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10 Seiten

Italienische Designerschuhe

Erotisches · Kurzgeschichten
Nicht mehr als eine Spur Schweiß auf glänzender Haut. Eine klare Linie über Wirbelkörpern, ein feuchter Tropfen im Genick, direkt unter dem Haaransatz. Ein nahezu unsichtbares Rinnsal Blut zwischen Schulterblatt und Oberarm; der Kratzer kaum tief genug, um das gebräunte Gewebe der Haut zu zerreißen.
Du liegst unter mir. Dein Atem fliegt und der Geruch deines Testosterons benebelt meine Sinne. Gibt es etwas, das besser riecht, als ein Mann kurz nach der körperlichen Vereinigung? Wenn der Duft von Duschgel und klarem Wasser, von mildem After Shave und gestärktem Oberhemd keinen Bestand mehr und das Tier über die Zivilisation gesiegt hat? Ich bezweifle es.
Du regst dich, aber meine Arme halten dich unten. Wir liegen übereinander wie gekreuzigt. Alle Viere von uns gestreckt, ich in deinem Rücken, noch halb in dir und zu träge, um mich zu bewegen. Dein Po schmiegt sich gegen meinen Unterleib, ich spüre die letzten Kontraktionen in deinem Inneren. Es ist Erfüllung und sei es auch nur für einen Moment.

Die Sonne wandert. Gnadenlos und unerbittlich. Sie streichelt sachte die klaren Strukturen des Hotelzimmers, fällt auf frische Handtücher, italienische Designerschuhe und ein verlorenes Stück Pfefferminz, das im Eifer des Gefechts sorglos von einem Kissen gefegt wurde. Es riecht nach Weichspüler und fremden Händen.
Ich drehe den Kopf und betrachte das Chaos, das Wirrwarr aus Kleidung, die verloren auf dem dezent gemusterten Teppichboden liegt. Es ist mein innigster Wunsch, die Augen zu schließen. Ich will es nicht sehen. Nicht deine teuren Anzughosen mit der strengen Bügelfalte neben meinen kunstvoll zerrissenen Jeans, aus denen die silberne Kette meines Portemonnaies baumelt. Nicht dein sandfarbenes Oberhemd neben meinem schwarzen Muskelshirt. Es steht dir nicht, weißt du? Die Farbe macht dich blass, die dunklen Ringe unter deinen Augen präsenter. Aber davon willst du nichts wissen. Dein Leben unterliegt der Öffentlichkeit, festen Vorstellungen von Auftreten und Mode, von Moral und Rechtschaffenheit.
Ich reiße meinen Blick von den Zeugen unserer frappierender Gegensätze los, doch ich werde nicht dafür belohnt. Denn stattdessen sehe ich deinen Oberarm vor mir, die verschlungenen Pfade des Tribals, das sich über deinen Muskel und über deine Schulter zieht. Ich habe diese Schlangenlinien oft geküsst, die Finger darin vergraben. Schwarz und Weinrot auf Bronze. Verspielte Formen, in denen man alles und nichts entdecken kann. Sie passen nicht zu dir. Nicht mehr.

„Lass mich aufstehen.“

Ich will nicht. Nicht hier und heute und sonst auch nicht. Nie würde ich es zugeben, aber es tut jedes Mal von Neuem weh. Verlange ich zu viel? Vielleicht. Die Probleme lassen sich nicht von der Hand weisen. Es sind nicht nur die unterschiedlichen Welten, aus denen wir stammen. Du bist der Störfaktor. Du und dein engstirniges Denken, dein Selbstbetrug, deine Lügen, deine Unfähigkeit, zu dir selbst zu stehen. Dein verdammtes Selbstbild und deine verfluchte Erwartungshaltung.

„Tom, lass mich jetzt hoch!“

Für einen Mann, der gerade noch in meinen Armen gewinselt hat, der sich verzweifelt gewünscht hat, dominiert und nach Hause geführt zu werden, klingst du zu aggressiv. Zu fordernd. Machen wir uns nichts vor: Du bist nicht mehr da. Du bist bereits gegangen, obwohl mein Glied noch halb in dir ist und meine Zunge ungefragt den Schweiß in deinem Nacken kostet. Obwohl ich dich noch spüren, schmecken, riechen kann. Ich möchte dich schrecklich gerne küssen. Verspielt und langsam, erregend und beruhigend zugleich. Aber daran hast du kein Interesse mehr.

