232


4 Seiten

Das Generationsraumschiff 4/6

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Aus dieser virtuellen Welt wieder herauszukommen dauerte etwas. Denn er wollte zwar weg, doch es zog immer noch unerbittlich an ihm. Diesmal durfte er diesem Ziehen aber nicht nachgeben, wollte er diese künstliche Welt wieder verlassen.
Er war sehr erschöpft, weshalb es gar nicht so einfach war, diesem Ziehen etwas entgegenzusetzen. Hierfür musste er seine letzten Reserven aufwenden. Zuerst spürte er, wie das Gefühl von Stahl auf seiner Haut langsam wieder verblasste. Im gleichen Maße wurde auch sein digitales Denken immer mehr von seinen eigenen Gedanken gestört. Dann roch er ein letztes Mal Kälte und das Gefühl von Stahl auf seiner Haut wich vollends seinem eigenen Körpergefühl. Mit einem letzten großen Kraftakt konnte er sich anschließend schlagartig von dem starken Sog befreien.
Langsam öffnete er seine Augen. Sie schmerzen, weshalb er sie sich erst einmal reiben musste. Er bäumte sich auf seiner Liege auf und musste schwer husten. Hastig zerrte er sich das Gerät von seinem Kopf, beruhigte sich dann aber schnell wieder – schließlich war dies nicht sein erster Trip in die virtuelle Welt gewesen - und öffnete seine Augen. Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte schaute er sich um. Das Licht in seinem kleinen Arbeitszimmer war an. Das war ein gutes Zeichen. Es konnte durchaus sein, dass dies die Wirkung seines Programms hervorgerufen hatte. Denn er hatte das Gefühl, dass dies nicht nur seine bisher schnellste Arbeit gewesen war sondern auch seine Beste. Schon seltsam, wie gut und wie schnell ein Mensch unter Druck arbeiten konnte.
Die Anomalie im Steuerungssystem beunruhigte ihn immer noch sehr stark. Auch dass Alfred anscheinend nicht mehr richtig funktionierte. Vollends abschalten konnte er ihn aber nicht, zumindest noch nicht. Denn um ein Programm zu schreiben, das seine Funktion vollends ersetzen konnte, bräuchte er wahrscheinlich Wochen in der realen Zeit. Deshalb musste vorerst ein Überwachungsprogramm genügen, das das eigentliche Überwachungsprogramm lediglich nach Fehlern durchsuchen konnte und nur die fehlerhaften Funktionen ersetzten musste. Dennoch konnte es gut sein, dass selbst diese eingeschränkte Aufgabe für sein Programm zu schwierig werden würde. Denn fielen zu viele Funktionen auf einmal aus, würde auch sein Programm kapitulieren müssen. Er wird es ständig überwachen und nachbessern müssen.
Erschöpft erhob sich Thomas von seiner Liege. Er rieb sich die Schläfen. Wie viel tatsächliche Zeit war eigentlich vergangen? Er schaute auf seine Uhr. Dreißig Minuten. Dies war tatsächlich seine schnellste Arbeit gewesen.
Mehr stolpernd als gehend ging er zu seinem echten Computer hin und ließ sich in seinen Arbeitssessel plumpsen. Träge drückte er auf den Knopf, der dafür sorgte, dass die holografische Tastatur wieder vor ihm auf seinem Tisch erschien. Er sah nun im System nach, ob sich irgendetwas verändert hatte. Mit bloßem Auge war aber nichts zu erkennen.
Er öffnete sein neu geschriebenes Programm, gab den sechzehnstelligen Code ein, um auf die Programmierebene zu kommen, und sah sich anschließend an, wie es denn nun arbeitete. Tatsächlich. Das Programm tat seinen Dienst und war zumindest bis jetzt noch nicht mit seinen Aufgaben überfordert.
Er überflog noch einmal schnell die wichtigsten Codes seines neuen Programms, verbesserte hie und da eine Kleinigkeit daran und schloss es danach wieder. Er schaltete träge den Computer aus, erhob sich aus seinem Arbeitssessel, ging aus seinem Arbeitszimmer heraus, schloss hinter sich die Tür und machte sich auf den Weg zu seinem Quartier. Er brauchte eindeutig dringend mindestens eine, wenn nicht gar zwei Mützen Schlaf. Schlaf war aber etwas, das er erst einmal nicht bekommen sollte.

