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Der zweite Weihnachtstag

Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester · Erinnerungen
Traditionsgemäß, seit Bestehen des Reitvereins, fand das Weihnachtsreiten am zweiten Weihnachtsfeiertag statt. Es wurde eine Kür mit mehr als zwanzig Teilnehmern geritten, Pferde und Reiter in Turnierkleidung, Reiter in schwarz-weiß, die Pferde mit geflochtenen Zöpfchen und weiß einbandagierten Beinen. Danach fanden sich Reiter, Angehörige und Gäste in der großen Scheune ein, wo bereits am Vortag eine Bühne, Musikanlage, Getränkewagen, Grill, Tische und viele Strohballen als Sitzgelegenheiten aufgebaut worden waren.
Bereits Wochen vorher waren alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit den Vorbereitungen beschäftigt. Pferde wurden trainiert, Sattelzeug geputzt, Reitstiefel auf Hochglanz poliert. Die fröhliche Hektik verbreitete sich teilweise auch unter den Pferden.
Pferde haben von Weihnachten keine Ahnung, aber sie spüren die Anspannung und wissen, dass etwas anders ist als sonst. Bei den ganz Ausgefuchsten reicht es schon, wenn sie die Turnierzöpfe geflochten bekommen und sie geraten in Wallung.
Der ganze Stall, Reithalle, Haupthaus und Scheune war mit roten Schleifen und Kränzen aus Tannenzweigen geschmückt. Alles war aufgeräumt und sauber, Stalltüren neu gestrichen und der Sand in der Dressurhalle war glatt gezogen.
Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages hatte jeder die letzte Gelegenheit, sein Pferd zu bewegen, bevor die Halle für das Weihnachtsreiten gesperrt wurde. Ich drehte mit Carli noch ein paar Runden nach der Morgenarbeit mit ihm und er schluffte entspannt vor sich hin. Carli hatte das Arbeiten nicht erfunden, aber einige Lektionen machten ihm Spaß und dann arbeitete er gerne mit.
„Normale“ Reitpferde, mit ein wenig mehr Paprika im Blut, wurden bei der kalten Witterung munter, aber Carli wurde bei Temperaturen um den Gefrierpunkt für gewöhnlich noch gemütlicher als normal. Das war auch der Grund, weshalb wir am Weihnachtsreiten nicht teilnahmen. Wir haben es einmal versucht und sind während der Generalprobe kläglich gescheitert. Er hatte die ganze Abteilung aufgehalten, weil er einfach zu langsam war und sich nicht dazu überreden ließ, schneller zu laufen, und zu allem Unglück konnte er es sich nicht abgewöhnen, einfach stehen zu bleiben, um sein Geschäft zu erledigen. Pferde sind Fluchttiere. Die können ihr Endprodukt im Apfelformat selbst im Galopp loswerden, aber das erschien Carli so abwegig, dass er selbst für einen einzigen Apfel alle vier Beine in den Boden stemmte.
An seiner Box hing ein Schild „Carli ist nicht stur, er lässt mir nur mehr Zeit, über meine Fehler nachzudenken.“ Wenn man sich ein Kaltblut-Pony-Mix kauft, muss man bei einigen Dingen leichte Abstriche machen.
Ich hatte etwa eine Stunde mit Carli gearbeitet, bis sein Dieselmotor warmgelaufen war, dann durfte er im Schritt durch die Halle schlendern, um sein dickes Winterfell trocknen zu lassen. Die Hallentür öffnete sich und Kinder riefen: „Tür frei, bitte!“ Als Reiter antwortet man: „Ist frei!“ und reitet einen Bogen um den Eingangsbereich, um hereinstürmende Fußgänger nicht über den Haufen zu reiten.
Die zwei Mädchen trugen Wäschekörbe mit Weihnachtsdeko herein, stellten die ersten Körbe ab und gingen vor die Halle, um die Nächsten zu holen.
„Wir wollen die Halle dekorieren.“
„Macht ruhig, ich bin fertig.“ Carli schnaubte zustimmend. Ein von Herzen kommendes Hrrmh-prrrrh.
Die Mädchen hatten an alles gedacht, an die grünen Girlanden, die Sterne, Tannenzweige, Heftzwecken, Hammer, Klebeband, Schere.
„Pia?“
„Ja?“
„Dürfen wir Carli haben? Wir haben die Leiter vergessen.“
Ich ließ Carli an der Wand anhalten, stieg ab und half dem kleineren Mädchen in den Sattel. Sie stellte sich erst in den Sattel, dann mit einem Fuß auf seinen breiten Hintern, streckte sich nach oben und klebte den ersten goldenen Stern an die Hallenwand. Ihre Freundin reichte ihr die Girlanden hoch, hielt ihn am langen Zügel fest.
„Macht nur keinen Blödsinn mit ihm“, sagte ich, ging in den Stall zurück, machte seine Box und sein Paddock sauber und als ich zurückkam, um Carli zu holen, hatten die Beiden ihm mit dem schwarzen Klebeband Augenbrauen und einen Schnurrbart ins Gesicht geklebt. Er sah mich mit einem resignierenden Blick an und wollte endlich in seine Box, wo sein Frühstück auf ihn wartete. Die Mädchen hatten mit seiner Hilfe die ganzen Hallenwände geschmückt.
Während des Weihnachtsreitens genehmigte ich mir den ersten Becher Glühwein. Die Kür war perfekt auf die Weihnachtsmusik abgestimmt und alles lief perfekt, niemand bog in die falsche Richtung ab, kein Pferd raste wild bockend durch die Halle.
Später stand ich mit zwei Freundinnen in der wild geschmückten Scheune, wir gaben die Getränke aus und ich hatte die Aufgabe übernommen, mich um den Schwenkgrill zu kümmern, der direkt nebenan stand. Es gab Glühwein, Kaffee und Kuchen und alle warteten gespannt auf den ersten Auftritt. Einige der Jugendlichen hatten ein Lied von den Kellys einstudiert, standen mit Gitarren und in Hippieklamotten ihrer Mütter auf der kleinen Bühne und sangen zum Playback. Sie hatten sich die Kellys ausgesucht, weil die am „uncoolsten“ waren und trotzdem hatten alle älteren Semester Tränen in den Augen vor Rührung.
Sometimes I wish I were an angel.
Danach waren wir dran. Wir hatten uns Nonnenkostüme besorgt und führten Sister Act auf, was wir seit Wochen geübt hatten. Wir waren richtig gut, durften uns nur dabei nicht ansehen, weil wir dann haltlos loslachten und nicht mehr aufhören konnten. Weil wir die um Zugabe rufenden Gäste nicht enttäuschen wollten, sangen und tanzten wir noch einmal „I will follow him“. Es war das einzige Lied, was wir einstudiert hatten. Leider hatte die beste Sängerin und Tänzerin, die wir als Haupt-Act gefunden hatten, nicht auftreten können. Bei der Generalprobe hatte sie festgestellt, dass sie mit ihrer Fülle nicht in das Nonnenkostüm passte. Sie stand unter den Zuschauern und sang trotzdem mit und es sah aus, als würde sie unsere Choreographie anführen.
Für den restlichen Abend lief Christmas-Rock-Musik, auf dem Grill brannten einige Würstchen an, weil ich mehr tanzte und in der Scheune unterwegs war. Auf diesen Weihnachtsfesten ging es immer lustig zu, dort trafen sich alt und jung, die Großeltern konnten die Ponys der Enkel bewundern, Ehemänner und Freunde, die sonst dem Stall fernblieben, fanden jemanden zum quatschen.
Wie immer endete die Feier sehr früh morgens beim gemeinsamen Aufräumen, einem letzten Kaffee und die Hunde bekamen die übrig gebliebenen Würstchen. Bevor ich nach Hause fuhr, sah ich noch bei Carli vorbei, der, wie immer, wenn ich das Licht im Stall anmachte, erst müde blinzelte und dann mit dem Huf gegen die Boxentür bollerte.
Weihnachten in der Stallgemeinschaft war nie wirklich heimelig und besinnlich, aber es trug ein anderes Gesicht von Weihnachten. Alle Generationen feierten gemeinsam, die Kinder und Jugendlichen freuten sich bereits Wochen vorher darauf, dachten sich gemeinsam etwas aus, was sie präsentieren konnten. Mütter brachten selbst gebackenen Kuchen und Torten mit, die Väter (meist die mit dem wenigsten Interesse an Pferden) halfen die Ställe und Zäune zu reparieren, besorgten Weihnachtsbäume und stellten den größten Baum, den sie bekommen konnten, gemeinsam in der Mitte des Hofes auf. Häufig kamen „Ehemalige“ vorbei, die weggezogen waren, aber noch immer gerne an den Weihnachtsfeiern teilnahmen. Nach außen mochte es aussehen wie eine Feier mit Kindern, Ponys, Pferden und Erwachsenen, die Weihnachtsmützen trugen, aber wir hatten es zu einer Tradition gemacht, die es in den Familien teilweise nicht mehr gab. Das gemeinsame Essen in einer ausgelassenen Stimmung, das chaotische Miteinander, in dem letztendlich doch alles gut funktionierte, und alle konnten für eine Weile die Zwistigkeiten vergessen. Ein großes gemeinsames Vorbereiten, Feiern und Aufräumen, alles umgeben vom Stall- und Tiergeruch.
Jahre später habe ich den Stall gewechselt, weil ich in eine andere Stadt gezogen bin und Carli mitgenommen habe. Carli geht es dort gut, die Leute sind nett, aber trotzdem fehlt etwas – besonders an Weihnachten.
 