Ich lasse dich gehen, ziehe mich vorsichtig zurück und denke im Stillen, dass ich zu lange gewartet habe. Meine Erektion ist geschwunden und damit auch die Spannung um das Kondom. Mit einem unterdrückten Seufzen rolle ich mich auf den Rücken und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Ich könnte ein Gespräch suchen, aber ich lasse es. Wer blitzt schon gerne ab? Und du hast mich schon so oft abgewiesen.

Trotz – oder gerade wegen - des Durcheinanders in mir kann ich nicht anders, als dich anzustarren, als du schwungvoll aus dem Bett aufstehst. Hey, ich bin und bleibe ein Kerl und deinem Anblick kann ich nicht widerstehen. Das ist ein Teil des Problems.
Du greifst dir an den Hintern und verziehst für eine Sekunde das Gesicht. Es tut weh, nicht wahr? Ich war nicht besonders vorsichtig, obwohl ich wusste, dass es eine Weile her sein muss. Oder ich hoffe es zumindest. Ja, ich bin eifersüchtig. Der Gedanke, dass du einen anderen Mann in die Nähe deines kleinen, festen Po lassen könntest, treibt mir die Galle auf die Zunge. Denn ich bekomme zu wenig von dir, um damit umgehen zu können. Viel zu wenig.

Du siehst dich nicht nach mir um, als du im Bad verschwindest. Du schließt ab. Ich war gerade in dir, habe jede intime Stelle deines Körpers erforscht, aber beim Duschen schließt du hinter dir ab. Shit. Du gönnst mir nur wenig. Das war schon immer so und ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass sich daran etwas ändern wird.

Wann hat es begonnen? Spielen wir diese hässliche Variante von Katz und Maus wirklich schon fünfzehn lange Jahre? Ja, darauf läuft es hinaus. Fünfzehn Jahre und ein paar trostlose Monate.

Ich erinnere mich genau. Wir waren uns so ähnlich, du und ich. Eines Tages warst du da, standst im Klassenraum wie ein verlorener Welpe und zogst die Blicke deiner neuen Mitschüler auf dich. Augenblicklich war ich fasziniert. Nicht nur, weil ich mit meinen siebzehn Jahren jedes Stück Frischfleisch in Gedanken auszog und deine Jeans so eng waren, dass sie kaum etwas meiner ohnehin regen Phantasie überließen. Es war dein Auftreten, das mich innerlich jubilieren ließ. Wir waren seelenverwandt. Nein, ich hatte damals keine esoterische Ader, die mich auf diese Weise empfinden ließ. Es war schlicht dein Äußeres, das mir alles verriet, was ich wissen musste. Du warst anders als die anderen. Du trugst eine Lederjacke, wo jeder andere sich in diesen Tagen in Baseball-Jacken kleidete. Deine Füße steckten in Boots, obwohl Doc Martens und Springerstiefel aus der Mode gekommen waren und verrückten Turnschuhen mit Luftkissen Platz gemacht hatten. Deine Haare hingen halb lang über deine Ohren statt sich in einem Beckham-Kopfputz auf deinem Schädel zu erheben. Ich liebte die blaue Strähne, die du dir hinten die blonden Locken gefärbt hattest.
Du warst mein Spiegelbild. Nicht im optischen Sinne, sondern in Sachen Wesen und Rebellion. Du wolltest nicht wie die anderen sein. Genau wie ich.

