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20 Seiten

Tod im Belt 2. Kapitel ( die Flucht )

Romane/Serien · Spannendes
© Geminus
17.06.85

Der metallene Klang aneinander schlagender Schlüssel holte Tanja in die Wirklichkeit ihrer tristen Gefängniszelle zurück. Annähernd eine Stunde hatte sie reglos auf der rauhen Wolldecke gesessen und gewartet, bis nach und nach die Anspannung einer lähmenden Müdigkeit gewichen war.
Erwartungsvoll stand sie von der Liege auf, ging ein paar Schritte auf die Zellentür zu und beobachtete wie Eugen Rispe in den Raum trat.
„Bist du soweit?“, fragte er ungeduldig und drückte die Tür hinter sich ins Schloß.
„Gott sei Dank, du bist es!“, für eine Sekunde schloß Tanja erleichtert die Augen und sog die feuchte Raumluft tief in sich hinein.
„Wen außer mir hast du denn sonst noch erwartet?“, fragte Rispe, der auf sie zugegangen war und jetzt unmittelbar vor ihr stand schroff. Tanja wendete sich ab und setzte sich zurück auf den Bettenrand. Aus einem Spalt zwischen der durchgelegenen Matratze und Wand, zog sie eine mitgenommene Zigarette, zündete sie mit einem Streichholz an und blies den Rauch mit geschlossenen Augen in Richtung Decke.
„Der ganze schöne Plan hätte ja auch aufgeflogen sein können, es wäre ja nicht das erste Mal, dass jemand etwas mitbekommen hat und die Klappe nicht halten kann.” Rispe strich sich fahrig durch das dünne, an den Schläfen bereits auf dem Rückzug befindliche Haar.
„Angst Tanja, hast du es dir vielleicht anders überlegt?” Sie schüttelte verhalten den Kopf. „Warum bist du dann so gereizt, alles läuft genau nach Plan?”
„Alles läuft genau nach Plan!“, wiederholte sie erregt, warf die brennende Zigarette trotzig auf den rauhen Betonboden und sah Rispe vorwurfsvoll an. „Nach wessen Plan, ich hab das Gefühl jeder um mich herum weiß Bescheid, nur ich selbst habe nicht die geringste Vorstellung was mich erwartet Ich komme mir vor wie ein Hummer der ahnungslos in Richtung Kochtopf getragen wird.” Rispe lachte lautlos in sich hinein.
„Der Vergleich ist gar nicht so schlecht“, dachte er anerkennend. Tanja stand wieder von der Liege auf und ging einen Schritt auf Rispe zu um in sein Gesicht zu sehen. Von dem wenigen Tageslicht, das um diese Uhrzeit noch durch das vergitterte Fenster fiel, blieb jedoch fast nichts übrig. Selbst der schwache Schimmer der Flurbeleuchtung, der durch den Spalt unter der Tür hereinlugte, schaffte es nicht den Raum soweit zu erhellen, als das sie mehr als nur schemenhafte Konturen erkennen konnte.
„Warum sagst du nicht endlich, wie ihr mich hinaus bringen wollt Eugen?“
Rispe drehte den Kopf in den Nacken, murmelte etwas unverständliches, steckte die Hände in die Hosentaschen und zischte Tanja dann genervt an.
„Du gehst mir mit deiner endlosen Fragerei auf den Geist, meine Aufgabe ist es nur dich aus Hoheneck heraus zu bringen. Alles Weitere liegt nicht bei mir, sieh es doch ein, es ist wie in einem Puzzle, von einem einzelnen Stein kannst du nicht auf das gesamte Bild schließen. Wenn einer von uns auffliegt, kann er niemand verraten, weil er dazu nicht imstande ist. Aber selbst wenn ich mehr wüßte, ich dürfte es dir im Moment doch nicht sagen, du mußt mir einfach vertrauen.”
„Vertrauen?.” Tanja spuckte das Wort förmlich aus. Sie kam nicht dazu länger als einen Moment über den ihr fremd gewordenen Begriff nachzudenken, als Rispe sie unsanft zur Seite schob, eine Taschenlampe aus der Dienstjacke zog, sie anknipste und in ihrem Schein eingehend die Zelle musterte.
Wie verabredet, hatte Tanja unter der rauen Decke des Bettes ihre Wäsche so geschickt arrangiert, dass es aussah als, ob jemand unter ihr schliefe. Auf dem Kopfkissen schimmerte rotblondes Haar im Lichtstrahl der Lampe. Rispe drehte sich überrascht um und betrachtete Tanja. Ihr sonst über die Schulter herabhängendes Haar reichte gerade noch bis in den Nacken.
„Die wachsen wieder nach“, sagte sie abwertend.
„Geschickt, hätte ich dir gar nicht zugetraut. Komm jetzt!”
Rispe hatte sie an der Schulter gefaßt und schob sie in Richtung Flur.
„Moment noch“, Tanja bückte sich, langte unters Bett und zog einen Stoffbeutel hervor.
„Was ist das?“ Eugen starrte sie überrascht an.
„Ein paar privaten Kleinigkeiten, Bilder von meiner Tochter und so.“ Mit einer überraschenden Bewegung riss Rispe den Beutel aus Tanjas, Hand und schleuderte ihn zurück unters Bett.
„Was glaubst du, was das hier ist, ein Umzug in eine andere Wohngegend, sollen wir vielleicht noch auf den Möbelwagen warten, der den sonstigen Kram mitnimmt.“ Rispes Hand hatte sich wie eine Schraubzwinge um ihre Schulter gelegt und zog sie in Richtung Ausgang. Von seiner Grobheit irritiert, lies sich Tanja widerstandslos mitziehen.
Vor der Zellentür befreite sie sich aus seinem Griff drehte sich um und betrachtete für einen Moment die sechs Quadratmetern, die in letzten vier Jahre ihr unfreiwilliges Zuhause gewesen waren. Die fleckigen weißen Wände, deren Anstrich mehr und mehr abblätterte. Der grau lackierten Stahlspind in dem die wenigen persönlichen Dinge beheimatet waren, deren Besitz ihr gestattet war. Das primitive Bett, das bei jeder Bewegung quietschende Geräusche von sich gab. Und nicht zuletzt ihre Geranie, die sie als lächerlich kleinen Sproß bekommen hatte. Sie hatte sich bestens entwickelt und ihre zartgrünen Ranken schoben sich mühelos mit fast schon frivoler Lust zwischen den Eisenstangen hindurch, mit denen das winzige Fenster vergittert war. Tanja hatte diese Zelle zuerst gehaßt, dann ignoriert und doch in Symbiose mit ihr gelebt. Und jetzt, da sie den Raum für immer verließ, kam dennoch fast so etwas wie Wehmut in ihr auf.
„Was ist nun?“, drängte Rispe. Seine zunehmende Nervosität war für Tanja fast körperlich spürbar.
„Ja ja, schließlich habe ich hier vier Jahre verbracht und auch wenn du es nicht verstehst, dass verbindet!”
„Kannst ja noch ein paar Jahre dranhängen, wenn du möchtest...“, entgegnete er mit leicht spöttischem Unterton. Tanjas verstohlener Blick streifte ihn nur kurz. Trotz des Geheimnisses das sie verband, war nie so etwas wie Vertrautheit zwischen Ihnen entstanden. Und was wußte sie auch von ihm.
Rispe war erst seit wenigen Wochen als Aufseher hier in Hoheneck, trotzdem kuschten seine Kollegen vor ihm. Er hatte ihr erzählt, dass er sich auf diese Stelle beworben hatte und vorher in einem anderen Gefängnis Dienst tat. Stimmte es, dass die Augen Spiegel der Seele sind? Seine Augen jedenfalls waren unergründlich und blieben ihr fremd. Tanja konnte für ihn weder Sympathie noch wirkliche Abneigung empfinden und hielt ihn sicherheitshalber auf Distanz. Aber konnte sie ihrer Intuition
überhaupt noch vertrauen. War sie möglicherweise durch das lange eingesperrt sein in einer Paranoia gefangen? In der grauen Dienstkleidung wirkte Rispe überkorrekt und unnahbar. Völlig überraschend hatte er sie vor zwei Wochen angesprochen und von einem Fluchtplan berichtet. Rispe handelte im Auftrag, dass war ihr längst klar. Warum, dass hatte sie sich seit dem Tag an dem er sie eingeweiht hatte immer wieder gefragt. Tanja ging davon aus, dass sie ausgewählt worden war, weil sie eine Menge zu erzählen hatte. Die Informationen würden einige Genossen arg in Bedrängnis bringen. Daher war auch nicht zugelassen worden, dass die BRD sie freikaufte, wie es in letzter Zeit immer öfter vorkam. Aus dem Gefängnis heraus würden ihr Wissen jedoch niemanden erreichen, aber vom Westen aus....
Die Spur eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Nur noch eine Frage von wenigen Tagen.
Aber wie ein heimlicher Besucher schlich sich gelegentlich ein leiser Zweifel in ihre Gedanken. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Jetzt jedoch war jede weitere Überlegung überflüssig. Es gab keinen Rückweg mehr. Wo wäre auch ihre Alternative gewesen?
