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Das Wunder der Weihnachtszeit

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Faszinierend, welchen Einfluss das Wetter auf die Menschen haben kann. Es beeinflusst die Wahrnehmung unserer Umgebung entscheidend mit; sorgt dafür, dass unsere Körper, sei es nun hormonell oder rein durch die Sinne, angeregt wird; dass der Mensch auf eine bestimmte Art und Weise reagiert – jemand sich also individuell darauf beruhend verhält, beziehungsweise verhalten muss. Wie diese Reaktion im Einzelfall ausfällt, ist in gewisser Weise angelegt, das heißt auch kulturell vorgeprägt. Die Größe des Spielraums, dies selbst mitgestalten zu können, kann aber ausgesprochen unterschiedlich ausgeprägt sein. Denn dies hängt von den grundsätzlichen Kapazitäten ab, die bei einem Individuum vorliegen, vor allem geistiger Natur. Umso größere geistige Kapazitäten vorliegen, umso größer ist der mögliche Spielraum, auf vorgegebene Bedingungen reagieren zu können. Umso größer dann auch das Erstaunen, wenn erkannt wird, wie gering ausgeprägt diese Fähigkeit bei Mitmenschen sein kann. Und das nur umso mehr, bezieht man dies auf eine Masse von Menschen.

Man könnte den Körper, den eine Masse von Menschen bilden kann, vielleicht gar als eine Entität auffassen. Ausreißer werden ausgeglichen. Sie verlieren sich darin; werden unsichtbar und die Reaktionen auf die Bedingungen auf diese Weise vereinheitlicht. Und noch wichtiger: vorhersehbar.

Diese Ausreißer werden vom Standpunkt der Masse aus betrachtet oftmals als Kuriositäten angesehen; als Sonderlinge; als von der eigenen Gruppe abweichend und damit getrennt. Vielleicht werden sie gelegentlich sogar als gefährlich eingestuft, weil als potentielle Unterwanderung der eigenen Identität.

Mit dem Begriff Identität ist der Begriff Sinnstiftung sehr eng verbunden. Auf Seiten der Masse ebenso wie auf Seiten der Ausreißer. Denn ohne den Standpunkt der Masse kann es keinen Standpunkt außerhalb dessen geben und umgekehrt. Demnach benötigen sich beide gegenseitig, und zwar zur Orientierung; zur eigenen Definition; für die eigene Sinnstiftung und damit für die eigene Identität.

Hierbei spielen Symbole eine herausragende Rolle. Denn sie vermögen es, unser Inneres auf eine komplexe Weise anzusprechen; anzuregen; uns emotional zu reizen und so sogar körperlich reagieren zu lassen. Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen Körper und Geist; entsteht eine ganzheitliche Erfahrung, die durch die Interpretation dessen darüber hinaus auch noch sinnstiftend wirkt. Prägend und irgendwann auch tiefgreifend verankert. Dadurch auch komplex beeinflussend. Einwirkend auf das langfristige Denken und Verhalten eines Menschen. Ist ein Organismus solchen Bedingungen ausgesetzt, stellt es eine große Herausforderung dar, sich diesem Prozess zu entziehen.

Das Gefühl von Einsamkeit ist ein Gefühl, das einen Menschen schwer treffen kann. Denn es sorgt auf der emotionalen Ebene für eine Hemmung der Verwirklichung des eigenen Seins. Dadurch hat dieses Gefühl das Potential, ein geradezu existenzielles Problem darzustellen. Denn der menschliche Organismus ist grundsätzlich darauf ausgelegt, sich mit seiner Umwelt zu verbinden, insbesondere mit seinen Mitmenschen. Und die Weihnachtszeit kann man hierbei geradezu als einen Katalysator ansehen; als eine extreme Aufforderung an das Individuum, zu beweisen, dass es ein soziales Wesen ist; dass es ein soziales Umfeld hat, immer auch im Hinblick auf die Verwirklichung des eigenen Seins. Überall tauchen in dieser Zeit des Jahres Symbole auf, die auf den Organismus einwirken, im privaten wie im öffentlichen Raum. Dies setzt das emotionale Erleben eines Individuums erheblich unter Druck. Es werden heftigste Reaktionen provoziert, die, und das kommt noch erschwerend hinzu, in ihren Motiven in erster Linie kapitalistisch eingefärbt sind. Liegt nun aus welchem Grund auch immer eine diesbezügliche Hemmung vor, dann wird das Gefühl der Entfremdung und vor allem das Gefühl der Einsamkeit durch solch ein Umfeld erheblich verstärkt; geradezu potenziert. Unausweichlich wird die Konfrontation damit und damit auch mit dem Schmerz.

