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6 Seiten

Das Generationsraumschiff 3/6

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Thomas rappelte sich nach einiger Zeit endlich wieder auf. Er war schwach auf den Beinen. Die Schmerzen in seinen Fingern und in seiner Schulter spürte er immer noch sehr deutlich. Benommen schaute er sich um. Er hörte Menschen weinen, hysterisch brüllen und manche schienen sich sogar gegenseitig zu beschimpfen. Auf ihrem Raumschiff schien so einiges aus dem Ruder gelaufen zu sein.
Auf dem L-Deck, auf dem er sich gerade befand, war nicht viel los. Er sah nur ein zwei Menschen, die sich immer noch krampfhaft an dem Geländer festklammerten, so wie er es auch getan hatte. Anscheinend befürchteten sie, dass sich das Schiff jeden Moment wieder zur Seite neigen könnte.
Thomas entschied sich dazu, sich von dieser Angst frei zu machen. Viel lieber wollte er nun etwas Sinnvolles tun, wie etwa seine Pflichten erfüllen. Irgendwer musste ja schließlich das Ruder herumreißen, um das Schiff wieder auf seinen normalen Kurs zu bringen.
Als er am Aufzug zum K-Deck angekommen war, drückte er auf den Knopf mit dessen Hilfe sich die Kabine normalerweise zu ihm auf den Weg zu machen pflegte. Und tatsächlich: dieses verdammte Mistding schien wieder zu funktionieren. Er vernahm das vertraute Summen der Motoren, welche den Aufzug in Gang setzten. Die Kabine kam zu ihm angerauscht, und als diese auf dem L-Deck schließlich angekommen war, öffnete sich die Aufzugstür fast geräuschlos. Noch einmal sah Thomas nach oben. Er konnte noch immer in den weiten Weltenraum hinaussehen. Demnach schien einiges wieder zu funktionieren, anders aber immer noch nicht. Auf was konnte man sich nun also noch verlassen?
Er trat entschlossen in den Aufzug ein und drückte dort den Knopf, der ihn hoffentlich endlich zu seinem K-Deck brachte. Die Aufzugstür schloss sich und er sauste in seiner kleinen Kabine nach oben. Oben angelangt öffnete sich die Türe wieder und Thomas trat aus dem Aufzug heraus. Er sah sich dort erst einmal um. Auf dem K-Deck war keine Menschenseele zu sehen. Es kam ihm fast ein wenig gespenstisch vor.
Er machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz. Dort angelangt öffnete er die Tür. Jetzt hätte eigentlich das Licht automatisch angehen müssen, aber doch nicht an solch einem Tag! Trotz der Dunkelheit konnte Thomas in dem relativ kleinen Kontrollraum die Unordnung, die hier offensichtlich herrschte, ganz deutlich erkennen. Er hasste jedwede Form von Unordnung, ja es war im geradezu ein Dorn im Auge. Durch das Kippen des Schiffes schien ziemlich viel heruntergefallen zu sein. Er hätte nicht gedacht, dass er hier so viele Akten aufbewahren würde, die jetzt alle auf dem Boden verstreut herumlagen.
Die Lichter des Computers blinkten, weshalb er die Armaturen erkennen konnte. Er hoffte, dass Alfred - so nannte er liebevoll den Bordcomputer - nicht auch irgendeinen Schaden davongetragen hatte. Denn er wollte endlich wissen, was zum Teufel hier eigentlich los war und vor allem ob es menschliches oder sonst irgendein Versagen gewesen war.
Er tastete sich zu seinem Arbeitsplatz vor. Hinter ihm schloss sich die Tür wieder.