Innerhalb von Tagen wurden wir Freunde. Nicht, indem wir viel redeten. Es gab nur wenig, was wir dem jeweils anderen erklären mussten. Es passte schlicht. Es gab Schüler in unserem Jahrgang, die sich über uns lustig machten, uns als Freaks bezeichneten. Und wir waren stolz darauf, haben auf sie herunter gesehen. Sie, die große Töne spuckten und ihren Selbstwert an ihren Hosen und angeblich flachgelegten Freundinnen maßen.
Wann genau es begann, weiß ich nicht. Ich könnte kein Datum benennen. Aber es war einer dieser Tage, an denen nichts funktioniert und alles schief geht. Eine unerwartete Matheklausur hatte mich eiskalt erwischt. Als ich den Klassenraum verließ, wusste ich, dass ich es mit Pauken und Trompeten versaut hatte. Dir ging es nicht besser. Wir waren frustriert und gingen zu mir nach Hause, machten uns an der Minibar meines Vaters zu schaffen und taten Dinge, die Jugendliche nicht tun sollten und die eine Menge mit Zitronen, Salz und Tequila zu tun hatten.
Gegen Abend war ich so betrunken wie noch nie zuvor in meinem Leben. Heute ärgere ich mich darüber. Ich hätte gerne eine klarere Erinnerung an diesen Tag. Was ich weiß, ist, dass wir lachend auf meinem Bett lagen und uns kaum beruhigen konnten. Ich weiß, dass mich das Heben und Senken deines flachen Bauches unter deinem verwaschenen Karohemd wahnsinnig gemacht hat. Wann meine Hand auf Wanderschaft ging, kann ich nicht sagen. Aber ich stieß auf keinerlei Widerstand. Anfangs beließ ich es bei deiner Brust, deinem Arm. In tiefere Gefilde traute ich mich nicht. Deine Augen waren geschlossen, dein Kinn gereckt. Der unregelmäßig wachsende Flaum deines jugendlichen Bartes ließ deine Wangen uneben wirken. Deine Lippen standen offen und ich dachte, ich müsste sterben, als du mit der Zungenspitze eine feuchte Spur darauf hinterließt. Ich wollte dich so sehr, dass es an Verzweiflung grenzte.
Keine Illusionen bitte, es war keine Liebe. Es war Geilheit. Nicht mehr und nicht weniger. Als schwuler Junge tut man sich oft schwer, seine ersten Erfahrungen zu sammeln. Die Risiken sind größer, die Hemmungen ebenso. Die Suche komplizierter. Selbstverständlich bekommen auch heterosexuelle Teenager Körbe, aber sie leben nicht mit dem Risiko, hinterher gegen ihren Willen geoutet zu werden. Oder habe nur ich das damals so empfunden? Keine Ahnung. Ich war jedenfalls ein unbeschriebenes Blatt und wollte diesen Zustand ändern. Mit dir.

Du hast mir dabei geholfen. Auf einmal wandtest du den Kopf beiseite – ich höre heute noch das Rascheln der Bettwäsche unter deinen Haaren – und sagtest leise: „Küsst du mich jetzt endlich mal?“
Von da an war ich verliebt. Zumindest für diesen einen Abend.
Zu gerne kam ich deinem Wunsch nach. Wir haben uns schrecklich dumm angestellt, fürchte ich. Himmel, wir waren betrunken und scharf und neugierig und vollkommen ahnungslos. Aber ich lag auf dir und durfte dich küssen, mich an dir reiben. Es war der Himmel auf Erden. Schon damals habe ich deine Leidenschaft geliebt. Du bist ein Mensch, der sich gehen lässt. Jemand, der es gerne hat, wenn der andere die Führung übernimmt und es dir gestattet, schwach zu sein. Andere würden sagen, du bist ein fauler Hund. Aber deine Hingabe ist grenzenlos. Du verschenkst dich selbst und vertraust darauf, dass ich weiß, was ich tue.
Damals wusste ich es natürlich nicht. Ich bin nach ein paar Minuten in meiner Hose gekommen und vermutlich ging es dir nicht anders. Ich habe es geliebt.