Rispe drängte Tanja aus der Zelle, zog die Tür zu und schloß so geräuschlos wie möglich ab.
„Komm so leise wie möglich hinter mir her.” Sie riss sich von ihren Gedanken los und folgte ihm. Vor der Tür sah Tanja sich um. Wie erwartet hielt sich um diese Uhrzeit keine Person mehr in dem nach Scheuerpulver und Bohnerwachs riechendem Flur auf. Der endlose Gang an dem alle Zellentüren der 2. Etage grenzten, verlor sich im trüben Licht kugelförmiger Lampen. Eine Zelle nach der anderen zog vorbei. Stereotype, weiß lackierte Türen aus groben Holzlatten die von schmucklosen Eisenbeschlägen zusammengehalten wurden. In Augenhöhe war ein Spion angebracht, durch den der Innenraum zu jeder Zeit vom Wachpersonal eingesehen werden konnte. Privatsphäre war in Hoheneck gleich am ersten Tag ihrer Ankunft zu einem Fremdwort geworden. Hinter einer Abbiegung des Ganges erreichten sie den Aufenthaltsraum der Aufseher. Gewöhnlich bestand das Wachpersonal im Westflügel aus einem Mann und einer Frau die im
Achtstundentakt ausgewechselt wurden. Rispe drückte vorsichtig gegen die angelehnte Tür und betrachtete für einen Augenblick das Innere des Raumes. Den Finger auf seine Lippen gelegt, gab er Tanja ein Zeichen zu ihm zu kommen. Ungeachtet dessen, dass sie bereits seit vier Jahren inhaftiert war, hatte Tanja noch nie einen Blick hinein werfen können. Verblüfft registrierte sie, dass sich der Raum, bis auf seine Größe, kaum von ihrer Zelle unterschied. Vier Spinde, eine Liege und ein Tisch auf dem einige verblichene Zeitungen lagen, waren die wenigen Einrichtungsgegenstände. Doch der Raum war nicht menschenleer. Auf der Liege lag die Person, der Tanja am wenigsten zu begegnen hoffte, Gerlinde Patzeck. Auch sie trug ihre schmucklose graue Dienstuniform und offensichtlich war sie fest eingeschlafen.
Noch über die Distanz von zwei Metern drang der penetrante Schweißgeruch, den ihr ungepflegter Körper verströmte herüber. Gleich am ersten Tag hatten ihre Mitgefangenen sie vor der „Fetten Platzeck“, gewarnt. Sie gehörte hier in Hoheneck zu den am meisten gehaßten Aufseherinnen. Ob sie aufgrund ihrer angeborenen Neigungen hier Dienst tat, oder nur weil sie beim anderen Geschlecht keine Chance hatte, würde Tanja wohl nie erfahren. Tatsache war, dass wenn man ihr bei Zeiten nicht gefügig war, selbst kleinste Vergehen mit Essens- oder Schlafentzug geahndet wurden. Die Patzeck tauchte mit Vorliebe auf, wenn einmal in der Woche alle Frauen beim Duschen waren. Ihre hervorquellenden Schweinsaugen klebten an den dampfenden nackten Körpern. Ihre Lieblinge, wie sie von Gerlinde genannt wurden, kamen als einzige in den Genuß der sogenannten Vergünstigungen wie Zigaretten und gelegentlich auch echtem Bohnenkaffee, von dem die anderen nur träumen konnten. Sie wurden allerdings von den Mithäftlingen geschnitten und zahlten so ihren Preis. Tanja verachtete sie nicht, zu aussichtslos und öde war der Gefängnisalltag und zu begehrenswert die kleinen Annehmlichkeiten, die sich einige Frauen mit ihren gelegentlichen Liebesdiensten erkauften. Das gleichmäßige Heben und Senken Gerlindes Brust, beruhigte Tanja etwas.
„Ich war immer der Meinung, dass die Patzeck keinen Schlaf braucht“, flüsterte sie Rispe zu.
„Wenn man ein wenig nachhilft...“, antwortete er und zog ein verschlossenes Glas mit einer klaren Flüssigkeit aus der Tasche. „Bleib du hier stehen!” Er zog seine Dienstschuhe aus und ging auf Zehenspitzen durch den Raum bis zu einem offenen Spind. Tanjas Blick fiel auf einen liederlich gestapelten Stoß Dienstkleidung, der augenscheinlich Gerlinde gehörte. In dem Augenblick als Rispe einen Teil der Kleidung aus dem Spind zog, fiel eine Bürste, die zwischen dem Stoß gelegen hatte scheppernd auf den Boden. Mit einem Räuspern drehte sich Gerlinde auf ihrer Liege geräuschvoll um. Eine fettige Strähne blond gefärbten Haares fiel ihr über ihre feisten Wangen. Wie ein eisiger Schatten stieg Panik von Tanjas Magen bis in die Brust hinauf und ließ ihren Atem stocken. Auch Rispe verharrte bewegungslos. Doch dann verfiel die Patzeck wieder in leises rhythmisches Schnarchen. Rispe schob Tanja wieder zurück auf den Gang.
„Komm zieh das an. Ist vermutlich ein bisschen groß um die Hüfte, aber wenn du ein wenig auspolsterst müßte es gehen. Und steck deine restlichen Haare unter die Dienstmütze.” Tanja zog eilig ihre blaue Häftlingskleidung aus. Sie legte sie ordnungsgemäß zusammen, so dass der Schußbalken mit ihrer Kennummer die Mitte des Rückenteils bildete. Jede Häftlingskleidung besaß auf dem Rücken, den Ärmeln und seitlich an den Hosen diese gelben aufgenähten Längsstreifen. Rispe nahm den Stapel mit einem Kopfschütteln entgegen, ging zurück in den Wachraum und versteckte ihn unter dem Bett. Als er zurückkam stand Tanja in Unterwäsche vor ihm und starrte auf Gerlindes Dienstkleidung. Rispe schluckte. Nur mit Mühe gelang es ihm den Drang zu unterdrücken Tanja zu berühren. Einen Augenblick sah er sich, wie seine Hände unter ihr Unterhemd glitten. Das sie sich wehren würde, war Teil seiner ausufernden Phantasien, die ihn mehr und mehr erregte.
„Ist was?“, Rispe sah Tanja irritiert an.
„Was soll sein?”
„Du schienst irgendwie weit weg.” Er fühlte sich peinlich berührt. ihm wurde immer mehr bewußt, dass er sich auf dem schmalen Grad einer Rasierklinge bewegte, und dabei, war mehr und mehr die Kontrolle zu verlieren. Mit ihren fast achtunddreißig Jahren war Tanja zwar jenseits jugendlicher Makellosigkeit, aber immer noch begehrenswert. Ihre leicht schrägen, fast mandelförmigen Augen in Verbindung mit hohen Wangenknochen erregten Rispe. Lediglich ihre rotblonden schulterlangen Haare die sie regelmäßig aus ihrem Gesicht strich und hinter den Ohren zu fixieren suchte, fehlten.
„Das ausgerechnet ich die Klamotten der Platzeck tragen würde?“, dachte Tanja in einer Mischung zwischen Triumph und Abscheu. Wie erwartet zeigte sich Gerlindes Kleidung als etliche Nummern zu groß und mußte mit einigen Handtüchern ausgestopft werden.
„Mach hinne, die Ablösung wird jeden Augenblick auftauchen“, warnte Rispe. Gerade war Tanja fertig, als verhaltene Stimmen und Schritte aus dem unteren Flur zu ihnen herauf drangen.
„Los jetzt, verstecke dich in der Toilette nebenan und keinen Mucks, bis ich dich hole.” Er schob sie unsanft in einen winzigen gekachelten Raum der sich eine Tür weiter befand. Angewidert sah sich Tanja um. Die trostlose Einrichtung bestand aus einem schmutzigen, nach Urin stinkenden Pissoir, einer Kloschüssel ohne Deckel, einem Waschbecken mit tropfendem Wasserhahn neben dem ein fleckiges Handtuch an einem rostigen Haken hing.
Sich der Situation hingebend setzte sich Tanja auf den Rand der Kloschüssel und wartete. Nur Augenblicke später war die Ablösung angekommen.
„Hallo Eugen. Wie sieht’s aus, sind alle Schäfchen schön brav in ihren Betten?” Die Stimme gehörte Jochen Kessel, dem einzigen der Wärter die seine Menschlichkeit noch nicht gegen Verachtung eingetauscht hatte, mit der alle Insassen betrachtet wurden.
Er war schon viele Jahre in Hoheneck und hatte hier und da einige persönliche Worte für die Gefangenen übrig. Gelegentlich nahm er sich auch ihre Beschwerden zu Herzen und sorgte innerhalb seiner Möglichkeiten für Abhilfe. Die andere Person war unzweifelhaft Erika Holler. Sie trug aufgrund eines verkrüppelten Fußes einen Spezialschuh, dessen klackerndes Geräusch beim Auftreten unverwechselbar war. Sollte die Holler eine Persönlichkeitsstruktur besitzen, so war es ihr über Jahre gelungen sie perfekt zu verbergen. Sie wirkte mit ihrem vogelähnlichen Gesicht aus dem eine kurze aber spitze Nase ragte, den halblangen gelockten Haaren und den vielleicht hundertsechzig Zentimetern Körpergröße durchschnittlich und farblos. Die wenigen Worte die sie überhaupt mit den Gefangenen sprach waren durchweg belangloser Natur, als fürchtete sie sich mit einer Krankheit zu infizieren.