Gerade wollte Thomas in sein Quartier eintreten, als ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Sofort wusste er, was dies zu bedeuten hatte: Kollisionsalarm. Gleichzeitig forderte eine sehr freundliche Computerstimme die Bewohner des Generationsraumschiffes dazu auf, sich möglichst ruhig und geordnet in die Notkapseln zu begeben.
Solch ein Szenario war vorher schon öfters trainiert worden, das letzte Mal vor etwa zwei Jahren. Dennoch brach nun heillose Panik aus. Jeder wusste, oder zumindest ahnte, dass es sich hierbei um keinen Probealarm handeln konnte, weshalb nun viele Menschen kopflos durcheinander umher rannten. Alle schienen irgendwen oder irgendetwas zu suchen. Sie schupsten sich dabei ungeniert gegenseitig an, und manche von ihnen vielen dabei sogar zu Boden. Passierte so etwas, und konnte sich einer nicht mehr von selbst aufrichten, kümmerte sich niemand darum. Sie liefen einfach über diese Unglücklichen hinweg. In einer Notsituation ist eben jeder sich selbst der Nächste, dachte Thomas bei sich, als er solch eine Szene beobachtet hatte, ohne dabei eingreifen zu können – oder zu wollen? Er war sich sicher, dass es weitere Tote geben würde oder vielleicht sogar schon gegeben hatte.
Die Welt der Bewohner des Generationsraumschiffes war im Begriff, sich vollends aufzulösen. Kein Einziger von ihnen kannte ein anderes Leben als auf diesem Schiff. Sie alle waren hier geboren worden, genau so wie ihre Eltern und deren Eltern auch, und hatten sich mit Haut und Haaren darauf eingestellt, dass sie hier in einem hohen Alter friedlich sterben würden. Zwar wurden sie in der Schule systematisch auf ein Kolonistenleben vorbereitet, zumindest in der Theorie, aber keiner von ihnen hatte ernsthaft daran geglaubt, dass es ausgerecht ihre Generation sein würde, welche dies auch praktisch betreffen könnte. Nun schien sich aber, zumindest wenn sie mit sehr viel Glück einen hierzu einigermaßen geeigneten Planeten in ihrer jetzigen Nähe finden sollten, genau so etwas abzuzeichnen.
Thomas versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, was auch ihm in solch einer schwierigen Situation und nachdem er sich in der virtuellen Welt derart verausgabt hatte alles andere als leicht fiel. Allerdings hatte er keine Familie, was ihm nun zum ersten Mal in seinem Leben zu gute zu kommen schien. Denn er hatte niemanden, um den er sich jetzt wirklich sorgen musste. Er konnte sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren, zumindest so weit ihm dies in seinem derzeitig erschöpften Zustand überhaupt möglich war.
Er dachte angestrengt darüber nach, was die Ursache dieser neuen Entwicklung sein könnte. War es vielleicht möglich, dass er bei der Programmierung des Überwachungsprogramms irgendeinen gravierenden Fehler gemacht hatte?
Moment mal. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Hatte er nicht ein verdächtiges Informationspaket isoliert gehabt und es von Alfred überprüfen lassen? Hatte ihm Alfred nicht gesagt, dass es sich dabei um einen Steuerungsbefehl handeln würde? Dann könnte es doch ganz leicht sein, dass sich dieses Informationspaket mithilfe irgendeines cleveren Virus selbst von der Isolation befreit hat und nun für den Kollisionskurs verantwortlich war.
Plötzlich fühlte er sich angesichts eines neuerlichen Gedankens ein wenig benommen. Sein Herz fing zu rasen an und seine Atmung stockte für einen kurzen Augenblick. Denn was, wenn dieses Informationspaket die Kollision gar nicht verursacht sondern viel mehr sie alle vor einer möglichen Kollision BEWAHRT hätte?
Er keuchte schwer. Seine Beine zitterten, als bestünden sie aus Wackelpudding. Er musste sich, um nicht umzufallen, mit dem Rücken an die Wand anlehnen. Anschließend rutsche er scheinbar willenlos langsam an ihr herunter auf den Boden und setzte sich dort erstmal hin.
Oh man. Sollte es tatsächlich so sein, dann war es durchaus möglich, dass er für diese neue Situation verantwortlich war. Vielleicht hatte gerade sein Eingreifen, sein neues Überwachungsprogramm, dafür gesorgt, dass es nun zu dieser Katastrophe kommen konnte. Vielleicht war es SEINE Arbeit, welche ihre Mission scheitern lassen würde; welche nun den Untergang der gesamten Menschheit heraufbeschwor.
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Doch welche Handlungsweise war nun die Richtige, wenn er doch gar nicht sicher wissen konnte, welche Auswirkungen seine Handlungen haben konnten? Sollte er vielleicht einfach sein Überwachungsprogramm wieder entfernen, weil sich daraufhin auch ihre derzeitige Situation wieder automatisch normalisieren könnte?
Dies schien ihm wenigstens einen Versuch wert zu sein. Zumindest schlimmer konnte es jetzt wohl nicht mehr werden.
Er versuchte, sich zusammenzureißen. Mühsam raffte er sich wieder auf und klopfte sich seine Kleidung vom imaginären Schmutz des Bodens ab, schließlich musste jemand wie er selbst oder gerade in solch einer Situation auf sein Äußeres penibel bedacht sein. Anschließend betrat er stürmisch, weil mit neuen Aufgaben, sein Quartier, denn auch hier gab es eine Schnittstelle zum Bordcomputer. Zwar konnte er damit nicht in die Programmierung aktiv eingreifen, aber er konnte zumindest beobachten, was sich dort abspielte. Er wollte zunächst sowieso erst einmal nur herausfinden, wie viel Zeit ihnen bis zur Kollision überhaupt noch blieb.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Bin gespannt wie sich das alles noch aufklären wird.

Dieter Halle (19.05.2011)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Der Wandel tobt  
Das Geheimnis  
Die letzte Reise  
Die blöde Katze  
All Hallows' Eve 3/3  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De