Von da an geschah es öfter. Wir sprachen nie darüber. Wenn es uns juckte, ließen wir es darauf ankommen und bauten darauf, dass der jeweils andere Lust auf uns hatte. Irgendwann kurz vor dem Abitur hattest du deine erste Freundin. Ich bin ziemlich ausgerastet, denn ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass du mit einem Mädchen ins Bett gingst. Das passte nicht in meine Welt und schon gar nicht zu meinen aufkeimenden Gefühlen, die ich gar nicht haben wollte.
Wochenlang herrschte Funkstille zwischen uns, bis du eines Tages bei mir auf der Matte standst und stumpf fragtest: „Willst du mit mir schlafen?“
Und wie ich wollte. Für mich war es göttlich, für dich weniger. Es war kein böser Wille, aber zwei Anfänger auf diesem Sektor... das ist nicht die beste Kombination. Aber wir lernten gemeinsam, nutzten jedes Wochenende, jeden Nachmittag, an dem wir allein sein konnten. Bei dir oder bei mir. Einmal nach dem Unterricht in der Turnhalle – schlechte Idee, aber wir hatten Glück -, einmal in unserer Verzweiflung in einem schäbigen Hotelzimmer, das uns fast unser ganzes Taschengeld kostete.

Gefühle waren nie ein Thema. Wie sehr ich an dir hing und in dich verliebt war, begriff ich erst, als wir durch den Zivildienst getrennt wurden. Dass du nach diesem Jahr kein Interesse daran hattest, gemeinsam mit mir auf eine Universität zu gehen, hat mir das Herz gebrochen.
Aber du bist immer zurückgekommen, immer wieder aufgetaucht, hast an meiner Tür gekratzt, die Arme um meine Taille gelegt und gesagt: „Gott, ich brauche dich heute Nacht.“
Wir trafen uns regelmäßig, aber selten. Wir waren beide Studenten und permanent ohne Geld in der Tasche. Du warst in Hamburg, um Medizin zu studieren, ich in Hannover von einem Studienfach zum nächsten wechselnd, bis ich bei der Kunst landete. Alle paar Monate nur eine Nacht. Aber ich will mich nicht beschweren. Es waren Feuerwerke der Sinnlichkeit. Deine Begierde überwand sämtliche Hemmungen. Dein Hunger war überwältigend. Wenn ich schon längst erschöpft war, krochst du an mir entlang und lecktest in nassen Bahnen über meine Hoden und mein Glied.
„Einmal noch“, flüstertest du stets heiser. „Nur noch einmal. Ich kann nicht warten.“

Ich war dabei, als du dir dein Tattoo stechen ließt. Mir hat dieser Tag viel bedeutet, denn ich fand es unglaublich sexy. Überhaupt werde ich von deinem Körper angezogen wie die Motte vom Licht. Ich habe dich letztendlich heranwachsen sehen. Vom schüchternen Teenager mit schmalen Schultern und noch schmaleren Armen zum sportlich-sehnigen Mann. Ich habe miterlebt, wie dein Rücken breiter wurde und sich in Kombination mit deinen Hüften die Dreiecksform bildete, die mich um den Verstand bringt.
Du bist sportlich geworden. Ich wünschte, das wäre die einzige Veränderung geblieben.

Aber es kam anders. Ich weiß nicht, wann ich dich verloren habe. Ich weiß nicht, wann du zu der Sorte Mann geworden bist, die du immer verabscheut hast. Wo ist der Rebell in dir? Ist er tot oder hast du ihn nur eingesperrt?
Du hast mir nicht gesagt, dass du heiraten wirst. Eines Tages hattest du diesen verfluchten Ring am Finger und mir wurde bewusst, wie sehr ich gehofft hatte. Wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass du mich so willst wie ich dich. Ich wollte sterben. Die Schmerzen waren unerträglich und führten zu dem einzigen Streit, den wir je hatten.
Verletzt, wie ich war, wollte ich wissen, wo wir stehen, was ich dir bedeute, ob du mich nicht liebst, ob es dich nicht anekelt, eine Frau zu heiraten, obwohl du schwul bist.

