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Auszug aus "Das Baugerüst, ein Roman"

Romane/Serien · Nachdenkliches
Geschichte der Musiktheorie. Eineinhalb Stunden in einem kleinen, der Sonne zugewandten, unklimatisierten Raum, um zu lernen, wo die Arroganz des Theoretikers seinen Ursprung hatte. Nämlich im Mittelalter, als eingebildete Kuttenträger verkündeten, an der Spitze der Musik stehe der Theoretiker mit all seinem Wissen, erst dann folgen jene, die tatsächlich auch Musik machen. Schon die antiken Griechen begingen den Fehler, indem sie sich einbildeten die Sphärenmusik des Weltalls hören zu können. Wie lange sich diese Arroganz gehalten hatte. All die intellektuellen Feinde der Avantgarde, der Experimentalmusik, der freien Atonalität, auch heute noch, zitierten Riemann, um ihr das Recht ihrer Existenz abzusprechen. Riemann versuchte, die Tonalität als naturgegeben zu deklarieren, da in der Naturtonreihe (also all die Teiltöne die mehr oder weniger ausgeprägt bei einem natürlichen Ton mitklingen, sobald dieser zum Klingen gebracht wird) der Dur-Dreiklang enthalten sei. Weiter als bis zum sechsten Naturton scheint er persönlich also nicht gekommen zu sein, sonst wäre ihm aufgefallen, dass bereits der siebte Ton eine schlecht intonierte Monstrosität ist. Was darauf folgt lässt sich schwerlich einem Dur-Dreiklang zuordnen. Wie erklärte er die Molltonarten? Indem er eine künstliche Untertonreihe kreierte, die in der Natur gar nicht existiert. Wenn Natürlichkeit die Vorraussetzung für Kunst wäre – natürliche Kunst: ein Oxymoron – dann wären wir kulturell ziemlich arm. Was machen wir dann mit dem unnatürlichen Wandern durch die Tonarten, der Modulation, was machen wir ohne Enharmonik, ohne Molltonarten? Wie klingt eigentlich Mahlers Sechste auf Naturinstrumenten? Ich hole weiter aus: Was machen wir ohne Fotografie, ohne Synthesizer? Die Natur war es nicht, die uns die Schrift gab. Selbst Riemann muss sich eines Kunstgriffes bedienen, um etwas „Natürliches“ in der Musik zu erklären. Das verstehen die Leute nicht: Dass Kunst erst entsteht, wenn man der Natur etwas Unnatürliches entgegensetzt, sie damit verbindet, erschlägt, imitiert oder in Symbiose existieren lässt.
Würden wir derlei Diskussionen in dieser Vorlesung führen, wäre ich heute sicher hingegangen. Ich bin aber einfach zu gut drauf, um mich von Aristoteles' Tetraktys betäuben zu lassen.
 
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Kommentare  

Sehr gelungen. Einfach lesenswert.

Petra (24.08.2012)

Kleine Anmerkung: Es ist Pythagoras' Tetraktys, hab mich
im Namen vertan ;) Und übrigens danke für den
Kommentar.


Lord Abstellhaken (23.08.2012)

Gefällt mir gut, insbesondere weil ich mich kürzlich selbst sehr intensiv mit Musiktheorien auseinandersetzen musste. Ob diese auch Sinn machen, kommt miener Ansicht nach darauf an, wofür man sie verwendet.

Siebensteins Traum (23.08.2012)

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