„Psst“, Rispe hielt den Finger vor seine Lippen und winkte die Beiden zu sich. Mit einer Handbewegung zeigte er auf die schlafende Gerlinde.
„Was ist mit der?“, fragte Jochen grinsend.
„Du weißt doch“, frotzelte Rispe, „nach einem heftigen Orgasmus ist sie immer erst mal erledigt!” Jochen prustete los,
„mach mal nen Punkt, wer sich mit der vergnügt, macht auch vor Erichs Alten keinen Rückzieher.” Erika schaute betreten auf den Boden.
„Ich weiss nicht was mit ihr los ist. Hat etwas von Kopfschmerzen gefaselt und sich hingelegt. Laß sie sich erst mal ein bißchen erholen. Ich bin eben noch die Runde gelaufen, ihr habt also noch etwas Zeit zum Lesen. Ich mach mich schon mal auf die Socken.” Jochen und Erika setzten sich an den Tisch.
„Was ist, wenn unsere Grazie aufwacht und du schon weg bist“, rief Jochen hinter Rispe her, der soeben den Raum verlassen wollte.
„Sag der fetten Wachtel, wenn sie das nächste Mal im Dienst einschläft, wird sie drei Wochen auf Gefängniskost gesetzt.” Erika zog ein mitleidiges Gesicht
„Das wird sie heftiger treffen als auspeitschen und Einzelhaft.” „Wenn ihr das mit dem auspeitschen nicht mal sogar gefällt“, entgegnete Rispe. Jochen hatte eine Zeitung aufgeschlagen und schmunzelte ihn an.
„Jetzt hau schon ab du elender Lästerer, bevor ich dich wegen böser Nachrede melden muß.” Auf das leise Klopfen an der Toilettentür hin kam Tanja heraus. Sie folgte Rispe, der dicht an die Wand des Flurs gedrängt in Richtung Ausgang ging.
„Bist du wirklich überzeugt der Wache fällt es nicht auf, wenn ich statt der Patzeck mit dir rauskomme.” Rispe hielt inne und antwortete ohne Tanja anzusehen.
„Also erstens ist der neue Wachhabende gerade mal 14 Tage im Dienst und zweitens hat Gerlinde bis letzte Woche Urlaub gehabt. Er hat sie also höchstens drei bis vier Male gesehen. Und wenn, dann immer mit mir zusammen. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass er heute etwas abgelenkt ist.” Rispe musterte sie. „Halt dich ab jetzt hinter mir im Schatten und zieh die Dienstmütze so weit wie möglich ins Gesicht.” Bis zur Wache hatten sie mehrere Treppen und Gänge zu durchqueren. Tanjas Zelle im Frauenzuchthaus Hoheneck war im zweiten Obergeschoß des Südflügels untergebracht. Einen Moment kamen ihr die vierundzwanzig Frauen, die mit ihr einsaßen in den Sinn. Einige waren wegen krimineller Delikte inhaftiert, andere wie sie selbst saßen wegen politischer Vergehen, angefangen von Staatshetze, Menschenhandel und versuchter Republikflucht bis hin zur vermeintlichen Westspionage.
Mehrere Etagen legten sie zurück, bis sie das Gebäude verließen. Tanja hielt geblendet die Hand vor ihre Augen. Kraftvolle Scheinwerfer leuchteten jeden Winkel des offenen Geländes erbarmungslos aus. Im hinteren Teil der Umfriedung befanden sich die Hundezwinger. Jede Nacht drang das Bellen und Jaulen der scharfen Hunde bis hinauf in den zweiten Stock und verfolgte sie selbst noch in ihren Träumen. Heute waren die Hunde ruhig und in Tanja reifte so etwas wie Zuversicht. Das Gelände des Gefängnisses wurden von engmaschigen Elektrozäunen begrenzt an die sich, nach einem schmalen Gang für Wächter und Hunde, meterhohe Mauern anschlossen. Die Angst vor einem geglückten Ausbruch nahm mittlerweile neurotische Züge an, so dass an allen strategischen Punkten Kameras, die eine lückenlose Überwachung garantierten, aufgehängt waren. Der asphaltierte Weg den sie entlang gingen endete an elektrisch betriebenen Stahltoren, die nur von dem Wachdienstleitenden selbst betätigt werden konnten. An der Wache angekommen, begrüßte Rispe den Beamten der gerade über einer Illustrierten brütete.
„Hallo Ecki, wie gefällt dir die Auswahl. Achte mal auf das Klappfoto in der Mitte! Aber laß uns vorher noch durch, sonst verkanntest du dich noch unter deinem Schreibtisch und kommst nicht mehr an den Schalter.” Der Diensthabende sah von der Zeitschrift auf, grinste dümmlich und drückte ohne weiter zu kontrollieren den Auslöser für die elektrische Torverriegelung. Mit einem mechanischen Klicken sprang die Sperre des Drehtores aus ihrer Position und gab den Weg frei. Tanja mußte sich zusammennehmen, um nicht laut loszujubeln nachdem sie ein gutes Stück Weg zwischen sich und der Strafanstalt gebracht hatte.
„Es kommt mir immer noch vor wie in einem Traum und ich kann es kaum fassen.” Rispe hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
„Gewöhne dich dran Tanja, ab jetzt wird deine Atemluft nicht mehr durch eiserne Gardinen gefiltert.” Tanja ging noch einige wenige Meter weiter und blieb unvermittelt stehen. Die Anspannung, die in den letzten Minuten bleischwer auf ihr gelastet hatte war vollends von abgefallen.
„Haben wir es wirklich geschafft?” Sie sah Rispe an, der soeben ein Feuerzeug aus der Tasche gezogen hatte und sich eine Zigarette anzündete. Die Flamme tauchte sein Gesicht in ein rötliches Licht.
„Glaubst du es immer noch nicht?“, antwortete er gelassen.
Tanjas Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck.
„Es war zu einfach Eugen.” Rispe blies den Rauch in die kühle Abendluft.
„Die einfachsten Pläne sind oft die Besten.”
„Vermutlich hast du Recht, aber ich habe Angst, dass immer noch etwas schief geht. Noch mal drei Jahre halte ich es nicht in dieser Hölle aus.” Ohne Vorwarnung liefen ihr Tränen über die Wangen. Rispe sah auf seine Armbanduhr.
„Wir können hier nicht länger bleiben, schließlich wirst du erwartet.” Der Sommer hatte in den letzten Tagen eine Pause eingelegt. Das Barometer war kontinuierlich gefallen und am frühen Abend hatte es begonnen zu regnen. Ein böiger Wind trieb immer wieder feinen Nieselregen unschlüssig vor sich her. Die stets grauen Straßen Hohenecks wirkten noch verlassener und menschenfeindlicher als sonst.