Deine Antwort war niederschmetternd: „Ich bin nicht schwul. Nie gewesen. Ich gehe nur gerne mit dir ins Bett. Kathrin ist eine gute Partie.“
Daran glaubst du bis heute. Oder willst es glauben. Genau wie du daran glauben willst, dass dein Leben dich glücklich macht. Du bist gut betucht, das weiß ich. Du musst dir keine Sorgen machen, ob am Ende des Monats noch genug Geld für die Inspektion des Autos da ist. Du arbeitest in der Praxis deines Vaters, lebst mit deiner Familie in einem schicken Einfamilienhaus und hast eine Putzfrau. Ich dagegen bin ein Künstler, der mit Metall und Stahl arbeitet, lebe immer am finanziellen Limit und wohne in einer chaotischen Wohngemeinschaft mit vier anderen Querdenkern. Aber ich bin glücklich. Ich kann ich selbst sein. Ich muss mich niemandem erklären und vor niemandem davonlaufen. Ich muss niemanden anlügen, wenn wir uns treffen. Wann bist du zum Lügner geworden? Wann wurden italienische Designerschuhe wichtiger als der Wunsch, die Welt zu verändern? Besser zu machen?
Oh, aber du machst die Welt ja besser. Du liftest hässlichen Frauen die Augen und stopfst ihnen Silikon in ihr welkendes Dekolleté. Ja, ich bin bitter. Ich kann es nicht mehr ertragen.
Und doch springe ich, wenn der Anruf kommt: „Ich muss dich sehen. Dringend.“ Jedes Mal.

Als du aus dem Bad kommst, glänzt deine Haut vor Feuchtigkeit. Du ziehst dich wortlos an. Ich erwarte, dass du gehst. Schweigend, kühl. Wo ist der Mann, der nie genug von mir bekommen kann? Der mich beißt und mir fast weh tut, weil er mich ganz nah bei sich haben will? Dein Anzug ist maßgeschneidert. Ich erkenne dich in diesem Aufzug kaum.
Ich sage nichts. Ich möchte nicht durch meine bebende Stimme verraten, wie es in mir aussieht. Ich möchte die Situation nicht komplizierter machen, indem ich Öl ins Feuer gieße und dich daran erinnere, dass wir für mich mehr als Sex teilen. Dass ich dich liebe und nicht von dir loskomme. Seit fünfzehn Jahren nicht.

Du siehst verloren aus, als du vor dem Bett stehst und dir durch die kurzen Haare streichst. Von deinen Locken ist nichts mehr zu sehen. Du hast sie getrimmt wie du auch dich selbst zurechtgestutzt hast.
Du wirkst krank. So ist es jedes Mal. Wenn wir uns treffen, brennst du vor Energie wie ein Leuchtfeuer im Dunkeln. Wenn wir miteinander im Bett sind, bist du wie ein verlorenes Kind, das sich an mich klammert. Und wenn wir uns wieder trennen, siehst du aus, als würdest du dich am liebsten übergeben. Manchmal frage ich mich, ob das damit zu tun hat, dass du dich vor dir selbst ekelst. Vor dir und davor, dass du es genießt, was ich mit dir anstelle.

Ich fahre zusammen, als du dich unerwartet räusperst. Warum bist du noch hier? Solltest du nicht längst aus der Tür sein und auf dem Weg nach Hause? Etwas in mir hofft wider jede Vernunft. Unter meiner Fassade, die du mir aufgezwungen hast, gibt es immer noch Träume. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie zum Vorschein kommen und wieder enttäuscht werden. Bitte geh.
„Ich sterbe“, sagst du plötzlich und schlingst die Arme um deinen Oberkörper. Kälte vereist meine Brust, meine Gliedmaßen, jede einzelne Nervenbahn. Es ist eine ehrliche, direkte Reaktion auf die Vorstellung, ein Leben ohne dich zu führen. Noch weniger von dir zu haben als jetzt. Sekundenlang will ich schreien, bis du mich erlöst und mir bewusst machst, dass du von keinem physischen Tod sprichst: „Ich kann nicht mehr, Tom. Ich kann das hier nicht mehr. Es bringt mich um.“
Was soll ich dazu sagen? Die Angst um dich wird zu einer Angst um uns. Habe ich mich nicht gerade noch beklagt, dass ich es selbst nicht mehr aushalte? Dass zu viel Zeit verstrichen ist? Dass ich mehr brauche? Ich sollte realistisch sein. Es wäre für uns beide besser, wenn wir uns nicht mehr träfen. Du tust mir weh und ich anscheinend auch dir. Denn selbst, wenn du mich nicht liebt, dann belügst du deine Ehefrau, um mich zu treffen.

