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4 Seiten

Wölfin der Taiga - 3. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Sie drehte das Telefon in ihren Händen hin und her. So lange hatte sie kein Wort mehr mit ihrem Großvater gewechselt. Er wäre die verlässlichste Quelle, für das, was ihr auf der Seele brannte. Und doch hatte sie Angst vor dem, was sie zu hören bekommen würde.
Jade biss sich auf die Lippe und stoppte ihre Wanderschaft durch ihr Zimmer vor ihrem Spiegel. Genau wie im Ballett-Studio fiel ihr Blick auf die kleine, kaum wahrnehmbare Narbe auf ihrer Wange. Sie hob die Finger und fuhr sachte darüber. Noch nie zuvor hatte sie diese Narbe bemerkt. Eine logische Erklärung, woher die Narbe stammte, hatte sie schon gleich gar nicht…
Als das Telefon in ihrer Hand zu klingeln begann, ließ sie es vor Schreck fallen. Doch bevor es am Boden zerschellen konnte, schoss Jades Hand aus dem Nichts hervor und fing es auf. Sie hielt die Luft an und schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein!
Jade drückte auf den Hörer. „Hallo?“
„Jade, na endlich…“ Am anderen Ende war Gabriellas Stimme zu hören. „Wieso gehst Du nicht an Dein Handy?“
Jade drehte sich um und kramte in ihrer Ballett-Tasche nach ihrem Handy. Darauf waren drei Anrufe von Gabriella.
„Entschuldige, ich war tanzen…“ …und mich ablenken, fügte sie im Geist hinzu. „Was ist los?“
„Wie geht es Dir, Jade?“
Jade runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage? Sie hatten sich vor wenigen Stunden erst verabschiedet und Gabriella wusste, dass es ihr gut ging. Dennoch antwortete sie. „Mir geht es gut, warum auch nicht?“
Gabriella druckste herum, sie schien nicht zu wissen, was sie antworten sollte.
„Gaby, was ist los?“
„Jade…“ Gabriella holte tief Luft. „Ich mache mir Sorgen um Dich. Ich wollte einfach nur wissen, ob bei Dir alles in Ordnung ist. Ich hatte Angst, nachdem Du nicht an Dein Handy gegangen bist…“
„Oh, Gaby…“ Jade musste lächeln. Gabriella war wirklich eine gute Freundin. Aber wenn selbst sie merkte, dass mit Jade etwas nicht stimmte… Sie musste mit ihrem Großvater sprechen! „Hör mal, Gaby, danke, dass Du Dich gemeldet hast, aber ich muss noch dringend was erledigen! Machs gut, wir sehen uns morgen!“ Jade drückte den roten Hörer, ohne auf Gabriellas Proteste zu achten und wählte gleich darauf die Nummer ihres Großvaters.
Das Tuten des Telefons erschien ihr unnatürlich laut und das Knacken in der Leitung, als Joe den Hörer abnahm, schmerzte ihr in den Ohren.
„Florence, was ist passiert?“ Die Stimme ihres Großvaters überschlug sich beinahe, als er atemlos den Hörer an sich riss. Es kam nicht sehr oft vor, dass die Nummer seiner einzigen Verwandten auf dem Display seines Telefons erschien.
„Grandpa, hier ist Jade…“ Sie schluckte. Sie fühlte sich unwohl bei diesem Anruf. Solange hatte sie nicht mehr mit ihrem Großvater geredet, dass es sich fast schon wie Verrat anfühlte. Und jetzt war sie auf ihn angewiesen, nur deswegen meldete sie sich bei ihm… „Es… es ist nichts passiert…“
Joe atmete hörbar aus. In der Leitung rasselte es. Jade zuckte zusammen. „Jade…“ Die Freude und zugleich die Erleichterung, die in seiner Stimme lagen, machten es Jade nicht gerade einfacher sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.
„Grandpa, kannst Du mir helfen?“ Ihre Stimme zitterte. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die kleinen Kratzer auf ihrem Oberarm ziepten. „Ich… ich habe… ich mache… seit einiger Zeit Spaziergänge. Nachts. Ich weiß nicht, warum…“
„Wie lange machst Du das schon, Jade?“ Sofort änderte sich Joes Stimmlage. War sie eben noch ruhig und voll freudiger Erwartung gewesen, klang sie nun alarmiert.
„Keine Ahnung…“ Jade zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe, noch nicht so lange…“, murmelte sie.
Joe seufzte tief. Reflexartig riss Jade den Hörer vom Ohr und hielt ihn ein wenig von sich weg. Ihr Ohr schmerzte.
„Jade, komm doch morgen bei mir im Reservat vorbei… Dann reden wir darüber. Schlaf jetzt, Du brauchst Deinen Schlaf!“