Die feuchte Atemluft schien fast flüssig und reizte die Lungen, so dass Tanja nach einigen Metern Weg mit einem Hustenanfall an einer trüben Straßenlaterne stehen blieb.
„Geht’s“, fragte Rispe fürsorglich.
„Ja ja, lass nur.” Sie warf einen letzten Blick über die Schulter auf die Festung, deren Silhouette durch den Dunst kaum mehr zu erkennen war. Tanja lachte still in sich hinein, als sie den Kragen des Dienstmantels hochschlug. Ohne die unfreiwillige Hilfe der „Fetten Platzeck“ wäre das Unternehmen kaum durchführbar gewesen.
„Es wird Zeit nach vorne zu schauen“, sagte sie sich und folgte Rispe der unschlüssig die Straße musterte.
„Was geschieht jetzt?”
„Er muß hier irgendwo stehen“, antwortete er unsicher.
„Von wem sprichst du?” Rispe reagierte nicht auf ihre Frage, sondern ging ein Stück weiter den Bürgersteig hinunter.
„Da ist er.” Erleichtert zeigte er auf eine Reihe von hochgewachsenen Kastanien, deren ausholenden Blätterdächer bis weit über die Straße reichten. Unter ihnen konnte Tanja bei genauerem hinsehen, die Umrisse eines kleineren Fahrzeuges erkennen.
„Was jetzt?.” Sie war ihm bis zu dem Fahrzeug gefolgt, das sich als dunkel gestrichener Trabant entpuppte. Abrupt blieb sie am Bordstein stehen, während Rispe die Fahrertür des Wagens öffnete und einige leise Sätze mit dem Fahrer wechselte, die Tanja jedoch nicht verstand. Dann kam er zurück und grinste breit. „Ab jetzt kann ich dir nicht mehr weiter helfen. Hier endet mein Anteil. Andere Helfer übernehmen jetzt alles Weitere.”
„Wer sind die Anderen?” Tanja merkte wie schwer sich Rispe mit der Antwort tat.
„Nun Andere halt. Mir ist niemand persönlich bekannt, alles Nähere erfährst du ab jetzt von ihm.” Er deutete auf den Fahrer des Pkws, dessen Gesicht unter einer Motorradmütze versteckt war. „Was ist mit dir?“, fragte Tanja besorgt, „du kannst doch jetzt unmöglich hier bleiben, spätestens morgen früh beim Antreten wird meine Abwesenheit entdeckt werden. Und das der Verdacht sofort auf dich fallen wird, ist doch logisch.”
„Mach dir um mich keine Sorgen, du bist nicht die Einzige, die heute das Land verlässt, wenn du verstehst was ich meine, ich komme später nach, wir treffen uns heute Nacht.”
„Warum kommst dann nicht gleich mit, im Wagen ist doch noch Platz genug?”
„Ich hab hier noch was zu erledigen, wenn ich damit fertig bin komm ich nach.” Tanja nickte, dann zog sie unerwartet Rispe zu sich und küsste ihn.
„Ich weiß, dass du es nicht verstehen wirst, aber es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe.”
„An mir gezweifelt, wie kommst du darauf?“, entgegnete er überrascht.
„Ich kann es mir selbst nicht erklären, so ein seltsames Gefühl, aber jetzt ist alles gut. Danke für alles, wenn du mir nicht geholfen hättest, würde ich in der Zelle verschimmeln.” Der Fahrer des Trabbis wurde ungeduldig und drängte zur Eile. Rispe löste sich aus Tanjas Umarmung.
„Du mußt jetzt los. Wir sehen uns später.” Nachdem sie eingestiegen war ließ der Fahrer den Motor an und fuhr ohne einen weiteren Abschiedsgruß los. Rispe sah noch kurz dem Wagen nach, der mit typischer Zweitakterfahne hinter sich ziehend um eine Häuserecke bog und verschwand. Nachdenklich lehnte er sich an eine Straßenlaterne zündete erneut eine Zigarette an, und inhalierte den Rauch mit einem tiefen Lungenzug. Nur einen Augenblick lang streifte Rispe so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
„Selbst Schuld“, betrog er sich und schlug den Weg zurück zum Gefängnis ein. Der Wachhabende faltete eilig die Illustrierte zusammen und salutierte, als er an der Wache vorbei ging.
„Brauchen sie die Zeitschrift zurück?“, fragte er unterwürfig. Rispe beantwortete die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung und ging hinauf in den Frauenblock. Sein Weg führte ihn auf dem kürzesten Weg zum Aufenthaltsraum. Jochen und Erika saßen am Tisch und blickten erwartungsvoll zu ihm auf, als er durch die Tür trat. Rispe schaute von einem zum Anderen. Gerlinde Platzeck schlief nicht mehr, sondern hatte sich an das Ende des Bettes gesetzt und wirkte leicht angesäuert.
„Und?“, fragte Jochen ungeduldig. Rispe setzte sich an den Tisch und grinste beide selbstgefällig an.
„Perfekt gelaufen, die eingebildete Ziege hat jedes Wort geglaubt.” Gerlinde war von der Liege aufgestanden und baute sich vor Rispe und Jochen auf.
„Ich find ihr habt es absichtlich übertrieben, von wegen auspeitschen und, nach einem Orgasmus ist sie immer erst Mal geschafft, und so.”
Rispe zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Alles nur für den Sieg des Sozialismus Gerlinde“, frotzelte er und vollzog den Gruß der jungen Pioniere.
„Vielleicht bekommst du ja für deine schauspielerische Leistung noch das Ehrenkreuz des Kulturausschusses.” Dann wurde er förmlich und wandte sich an Jochen.
„Ich bin sehr zufrieden mit ihnen allen, die Aktion hätte nicht besser laufen können.” Jochen grinste betreten.
„Was wird jetzt aus Tanja Löbers werden?“
Rispes schaute ihn verwundert an.
„Tanja Löbers, nie von einer Person dieses Namens gehört.“
„Sicher“, beeilte sich Jochen beizupflichten. „Jetzt wo sie es sagen Herr Major!“