Als er seinen Schreibtisch erreicht hatte, setzte er sich auf seinen gut gepolsterten Arbeitssessel und schaltete den Computer ein. Er hörte das Hochfahren des Rechners. „Hallo Thomas“, wurde er anschließend durch die vertraute, ruhige, ja fast warmherzig klingende Stimme von Alfred begrüßt.
„Hallo Alfred.“ Es war ein tägliches Ritual.
„Wie geht es Dir?“, wollte nun Alfred von ihm wissen. Es hörte sich fast ein wenig zynisch an.
„Nicht so gut.“
„Oh, was ist los? Bist Du etwa krank?“ Thomas stutzte. Eigentlich müsste Alfred doch über die Vorgänge der letzten Stunden bestens informiert sein. Schließlich hatte er zu allen Systemen des Raumschiffes Zugang. Er war eine Art Überwachungsprogramm, das in ständigem Kontakt zu allen Systemen auf dem Schiff stand. Er war sozusagen der Regisseur, der den Überblick behalten sollte; der alle Rädchen zu synchronisieren hatte, damit im Endeffekt alle Teile in die gleiche Richtung arbeiteten und sich nicht gegenseitig behinderten. Er war für die Effizienz zuständig und Thomas war sozusagen die Schnittstelle zu den Menschen. Denn das Programm sollte nicht nur die einzelnen Systeme des Schiffes synchronisieren sondern Mensch und Maschine in gewisser Weise zu einem einzigen System vereinen. Alles und jeder sollte auf dem Raumschiff in die gleiche Richtung arbeiten; dafür Sorge tragen, dass die Mission möglichst effizient zu einem erfolgreichen Ende gebracht werden konnte.
„Alfred, was ist auf dem Raumschiff los?“, wollte Thomas nun von dem Bordcomputer wissen.
„Was soll los sein?“, fragte Alfred mit fast naiv anmutender Stimme.
„Nun, ich wäre vor nicht allzu langer Zeit fast gestorben“, antwortete Thomas.
„Oh, das wäre nicht gut gewesen. Du hast deine Arbeit stets mit größter Effizienz verrichtet. Das wäre ein großer Verlust für das Schiff und letztendlich auch für unsere Mission gewesen.“
„Alfred! Was ist hier los?“ Thomas konnte sich nur schwer beherrschen. „Das Raumschiff ist in Gefahr und somit die Mission. Das musst Du doch mitbekommen haben! Genau das ist doch schließlich deine Aufgabe!“
Alfred schwieg.
„Alfred, verstehst Du mich? Ich möchte endlich wissen, was auf diesem Schiff los ist? War es menschliches Versagen? Stimmt etwas mit dem Computersystem nicht?“
Alfred schwieg.
„Zeig mir dein Überwachungsprotokoll der letzten 24 Stunden.“
Es erschienen die Protokolle auf dem Bildschirm. Thomas ging sie durch, fand aber nichts Besonderes. „Zeig mir die Überwachungsprotokolle für den Abschnitt 6b27.“ Es erschien das Verlangte auf dem Bildschirm. Dabei handelte es sich um die Überwachung der Gravitation auf dem Schiff. Aber selbst hier fand Thomas nichts Besonderes.
„Alfred, gab es in den letzten 24 Stunden irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“
„Es wurde nichts registriert“, antwortete der Bordcomputer ganz gelassen.
Thomas atmete tief durch. Es war anscheinend zwecklos.
„In Ordnung, Alfred. Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich bewahrheitet zu haben. Du scheinst auch nicht mehr richtig zu funktionieren. Somit kannst Du mir als Schnittstelle zu dem Computersystem des Schiffes nicht mehr dienen.“
„Thomas, beruhige Dich. Es ist alles in Ordnung.“