Ein Wall legt sich über deine Augen, als ich nichts erwidere. Was erwartest du von mir? Dass ich sage: „Dann geh! Beenden wir es“?
Das kann ich nicht. Ich kann dich nicht wegschicken, wenn alles in mir betteln will, dass du bleibst. Dass du mich wählst.
„Ich muss los. Wir haben Probleme mit Mia. Sie hat eine Sprachstörung. Kathrin will, dass ich sie morgen früh zum Logopäden begleite.“
Mia ist deine Tochter. Du klingst dünn und gehetzt. Nicht, weil Mia seit ein paar Wochen lispelt – mehr ist es nicht und ich weiß, dass du Kathrins hysterische Art hasst -, sondern weil das Gummiband dich zurückreißt. Zurück in den Schoss deiner Familie. Zurück an einen Ort, an dem du nicht sein willst. Du liebst Mia, aber du liebst Kathrin nicht. Warum mir das in diesem Augenblick bewusst wird, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß es plötzlich.

Deine Hände zittern, als du in deine Schuhe schlüpfst. Du hast Schwierigkeiten, die Schnürsenkel zu binden und überhaupt scheinen dir die edlen Schuhe aus glattem Leder nicht zu passen. Sie sind zu klein für dich.

„Ich melde mich bei dir“, höre ich dich sagen. Ich erwidere nichts, aber meine Finger legen sich um die Kopfleiste des Bettes, duellieren sich mit dem Holz und suchen einen Weg, es in Stücke zu reißen.
Natürlich meldest du dich bei mir. Vielleicht nach vier Wochen, vielleicht nach einem halben Jahr. Und dann werden wir wieder in einem unfreundlichen Hotelzimmer sein und an unserer Lust ersticken. Du wirst wieder betteln und wimmern, stöhnen und schreien und dich von mir an den Rand der Ekstase führen lassen. Ich bedauere es, dass es nie anders herum möglich ist. Aber ich akzeptiere es. Ich nehme an, es hängt damit zusammen, dass du spüren musst, dass du mit einem Mann zusammen bist. Ich glaube, du brauchst das Gefühl, die Kontrolle aufzugeben und dich in schmutzig-hemmungslosen Männersex zu verlieren.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Du tust mir Leid.

Du bist an der Tür. Ich möchte dir so viel sagen, stranguliere mich selbst mit den Dingen, die ich nicht laut aussprechen darf. Versunken in meinem Schmerz und der Sehnsucht nach dem nächsten Treffen, die bereits jetzt an mir nagt, bemerke ich dein Zögern nicht.

Ich erwache erst aus meiner Trance, als du dich zu mir umdrehst und schreist: „Hast du mir nichts zu sagen? Gar nichts? Wolltest du nicht immer, dass ich bleibe? Und jetzt.... gibst du keinen Ton von dir?“
Verwirrt richte ich mich auf und sehe dich an. Ungefragt stiehlt sich erneut Hoffnung in meinen Geist. Ich will ihr den Hals umdrehen, doch ich bringe es nicht über mich.
Meinst du das, was ich denke? Willst du mir sagen, dass es einen Weg gibt? Dass du endlich erkannt hast, dass wir zusammengehören? Ich wage nicht zu hoffen.
Was erwartest du von mir? Ich stelle diese Frage laut, denn ich weiß es wirklich nicht.
„Dass du mir sagst, dass ich bleiben soll.“