In der Zwischenzeit hatte der Trabant Hoheneck verlassen und fuhr mit seiner brisanten Besatzung in nördlicher Richtung seinem Ziel entgegen. Tanja saß wie entrückt auf der hinteren Sitzbank und ließ durch die Dunkelheit fast unsichtbaren Landschaften, Dörfer und Städte an sich vorbeiziehen. Der verschlissene Plastikbezug der Sitze roch muffig und das ungewohnte Fahrgefühl ließ eine leichte Übelkeit in ihr aufsteigen.
Die Euphorie, die Tanja eben noch verspürt hatte, war der Sorge um ihre weitere Zukunft gewichen und dämpfte ihren Optimismus zunehmend. Schließlich wußte sie nicht was ihr bevor stand und das Gefühl der Unsicherheit war schlimmer als ein schwer zu kalkulierendes aber bekanntes Risiko. Tanjas Hand rutschte in die Tasche des Dienstmantels und umfaste die winzige Holzplatte auf dem sie das Foto ihrer Tochter geleimt hatte. Selbst Rispe hatte nicht gemerkt, wie sie es geschickt aus ihrer Häftlingskleidung in Gerlindes Dienstjacke geschmuggelt hatte. Wo mochte Lena sich jetzt aufhalten? Ich bekomme es heraus. Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben erreiche. Tanja fühlte wie eine Welle neuer Kraft ihren Körper durchströmte. Bald würde sie ihr Leben wieder selbst lenken.
Der Versuch etwas Näheres aus dem Fahrer heraus zu bekommen scheiterte kläglich.
„Warten sie ab, und fragen sie mich nicht weiter“, war alles was er bereit war von sich zu geben. Nach fast zwei Stunden Fahrt bog der Wagen von der Landstraße auf einen unbefestigten Waldweg.
„Was ist jetzt?“, fragte Tanja beunruhigt.
„Wir müssen einige Vorsichtsmaßnahmen treffen.” Tanja drückte sich nervös in die Polster ihrer Sitzbank. Sie beobachtete wie der Mann das Handschuhfach öffnete und ihm etwas, in der Dunkelheit nicht Erkennbares, entnahm.
„Na, na keine Angst.” Er schaltete die Innenbeleuchtung des Fahrzeuges an und Tanja erkannte einen einfachen dunklen Schal.
„Verbinde dir die Augen, je weniger Einzelheiten du über den Fluchtweg weißt, umso geringer ist die Gefahr entdeckt oder verraten zu werden.”
„Blödsinn“, dachte Tanja, denn ihr war mittlerweile klar, wo die Reise ungefähr enden würde. Längst hatte sie an den Ortsschildern erkannt, dass sie Richtung Ostsee fuhren. Aber sie sagte nichts. Es ging also mit dem Schiff in den Westen. Ferne Erinnerungsschnipsel stiegen in ihr auf. Als Kind war sie gelegentlich mit dem Bruder ihres Vaters zum Fischen auf den Bodden vor Zinksee gefahren. Er hatte es nie ausgesprochen, aber der Horizont der sich über dem Meer verlor, endete für das kleine Boot und seine Besatzung nur wenige hundert Meter vom Strand. Onkel Herbert war eines Tages nicht mehr von einer Bootstur zurückgekehrt. Und bis heute wußte niemand aus der Familie, ob er noch lebte, oder ertrunken war. Der Geruch des Meeres nach Salz und Tang durchdrang zunächst nur allmählich aber dann immer intensiver den Innenraum des Trabbis. Tanja versuchte zu schlafen, was ihr jedoch nur schleppend gelang. Die wiedergekehrte Anspannung der Flucht ließ sie anfänglich immer nur für kurze Momente einnicken bevor sie in einen festen traumlosen Schlaf wechselte. Vor einer Ampel kam das Fahrzeug ruckend zum Stehen, so dass Tanja unsanft gegen den vorderen Sitz gedrückt wurde und aufwachte. Durch die Fahrt auf den holprigen mit Pflastersteinen gedeckten Straßen, war die Augenbinde ein wenig herunter gerutscht. Das was sie sah gab ihr genügen Sicherheit zu wissen, wo sie sich befand. „Rostock.” Tanja kannte die Stadt gut. Hier war sie das erste Mal von Mitarbeitern der Stasi aufgegriffen worden, als sie gegen die Ausbürgerung von Regimekritikern mit selbst entworfenen Handzetteln protestieren wollte. Nach einigen engen Kehren war der Wagen zum Stehen gekommen. Der Fahrer war ausgestiegen. Wortfetzen drangen zu ihr herüber. Wie es sich anhörte unterhielt er sich mit einer weiblichen Person. Tanja versuchte einen Blick auf die Umgebung zu werfen, aber das Wenige das sie erkennen konnte, war eine durch Scheinwerfer schwach beleuchtete Kaimauer und ein an Pollern verankertes Schiff, bei dem es sich augenscheinlich um einen Frachter handelte. Weitere Personen waren nicht zu entdecken. Tanja hatte sich auf ihrem Sitz zurückgelehnt und versuchte, obwohl es keinen triftigen Grund gab, den Eindruck zu erwecken, als ob sie immer noch fest eingeschlafen war. Der Fahrer des Trabbis ließ den Motor weiter laufen und so hörte Tanja die Schritte einer Person die auf das Fahrzeug zukam, erst kurz bevor die Wagentür geöffnet wurde.
„Kommen sie, steigen sie aus.” Die Frauenstimme besaß einen warmen freundlichen aber bestimmten Klang. Einen kurzen Moment später wurde ihr die Augenbinde vom Kopf gezogen. „Was soll der Quatsch?“, fuhr sie den Fahrer des Wagens in einem scharfen Ton an und hielt ihm die Binde unter seine Nase.
„War ein Befehl von oben“, wehrte sich der Mann.
„Ihr mit euren Scheiß Befehlen, glaubst du ihr transportiert hier Rinder oder Schafe? Wie lang haben sie schon gewusst wo die Reise hingeht?“, fragte sie Tanja wieder in ihrem alten Tonfall. Tanja zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht eine halbe Stunde.”
„Da siehst du es du Möchtegerngeheimagent“, blaffte sie den Fahrer an.
„Warum lassen sie ihn nicht in Ruhe, schließlich geht er ja für ein unbekannte Person wie mich ein ziemliches Risiko ein“, brachte Tanja sich ein, wobei sie versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
„In diesem Geschäft hier gibt es wie überall Macher und Handlanger denen es nur um sich selbst geht. Der da“, sie nickte in Richtung des Fahrzeuges das sich gerade von der Mole entfernte, „ gehört zu letzteren Fakultät.” Tanja sah die Frau neben sich verständnislos an.
„Schmeißfliegen wie dieser wollen nur raus hier und es ist ihnen völlig egal ob jemand wegen ihnen dabei über die Klinge springen muß. Leider sind wir allerdings hin und wieder auf ihre Dienste angewiesen. Bei der nächsten Lieferung ist er mit dabei“, meinte sie abschließend.