Der Schmerz steigt stetig an. In geistiger, in seelischer aber auch in körperlicher Hinsicht. Der Druck wächst. Was sich in der restlichen Zeit des Jahres meistens lediglich unter der Oberfläche abzuspielen scheint, wird plötzlich zu einem Flächenbrand; zu einem regelrechten Vulkanausbruch an tief empfundenen Emotionen; an negativer Energie, die es zu kompensieren gilt. Unaufhörlich, und das, während das Umfeld stetig gute Laune propagiert; während das Miteinander; das Gemeinsame an sich, unaufhörlich abgefeiert wird. Eine Tortur; ein Martyrium. Die ganze weihnachtliche Zeit hindurch wird dadurch zu einem einzigen Leiden. Dies zu überleben, das ist das eigentliche Wunder der gesamten Weihnachtszeit.

Es wird weitergemacht, auch mit dem Wissen, dass nur ein Jahr vergehen muss, und all dies beginnt erneut. Der absolute Höhepunkt der Entfremdung und der damit einhergehenden Einsamkeit eines Individuums, das, aus welchem Grund auch immer, dieses alljährliche Theater nicht mitmachen möchte oder vielleicht auch nicht mitmachen kann. Eine Zeit, in der der Kapitalismus seine grelle, aufdringliche Fratze offen und ungeschminkt zeigt; in der die Masse seine größte Schwäche offenbart, nämlich dabei zu versagen, dem irgendetwas entgegen zu setzen. Das regelrechte Zertrümmern der eigenen Wünsche ist die unausweichliche Folge. Auch das Zertrümmern der eigenen Gedanken und damit einhergehend der eigenen Würde. Eine Zeit, in der alles gleichgeschaltet zu sein scheint; in der das regierende Element die vollständige Kontrolle über die Massen übernimmt, weil es auf emotionaler Ebene stattfindet. Eine Zeit, in der das Kapital die Massen mit Frohsinn überschwemmt, natürlich im Konsum.

Zeis fühlt sich angesichts dessen wie ein kleines schimmerndes Licht, das von all dem kitschigen Glitzer hoffnungslos überstrahlt wird. Er spürt, dass er in dieser Zeit verloren hat, und er weiß es auch. Die Masse ist einfach besser organisiert, natürlich. Das Kapital hat die Macht und bringt Leute dazu, sich genau so zu verhalten, wie dies von ihm gewünscht wird. Nämlich zu konsumieren; Glitzerzeugs aufzuhängen; ganz bestimmte Dinge gut zu finden und ganz bestimmte Dinge abzulehnen. Auch Zeis lehnt ganz bestimmte Dinge ab. Genau jene Dinge, die die Masse in jener Zeit gut findet. Dabei fühlt er sich wie ein winzig kleiner Fisch unter Haien, der verzweifelt versucht, in die falsche Richtung zu schwimmen. Gegen den Strom. Der von den Wirbeln, die von der Strömung verursacht werden, hin und her geschleudert wird; die Orientierung verliert; sich wieder neu organisiert, nur damit wieder das Gleiche mit ihm geschieht. Und dies wieder und wieder. Denn es gelingt ihm einfach nicht, seinen denkenden Kopf auszuschalten; seinen Emotionen freien Lauf zu lassen; sich mit Haut und Haaren auf dieses böse Spiel einzulassen. Er könnte noch so viel konsumieren; noch so viele schicke Gläser Glühwein in sich hineinschütten, es würde nur dazu führen, dass sich seine Abneigung den Marionetten gegenüber um ihn herum noch weiter verstärkt. Das Glitzern; die gespielte, aufgesetzte Freude der Leute; das Zelebrieren der Oberflächlichkeit. Vor allem aber das Verdrängen jedweder Tiefe. Dies alles ist etwas, das er nicht annehmen kann, weil es ganz einfach seinen tiefsten Überzeugungen wieder spricht.

