder auf der Insel zu sein. Während der Fahrt war er unruhig und nörgelig, aber kaum hatte die Fähre auf Monhegan angelegt, lächelte er und schlief ein.
 
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Kommentare  

Rick mit Ehering. Das ist wirklich sehr ungewöhnlich und Sophies Vater ist einfach süß.

Petra (05.02.2011)

...der Fluss der Geschichte geht weiter, und der Stil dieser Geschichte macht es dem Leser einfach, ihr zu folgen, und weiter und weiter zu lesen...ein Vergnügen!

Jürgen Hellweg (05.12.2010)

Hochsympathisch ist mir diese kleine Familie. Man drückt Rick und Sophie die Daumen, dass alles glatt geht und vor allem dem neuen Erdenbürger - Ben. Wunderbarer Schreibstil. Ein schönes authentisches Kapitel.

Jochen (21.11.2010)

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