Thomas drückte auf einen Knopf und ein Hologramm einer Tastatur, die er bedienen konnte, erschien vor ihm auf seinem Tisch. Er musste so schnell wie möglich ein möglichst simples, nicht zu komplexes neues Programm programmieren, das Alfred auf Programmfehler analysieren konnte. Es sollte die fehlerhaften Komponenten von Alfred isolieren, deren Aufgabe übernehmen und die normal arbeitenden ungehindert ihre Tätigkeit verrichten lassen. Alle Komponenten mussten danach weiterhin ständig überwacht werden und gegebenenfalls an- und ausgeschaltet werden können, schließlich hatte z.B. der Aufzug mal funktioniert und dann mal wieder nicht.
Er hatte sehr viel Arbeit vor sich. Das Raumschiff zu retten würde nicht einfach werden. Die Ursache dieser Katastrophe war ihm noch unklar, jedoch hatte er nun eine vage Vorstellung von den Auswirkungen. Zumindest was seinen Arbeitsbereich anging.
Er nahm sich fest vor, sein Rädchen wieder zum Laufen zu bringen. Vielleicht konnte dies dazu beitragen, das gesamte System zu stabilisieren und damit auch das menschliche Überleben auf dem gesamten Raumschiff zu sichern.
Er drückte auf seiner holografischen Tastatur eine bestimmte, strenggeheime Tastenkombination ein, woraufhin neben ihm eine Art Liege aus der Wand herausfuhr. Er erhob sich aus seinem Arbeitssessel und legte sich auf diese Liege drauf. Hinter sich griff er nach einem Gerät, das er sich auf seinen Kopf setzte. Daraufhin schloss er seine Augen und versuchte sich zu konzentrieren.
Sofort schien etwas an ihm zu ziehen. Er spürte es körperlich. Reflexartig wehrte er sich dagegen, versuchte aber gleichzeitig auch, sich diesem Ziehen hinzugeben. Denn er wusste, dass es nur umso länger dauern würde, wenn er sich dagegen wehren würde.
Plötzlich roch er Kälte und fühlte überall an seinem Körper Stahl. Das war ein Zeichen, dass er fast angekommen war.
Es kribbelte seltsam in seinem Kopf. Er hörte nun Geräusche in seinen Ohren, die sich anhörten, als würde ein Computer sein Betriebssystem hochfahren. Er spürte, wie sich in seinem Kopf Gedanken dachten, die nicht seine eigenen waren. Sie bestanden lediglich aus Einsen und Nullen und ergaben erst in einer Kombination und in Bezug zu einem System einen Sinn.
Sein Denken veränderte sich, wurde zu dem Denken eines Computers. Es sausten Informationspakete aus Einsen und Nullen durch seinen Kopf. Sie verwandelten sich in Bilder; in Projektionen aus seinem Gedächtnis. Dies erleichterte ihm das Handling mit den unglaublich vielen Informationen, von denen sein Gehirn gerade überflutet wurde. Er suchte in ihnen nach Anzeichen von Fehlern im System. Bis jetzt hatte er allerdings noch keine Anomalie finden können.
Plötzlich erschien vor seinem geistigen Auge ein Schreibtisch mit einem Computer darauf. Er setzte sich dort hin und fing dann auf der Tastatur zu schreiben an. Seine Finger flogen nur so über diese Tastatur.
Der Schreibtisch und der Computer waren in Wirklichkeit ebenfalls nur Projektionen seines Geistes. In Wahrheit arbeitete ausschließlich sein Gehirn an einem Überwachungsprogramm für das eigentliche Überwachungsprogramm, nämlich für Alfred, auf den er sich offensichtlich nicht mehr verlassen konnte.
Er schrieb nun so schnell an dem Computer, dass er seine Finger schon gar nicht mehr sehen konnte. Vor ihm füllte sich der Bildschirm in atemberaubender Geschwindigkeit mit komplizierten Computercodes.
Plötzlich bemerkte er, dass etwas nicht stimmte.