Tanja dachte einige Momente über das Gesagte nach.
„Bei der nächsten Lieferung“, das Ganze hörte sich wie eine geschäftliche Transaktion an. War die Gruppe so glänzend organisiert, dass sie größere Anzahlen von Gefangenen über die Grenze schmuggeln konnte, ohne das es der STASI auffiel? Oder war sie letzten Endes doch vom Westen freigekauft worden? Dann riss sie sich von ihren Grübeleien los um endlich Klarheit zu bekommen.
„Sie haben mir noch nicht gesagt, wer sie sind und was jetzt mit mir geschieht.”
„Warte noch ein paar Minuten und beruhige dich, ab jetzt bist du in guten Händen. Nenn mich einfach Brigitte und jetzt komm mit.” Sie hatte Tanja untergehakt und führte sie ein Stück die Mole entlang zur Gangway.
Tanja konnte sich mit Schiffstypen nicht sonderlich gut aus, aber Passagiere wurden sicher nicht mit dem transportiert. Zwei Ladekräne an Deck, sowie der flache Mittelteil ließen auf ein Frachtschiff schließen.
Beim Betreten blieb Tanja einen kurzen Augenblick stehen.
„Was ist los?“, fragte Brigitte.
„Weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang hier in diesem Land verbracht und es hat mir ziemlich wenig von dem zurück gegeben, was ich von mir hineingesteckt habe. Aber ob du es mir glaubst oder nicht, es fällt mir trotzdem nicht leicht. Ich schleiche mich davon wie ein Dieb.”
„Du scheinst ein Problem mit dem Abschied nehmen zu haben“,
bemerkte Brigitte in leicht ungeduldigem Ton, „was hast du denn zurück erhalten für deine Zuneigung. Vier Jahre Hoheneck, unzählige Verhöre und selbst wenn du herausgekommen wärest, ein Leben lang Schikane.” Tanja wusste, dass genau das ihr Schicksal gewesen wäre, aber dennoch regte sich Widerstand in ihr.
„Du reduzierst alles auf Stasi und Partei“, entgegnete Tanja. „Ich lasse zwar keinen Besitz, zurück aber meine Tochter, Freunde und ein Stück Heimat zurück.” Brigitte schien über das, was Tanja gesagt hatte nachzudenken.
„Vielleicht hast du ja Recht“, lenkte sie ein, „aber deine Zukunft liegt nicht hier. Und vielleicht kannst du von der BRD aus viel mehr erreichen, als es dir in der DDR gelungen ist. Und jetzt los, in einem Hafen gibt es immer ein paar zweibeinige Ratten, die für einen Schnaps am Abend beide Augen offen halten um über alles Außergewöhnliche zu berichten.” Über eine Gangway betraten die Frauen das Schiff und gingen ohne weitere Verzögerung über eine Treppe in das Innere des Rumpfes. Obwohl die Glühbirnen an der Decke des Ganges nur schwaches Licht ausstrahlte, brauchte Tanja einen Moment bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Sie musterte Brigitte die sich an die Stahlwand des Ganges gelehnt hatte. Die Vorstellung, die sie sich insgeheim von ihr gemacht hatte traf in den meisten Punkten zu. Brigitte schien etwa Ende zwanzig, hatte halblange schwarze Haare. Über ihrem schlanken, wenig proportionierten Körper trug sie eine Lederjacke, die sich von den, in der DDR üblichen Plastikimitaten, deutlich abhob. Das ovale Gesicht wurde von blaugrünen Augen bestimmt. Ein leichtes Make-up unterstrich die hohen Wangenknochen und der sinnliche Mund rundete das Bild einer selbstbewußten schönen Frau ab. In diesem Augenblick wurde es Tanja bewusst, wie wenig sie sich selbst in den letzten Jahren mit derartigen Dingen beschäftigt hatte. Obwohl sie sich ihrer Wirkung auf Männer auch ohne Make-up bewusst war, kam sie sich neben Brigitte vor, wie eine Landpomeranze auf einem Opernball. Brigitte registrierte belustigt wie Tanja sie anstarrte. Sie lächelte sie an ohne dabei überheblich zu wirken.
„Wirst dich bald auch mal wieder wie eine richtige Frau fühlen.” Tanja lächelte dankbar zurück, und fühlte ein dünnes Band an Seelenverwandtschaft zwischen ihr und Brigitte.
„Wir müssen weiter, du warst die letzte Person auf die wir gewartet haben.” Tanja blieb überrascht stehen. War Rispe schon da? Aber wie hatte er geschafft vor ihr hier zu sein.
„Ist Eugen Rispe schon auf dem Schiff“, fragte sie erwartungsvoll.
„Rispe? Von einem Rispe weiß ich nichts“, antwortete Brigitte irritiert.
„Ihr seid zu sechst, wobei ich lediglich eure Vornamen kenne, aber du siehst sie ja gleich selbst. Vielleicht ist dein Rispe ja doch dabei.” Es ging mehrere Treppen abwärts und etliche weitere Gänge entlang.
„Nichts war so wie Tanja es sich in einem Schiff vorgestellt hatte. Alles war rein funktional und von einer unpersönlichen Kälte.
Ebenso hätte sie sich in einer Bunkeranlage befinden können.
Überall an den Wänden und Decken verliefen weiß gestrichene Rohre und Elektroleitungen. Scharfe Kanten an Treppen und Schotten erforderte erhöhte Achtsamkeit. Am Ende ihres Weges machten sie vor einem Schott halt. Brigitte löste zwei versteckte Bügel und klappte eine gut getarnte Tür auf. Der Raum der sich hinter ihr befand war etwa drei mal vier Meter groß. Das wenige Inventar bestand lediglich aus zwei improvisierten Holzbanken einem verkratzten Tisch sowie zwei rostigen Stahlspinden. Früher hätte Tanja mit Platzangst zu kämpfen gehabt, aber nach ihrer Zeit in Hoheneck konnte sie es aushalten. Wie Brigitte erwähnt hatte war sie nicht allein. In dem engen Raum befanden sich bereits fünf weitere Personen.
„Macht euch schon mal miteinander bekannt“, meinte Brigitte kurz, „ich bin gleich wieder da, hab noch eine kleine Überraschung für euch.” Das schwache Licht einer zehn Watt Birne beleuchte die angespannt wirkenden Gesichter nur schattenhaft. Während drei Männer und eine Frau am Tisch saßen, hatte sich eine fünfte Person auf eine alte Decke, die auf einer Holzkiste lag, gesetzt und zeigte kein Interesse an Tanjas Ankunft. Verstohlen musterte sie die Personen am Tisch, ohne das ihr die Gesichter bekannt vor kamen. Die vier sahen Tanja mit aufgerissenen Augen erschreckt an.
Lediglich die Frau erwiderte zögernd ihren Gruß und streckte ihr die Hand entgegen. Tanja schätzte sie auf Mitte vierzig. Ihre grauen Haare und das von Falten und kleinen Runzeln überzogenen Gesicht ließ sie auf den ersten Blick älter wirken als sie es vermutlich war, aber ihre wachen jungen Augen sprühten vor Energie. „Sigrid“, hauchte sie mehr als sie sprach und drückte mit erstaunlich festem Druck Tanjas Hand.
„Du mußt unseren spröden Empfang entschuldigen, aber deine Kleidung!” Tanja sah verwirrt an sich herunter. Sie hatte völlig vergessen, dass sie immer noch die Dienstkleidung der fetten Platzeck trug. Kein Wunder, dass sie so eisig begrüßt worden war.
„Ach die“, meinte sie lächelnd. „Gehörte nur zum Fluchtplan.”
„Ja dachte ich mir schon, aber im ersten Moment...“, Sigrid lehnte sich entspannt zurück.