Jade verzog das Gesicht. Sie wusste, dass sie keine weiteren Informationen aus Joe herausbekommen würde. Er würde sich auf keinerlei Diskussion einlassen.
„Danke…“ Sie nickte ergeben und drückte zum zweiten Mal auf den roten Hörer ihres Telefons, um das Gespräch zu beenden.
Jade ließ sich zurück in die Kissen fallen. Die weichen Federn fingen sie auf. Einen Moment lang war sie völlig auf ihren Körper bedacht, lauschte jeder Funktion, jeder Reaktion. Ihr Herz pochte in den Ohren und sie hörte ihr Blut rauschen.
Ruckartig setzte sie sich auf. Sie konnte jetzt nicht schlafen. Sie war viel zu aufgewühlt. Nach diesem Tag hatte sie so viele Informationen zu verarbeiten. Mit einem Satz war sie bei ihrer Zimmertüre und öffnete diese leise. Sie horchte. Es schien, als würde Florence schon schlafen. Das kam ihre gerade recht.
Ohne einen Laut zu verursachen, huschte sie die Holztreppe hinunter ins Wohnzimmer und durchsuchte das Bücherregal. Ihre Augen glitten über die Buchtitel, unablässig, eine Reihe nach der anderen, bis sie das gefunden hatte, wonach sie suchte. Das alte, lederne Buch lag schwer in ihren Händen. Der Einband war rau und abgenutzt. Auf dem Buchdeckel war der gleiche silbergraue Wolf abgebildet, den sie bereits in der College-Bibliothek vor sich gehabt hatte.
Doch diesmal war es ein Kinderbuch. Ein Kinderbuch, das die Sagen und Legenden der Mohawks erzählte. Jade konnte sich erinnern, dass Florence ihr nie daraus vorlesen wollte, obwohl Jade das alte Buch stets betrachtet hatte. Es war ihr in Vergessenheit geraten, doch gerade war es so aktuell wie nie.
Sie ließ sich in den großen Ohrensessel sinken und schlug die erste Seite auf. In großen Lettern prangten dort die Initialen ihrer Mutter – FB, Florence Black.
Sanft strich Jade mit den Fingerspitzen darüber. Sie blätterte um und vertiefte sich in die Märchen und Legenden der Mohawks…
… und die Pranken des braunschwarzen Wolfes warfen den jungen Mann mit einem Hieb zu Boden. Das Erdreich zerbarst unter der Wucht des aufprallenden Körpers. Von der Brust des Wolfes her war ein tiefes Grollen zu hören. Der Mann blieb regungslos liegen.
Vorsichtig setzte der Wolf eine Pfote vor die andere, ging wachsam auf sein Opfer zu. Der freie Oberkörper seines Gegners glänzte metallen im Mondschein. Die kalte Schnauze des Wolfes stupste den reglosen Körper an. Nichts geschah. Der Wolf wähnte sich in Sicherheit. Befriedigt, seinen Gegner erledigt zu haben, drehte er ihm den Rücken zu und bedeutete den anderen Wölfen, die an seiner Seite gekämpft hatten, den Rückzug anzutreten.
Doch kaum hatte er sich seinen Freunden zugewandt stieß ein silbergrauer Wolf ein lautes Heulen aus. Der braunschwarze Wolf zuckte zusammen, als sein Gegner mit einem metallischen Klirren auf seinem Rücken landete und seine Arme und die Kehle des Wolfes schloss.
Der Kampf begann erneut, härter und erbitterter. Aus dem Schutz des Waldes tauchten immer mehr der seltsamen Menschen auf. Die Wölfe waren mit einem Mal in der Unterzahl. Ein Wolf nach dem anderen wurde verwundet und konnte seinem Anführer nicht mehr helfen. Bald stand der schwarzbraune Wolf alleine da, alleine gegen eine Überzahl der Feinde, nicht in der Lage siegreich aus diesem Kampf hervorzugehen. Er kämpfte erbittert, doch der stählerne Körper seiner Gegner war unbezwingbar. Jeder seiner Angriffe prallte an den harten Gestalten ab.
Die seltsamen Menschen kämpften bis zum kalten Ende, unerbittert, ohne Gnade für die Wölfe. Sie umkreisten den braunschwarzen Wolf, schlossen ihn ein, ließen ihm keinen Fluchtmöglichkeit.
Der Wolf sammelte seinen letzten Kräfte, stieß ein lautes Grollen aus, setzte zum Sprung an und überflog den Kreis seiner Gegner, der sich immer enger um ihn zog. Sanft landete er auf nassen Waldboden, gab seinem Rudel ein Signal und geschlossen traten sie – verwundete und im Stolz gekränkt – den Rückzug an…
 
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Kommentare  

Immer noch lebensecht, sehr gefühlvoll und mystisch. Eine schöne Geschichte.

Jochen (02.03.2011)

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