Ein Informationspaket, das durch seinen Kopf raste, ließ ihn stutzen. Es war mehr Intuition, als ein bewusster Vorgang, aber irgendetwas stimmte damit nicht. Er unterbrach seine Programmierung und zog das Informationspaket zu sich heran. Er versuchte zu verstehen, was es zu bedeuten hatte; welche Aufgabe diese Einheit zu erfüllen hatte; welche Konsequenzen dies für das Schiff haben könnte. Um dies zu verstehen benötigte er allerdings ein zweites Informationspaket. Er suchte danach, fand es aber nicht. Irgendwo musste es aber doch im System zu finden sein!
Thomas isolierte das verdächtige Informationspaket, setzte das interne Suchprogramm auf das gesuchte Paket an und widmete sich wieder seinen Codes. Gleichzeitig dachte er darüber nach, was ihn an diesem Informationspaket so stutzig gemacht haben könnte.
Zeit hatte in der Welt, in der Thomas sich nun bewegte, eine andere Bedeutung als in der Realität. Sein Gehirn arbeitete hier mit seiner vollen Kapazität. Jede Sekunde wurde dadurch viel intensiver erlebt, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Zwar konnte Thomas auf diese Weise extrem schnell arbeiten, nur verbrauchte sich auch seine Energie viel schneller. Was normalerweise in acht Stunden erledigt werden musste, konnte er so in zwanzig Minuten erledigen, allerdings mit den gleichen Erschöpfungseffekten.
Er stand kurz vor der Vollendung seines Überwachungsprogramms, als ihm plötzlich klar wurde, was ihn an dem Informationspaket so gestört hatte. Es war eine bestimmte Zahlenkombination in einer bestimmten Reihe. Es sah wie eine Anomalie aus, weil es nicht in das normale Schema des Systems so recht zu passen schien.
Er widmete sich noch einmal diesem Informationspaket und versuchte zu verstehen, für was dieser Code zuständig war. Das Suchprogramm, das er gestartet hatte, war mittlerweile durchgelaufen. Es hatte das gesuchte Informationspaket nicht finden können. Thomas wendete sich daraufhin wieder Alfred zu. „Alfred, ich brauche deine Hilfe.“
„Ja, was gibt es?“, vernahm er mit einem leichten Hall die vertraute Stimme des Bordcomputers in seinem Kopf.
„Bitte überprüfe diese Informationseinheit.“
„Gerne.“ Alfred tat wie ihm geheißen. Nach einem sehr kurzen Augenblick sagte er: „Es handelt sich dabei um eine Steuerungseingabe, welche führ den Kurs des Schiffes zuständig ist.“
„Was befiehlt es?“, wollte nun Thomas wissen.
„Das kann ich ohne einen Bezug nicht sagen.“
„Dann stell den Bezug her.“ Normalerweise erledigte Alfred viel schneller die Dinge, die er zu erledigen hatte.
„Das geht nicht.“ Das war alles was Alfred dazu zu sagen hatte. Keine Diagnose oder Handlungsempfehlungen, wie er es normalerweise getan hätte.
„Das geht nicht? Warum denn nicht? Du bist das Masterprogramm, das zu allen Daten im System Zugriff hat. Weshalb GEHT das nicht?“
„Unbekannt.“
Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Irgendetwas war hier faul. „Ich verstehe.“ Damit beendete Thomas das Gespräch mit dem Bordcomputer, isolierte wieder das Informationspaket und widmete sich wieder seinem Programm. Nach kurzer Zeit hatte er es dann tatsächlich vollendet. Es war seine schnellste Arbeit gewesen, die er bis jetzt geleistet hatte. Dementsprechend war er nun auch erschöpft.
Er legte sich in seinem virtuellen Sessel kurz zurück und rieb sich seinen Nacken. Anschließend atmete er einmal tief durch, beugte sich wieder nach vorne und startete das neue Programm mit einem Knopfdruck.
 
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Kommentare  

Eine gute Fortsetzung. Man ist gespannt zu welchem Ergebnis der Bordcomputer und Thomas kommen werden.

Dieter Halle (18.05.2011)

Interessante Mischung aus Informatik und Philosophie.

Crazy Diamond (18.05.2011)

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