Tanjas Blick wechselte auf den Mann neben ihr. Sein spitzes ausdrucksloses Gesicht zeigte keine Regung. Die Haut schien zu eng für seinen Kopf zu sein und spannte sich über Nase und Wangenknochen. Lediglich zwei sich in ständiger Bewegung befindlichen Augen ließen erkennen, dass Leben in der Person steckte. Tanjas Blick wanderte fragend von ihm zurück zu Sigrid die betreten den Blick auf den Boden gerichtet hatte.
„Das ist Richard“, meinte sie tonlos.
„Hallo Richard.” Tanja streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Idioten, ihr seit alles Idioten.”
Mit einer ruckartigen Bewegung stand er von seinem Platz auf und setzte sich mit dem Kopf an die Bordwand gelehnt in die entfernteste Ecke des Raumes.
Tanja sah ihm nach bis sie an einem Augenpaar hängen blieb das sie ungläubig anstarrte. Irritiert beugte sie sich etwas hinunter um das Gesicht des Mannes der auf der Kiste vor ihr saß besser erkennen zu können.
„Richard?“, fragte sie ungläubig. Tanja ging vor Erregung zitternd zu der nackten Glühbirne, die über dem Tisch hing und hielt sie so, dass der Lichtschein auf die Person fiel.
„Richard!.” Sie wagte kaum ihren Augen zu trauen. Tanja starrte auf das verwirrte Gesicht eines Mannes, der mit seinen grauen Haaren und dem von tiefen Furchen gezeichnetem Angesicht zwar aussah wie fünfzig, wie Tanja aber wusste nicht älter als zweiundvierzig Jahre sein konnte.
„Erkennst du mich nicht, ich bin es Tanja“, schrie sie ihm außer sich entgegen. Der angespannte Ausdruck im Gesicht des Mannes wich einer ungläubigen Erregung. Richard stand von der Kiste, auf der er gesessen hatte auf und ging auf Tanja zu.
„Tanja ich kann nicht glauben, dass....” Der Rest des Satzes ging in tiefem Schluchzen unter, während ihm unversehens Tränen über beide Wangen liefen. Tanja drückte sich am Tisch und den schwitzenden Körpern vorbei zu Richard, der sein Gesicht in die Hände genommen hatte und hemmungslos weinte.
„Ich hatte gedacht du wärest längst nicht mehr am Leben oder hättest mich vergessen“, sagte Tanja und drückte ihn an sich. Es dauerte Minuten, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er Tanjas Gesicht genauer betrachten konnte.
„Sie haben es nicht geschafft! ich habe es immer gewußt, dass sie es nicht schaffen.” Tanja sah Richard fragend an.
„Was haben sie nicht geschafft, was meinst du.”
„Deine Augen Tanja, das Leuchten weist du noch. Ich habe es immer an dir geliebt. Es war das erste was mir an dir aufgefallen ist und es ist immer noch da.” Für einige Minuten waren die Entbehrungen und Erniedrigungen der letzten Jahre wie ausgelöscht. Entrückt saßen sie eng umschlungen da, ohne ein Wort und sogen die Anwesenheit des anderen in sich hinein.
„Es gibt wieder eine Zukunft, Tanja. Für uns beide.”
„Noch sind wir nicht in Sicherheit, wenn ich eure Euphorien ein wenig dämpfen darf.” Tanja drehte sich um und betrachtete Gerd der mit dem Rücken an die Bordwand gelehnt dasaß und eine Zigarette rauchte.
„Mußt du in der engen Kabine rauchen“, fragte Sigrid ihn verärgert.
„Wir bekommen ja schon so kaum Luft.” Die Hände des Mannes zitterten. Gerd war aufgestanden und lief wie ein Tiger in einem zu engen Käfig von einem Ende der Kabine an das nächste.
„Ihr glaub doch nicht ernsthaft, dass wir das Schlimmste schon hinter uns haben? Ist euch nicht aufgefallen wie reibungslos das alles geklappt hat.” Der gehetzte Blick in den Augen des Mannes, sowie sein ständiges ruheloses Umhergehen in der engen Kabine schien über das erklärbare Maß hinaus psychotischer Natur zu sein.
„Hör endlich auf mit deiner Schwarzseherei Gerd du machst uns noch ganz krank.” Ein etwa dreißig jähriger Mann, der eben noch am Tisch saß war neben ihn getreten und legte ihm beruhigend den Arm um seine Schulter. „Wir haben es schließlich bis hier her geschafft. Morgen Abend schläfst du das erste Mal seit einem Jahrzehnt in einem richtigen Bett, nachdem du ein richtiges Steak einen französischen Rotwein und literweise Bohnenkaffe getrunken hast. Gerd befreite sich unsanft aus der Umklammerung.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.” Mit einer fahrigen Bewegung drückte er den Rest seiner Zigarette auf dem Boden aus.
„Es ist alles viel zu glatt gegangen, merkt ihr das nicht“, wiederholte er stoisch.
„Ich bin übrigens Helmuth“, stellte sich der junge Mann vor und sah Tanja und Richard vielsagend in die Augen.
„Der ist wohl völlig fertig“, flüsterte Tanja.
„Kein Wunder“, antwortete Richard. „Drei Jahre Einzelhaft.”
„Drei Jahre? Was muss der den dafür verbrochen haben.”
„Gerd hat es einfach nicht mehr ausgehalten und ist dann bei einem Fluchtversuch erwischt worden. Zwei Jahre lang hat er an einen Tunnel gegraben. Kurz vor der Flucht hat er dann den Fehler begangen seinen sogenannten besten Freund einzuweihen. An dem Gang hat er ganz allein gegraben, aber das haben die von der Stasi nicht geglaubt. Gerd sollte seine Helfer verraten, aber was sollte er machen. Zum Schluß hat der Witzbold dann eine Liste mit Namen abgegeben.”
„Und waren sie damit nicht zufrieden?“, fragte Richard.
„Nicht wirklich, ganz oben auf der Liste stand Erich Mielke, darunter Honecker und so weiter.”
„Ich nehme an, die konnten den Spaß nicht gut verstehen?”
„Nun ja, besonders begeistert waren sie darüber anscheinend nicht.” Das plötzliche Vibrieren des Schiffsdiesels unterbrach unerwartet ihre Unterhaltung.
„Es geht los Kinder!” Sigrid schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Streiten könnt ihr immer noch, wenn ihr im Westen seid.” Kurze Zeit später wurde das Schott geöffnet und Brigitte kam mit einer Tragetasche herein.
„So, bevor ihr eure ehemalige Heimat völlig vergessen habt“, sie öffnete die Tasche und stellte einige Konserven, Schachteln und zwei Flaschen auf den Tisch. “Spreewaldgurken, Rotkäppchensekt, Schokolade und Brot.”
„Spreewaldgurken“, Gerds Nervosität schien sich etwas zu legen. „Davon hab ich nächtelang in meiner Zelle geträumt.” Die fünf machten sich hungrig über die Lebensmittel her.
„Kannst du vielleicht noch etwas einfaches Wasser besorgen, die Kanne hier jedenfalls ist fast leer“, fragte Tanja. „Wenn ich mich ausschließlich an Rotkäppchensekt halte, bin ich so blau, dass ich im Westen an Land getragen werden muß.”
„Klar doch, kann aber eine Weile dauern. Ihr werdet dann auch von mir weitere Instruktionen bekommen “, meinte Brigitte und verließ die enge Kabine. Das Schaukeln unter ihren Füßen nahm zu und das tiefe Brummen des Schiffsdiesels zeigte an, dass sie abgelegt hatten.
 