Zeis spürt eine tiefe Sehnsucht in sich, sich mit einem anderen Menschen zu verbinden. Doch seine Sehnsucht reicht viel tiefer, als es die Oberflächlichkeit der Weihnachtszeit zulässt. Er sucht nach Wahrhaftigkeit. Die Weihnachtszeit aber, sie versucht exakt dies mit allen nur erdenklichen Mitteln zu verschleiern. Er sucht nach Seelenverwandtschaft. Die Weihnachtszeit suggeriert zwar eine solche. Aber nur scheinbar. Es fühlt sich nicht echt für ihn an. Es wird eine Illusion erzeugt. Ein Schein. Und damit genau das, was Zeis ablehnt. Er möchte zum tatsächlichen Sein der Existenz durchdringen; möchte genau dahin, wo die meisten Menschen gerade nicht hinwollen. Die ganze Kultur, so sieht es für Zeis oft aus, scheint nur darauf ausgelegt zu sein, sich exakt von jenen Fragen abzulenken, die den Menschen erst zu dem machen, was er ist. Er soll kein sinnsuchendes Wesen sein, sondern ein Wesen, das seinen Instinkten folgt – aber in eine vorgegebene; vor allem in eine gewünschte Richtung. Denn in der Masse funktioniert ein Mensch nur, wenn er möglichst blind dem Reiz-Reaktions-Schema folgt. Hierzu muss er aber ständig abgelenkt und geblendet werden.

Zeis streift in seiner schwarzen Kleidung umher. Er hat schwarze Schuhe an; eine schwarze Hose; ein schwarzes Hemd und einen schwarzen Pullover. Eine schwarze Jacke. Natürlich hat er auch einen schwarzen Schaal und eine schwarze Mütze auf seinem Kopf. Diese Kleidung lässt ihn auf der einen Seite durchaus elegant wirken, aber irgendwie auch unauffällig. Es versetzt ihn in die Lage, zu beobachten, was um ihn herum in dieser penetranten Zeit wirklich geschieht. Es macht ihn zu einem Spion; zu einer Persona non grata, dessen ist er sich nur allzu bewusst. Doch erst diese Position lässt ihn die Einsamkeit hinter der Fassade des Lächelns von Menschen erkennen, die damit eigentlich nicht auffallen wollen, weil sie nicht als unangepasst gelten möchten. Es sind eben jene, die von allen am gefährdetsten sind, weil sie zwar unendliches Leid ertragen müssen, es aber niemandem so richtig auffällt. Und noch viel schlimmer: alle denken, es sei alles in Ordnung mit ihnen, obwohl nichts mit ihnen in Ordnung ist. Alle denken, dass es sich dabei um einen Menschen handelt, um die man sich nicht sorgen oder kümmern muss, obwohl es in Wirklichkeit genau jene Menschen sind, um die sich am meisten gesorgt und gekümmert werden müsste. Das sind genau jene Menschen also, die sich stetig am Rande dessen befinden, was ein einzelner Mensch überhaupt im Stande ist, auszuhalten.

Zeis erkennt diese Menschen. Doch ihnen zu helfen, dazu ist er nicht in der Lage. Denn würde er ihnen zeigen, was er über sie erkannt hat; würde er dies ihnen gegenüber tatsächlich offenbaren, würden sie sich auf der Stelle entlarvt fühlen. Sie würden alles abstreiten. Vielleicht würden sie ihn sogar verachten und ihn beschimpfen. Denn er ist der Spiegel; das Abbild dessen, was ist, was aber nicht sein darf.

Zeis fühlt sich mit diesen Menschen verbunden, ist es aber nicht, weil kann es gar nicht sein. Denn er lehnt deren Lösung für dieses Problem im Grunde ab, weil dadurch nichts gelöst wird. Ganz im Gegenteil: das Problem wird noch verschlimmert, weil es auf diese Weise systematisch verleugnet wird. Es handelt sich um tragische Schicksale einer Gesellschaft, die hierfür den Nährboden legt; die geradezu dazu einlädt, exakt diesen Weg zu beschreiten.

Ist es angesichts dessen verwunderlich, dass Zeis sich dazu entschieden hat, diese Gesellschaft, die solche Prozesse zulässt, oder in gewisser Weise gar fördert, ablehnt?

Sicherlich nicht.

Und doch ist er selbst ein Teil dieser Schicksalsgemeinschaft, mit einer Funktion, die vielleicht sogar nötig ist, damit eine Gesellschaft so funktionieren kann, wie sie funktioniert. Die Frage ist nur, welche Funktion dies sein könnte.
 
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