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Kommentare  

Vielen Dank für eure Kommentare zu "Carli". Er ist halt sehr eigen - er kennt nur "an" oder "aus" und wenn er "an" ist, geht man nur noch in Deckung.
Die Stallgemeinschaft war schon was besonderes, ich weiß gar nicht, wie oft wir dort bis früh morgens bei Feigling und Kartenspiel gesessen haben.
Liebe Grüße an euch alle Dubliner Tinte


Pia Dublin (01.12.2010)

Ich liebe dein Pferdi. Das scheint ja einen echt süßen Charakter zu haben. Diese Feste müssen wirklich toll gewesen sein.

Petra (30.11.2010)

Du hast in mir Weihnachtsstimmung entfacht. Und ich glaube, ob es nun ein Reiterhof ist oder irgendetwas anderes, wichtig sind immer die Menschen, wie engagiert sie dabei sind. Ein Lesegenuss.

Jochen (29.11.2010)

Was für ein Pferd!! Da ist ja ein Schaukelpferd bald noch tückischer. Toller Schreibstil und schöne behagliche Weihnachtsgeschichte.

Dieter Halle (28.11.2010)

carli ist ja wohl eine seele von einem pferd - und diese weihnachten in der stallgemeinschaft finde ich sehr schön. was will man noch mehr als gewisse zwistigkeiten für eine zeitlang vergessen?
und lach schlapp: die uncoolen kellys... ;)


Ingrid Alias I (27.11.2010)

Eine gelungene Weinachtsstory. Schön, dass du das alles schriftlich festgehalten hast. So konnte ich ich gedanklich daran teilnehmen und ich glaube, diese Geschichte wird noch vielen Lesern Spaß machen.

doska (27.11.2010)

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