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Kommentare  

Liebe(r) Doska, Fabienne Sanja und Gerald.
Danke das ihr es geschafft habt die vielen Zeilen zu lesen, ohne einzuschlafen oder enttäuscht abzuschalten.
Ob der Roman gut oder nicht gut ausgeht, will ich nicht verraten Gerald. Ich kann euch aber versprechen, dass ihr erfahrt, wer die Tote die Kai Sander im Leuchtturm entdeckt hat ist und warum sie getötet wurde.


Geminus (31.07.2011)

Hier weiß ich von vorn herein, dass dieser Roman nicht gut ausgehen wird und gerade das birgt die Spannung. Wodurch ist die Frau gestorben? Das schwebt über allem. Ich nehme an, das ist jetzt ein Rückblick, der zur Klärung gereichen soll. Dramatisch die Umstände und sehr echt, wie es eben damals zu jenen Zeiten zugegangen ist. Exzellenter Schreibstil.

Gerald W. (30.07.2011)

Hut ab! Du hast eine echte Ausdauer! Gebe doska recht. Habe sie in mehreren Pausen gelesen. Freu mich schon auf Fortsetzung =)

Fabienne Sanja (29.07.2011)

Sehr, sehr spannend und total authentisch geschrieben. Man fragt sich, ob das die Frau ist, deren Überreste später im Leuchtturm gefunden wurden. Es ist ein aufrüttelndes Kapitel dem ein heikles Thema aus DDR - Zeiten zu Grunde liegt. Bin gespannt, was die Flüchtlinge erwartet.

doska (29.07.2011)

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