Mein Herz fragt nicht nach Vernunft und Rationalität. Es setzt einen Schlag lang aus und poltert gleich darauf in doppeltem Tempo vorwärts. Ich kann nicht sprechen. Ich bringe es nicht über mich. Ich habe Angst. Wie viele Enttäuschungen kann ein Mensch überwinden, ohne dass er sich selbst verliert?
Mit weichen Knie stehe ich auf. Ich mache mir nicht die Mühe, mir etwas anzuziehen oder mir die Decke umzuwickeln, bevor ich auf dich zugehe. Meine nackten Zehen mögen das Gefühl des Hotelteppichs nicht. Dicht vor dir komme ich zum Stehen und schaue dich an. Du kaust an deiner Unterlippe und siehst wieder aus wie 17. Der Arzt und Familienvater ist gegangen, hat dich zurückgelassen. Keine Fassade mehr. Nur du. Jetzt erkenne ich dich wieder.

Kann ich es wagen? Ich denke zurück. Hat es je eine Situation wie diese gegeben? Einen Tag, an dem du mich gebeten hast, dir die Hand entgegen zu strecken? Ich will nicht abstürzen. Aber ich will auch nicht meinen Flug versäumen, nur weil ich zu viel Angst habe.
Ich kenne dich. Manchmal denke ich, ich kenne dich besser als du dich selbst. Du würdest so etwas nicht tun.... und wenn doch, ist es mir vielleicht sogar egal.
Vielleicht brauche ich für eine Nacht die Illusion, um die nächsten fünfzehn Jahre zu überstehen.

„Bleib“, raune ich tonlos und mache mich ohne ein weiteres Wort an deiner Kleidung zu schaffen. Meine Finger verhaspeln sich und reißen an dem verhassten Stoff, fetzen dir deine falsche Identität vom Leib. Etwas Kaltes berührt mein nacktes Bein und ich entdecke deinen Ehering. Ich sehe dir ins Gesicht, als ich ihn dir abnehme. Du lächelst scheu und legst mir die Arme um den Hals. Dein Kopf drängt sich gegen meine Schulter. Es ist lange her, dass du mir gestattest hast, dich auf diese Weise festzuhalten.
Wir küssen uns nicht. Wir drängen uns nicht aneinander. Der Raum ist von einer eigenartigen Elektrizität erfüllt, als ich dich zum Bett schiebe und mich fallen lasse. Du landest auf mir. Ich glaube, den Verstand zu verlieren, als du nach meiner Hand suchst und sie festhältst. Du zitterst so heftig, dass es deinen gesamten Körper schüttelt. Du sagst: „Es geht nicht mehr. Ich habe es wirklich versucht, aber es funktioniert nicht. Ich brauche mehr von dir.“
Und ich nicke und antworte: „Ich weiß.“
Wer sollte besser wissen, wie du dich fühlst, als ich?

Fünfzehn Jahre. Nach fünfzehn Jahren bin ich da, wo ich sein will. Mit dir. Es wird schwer werden. Kompliziert. Ich habe Angst, dass es schief geht und ich all die Jahre umsonst geträumt habe. Wir sind keine Teenager mehr. Wir sind erwachsen und führen ein eigenes Leben. Du hast ein Kind, eine Frau. Ich bin ein Freigeist und liebe mein Chaos, weiß aber nicht, wie viel davon in dir überlebt hat.
Und ich weiß nicht einmal, ob du in ein paar Stunden immer noch sicher bist, mit mir zusammen sein zu wollen. Vielleicht springst du auf, um zu fliehen. Vielleicht stößt du mich von dir, wenn du dich daran erinnerst, was du alles aufs Spiel setzt.
Aber ich weiß, dass du es endlich zugegeben hast und ich dich von jetzt an nicht mehr weglaufen lasse. Nicht vor dir selbst, nicht vor mir und nicht vor uns.

Zum ersten Mal gibt es Hoffnung.
 
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Kommentare  

Vielen herzlichen Dank. Auf so viel Rückmeldung hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt. :)

Raik Thorstad (26.05.2011)

Kann ich nur bestätigen. Schöner Text. Habe ich gerne gelesen.

Gerald W. (25.05.2011)

Exellenter Schreibstil Hocherotisch und sehr gut in die Psyche dieser beiden Männer hineinversetzt. Kurz: Sehr gelungen.

Else08 (25.05.2011)

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