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Der französische Streuner. (Tiergeschichte aus Berlin)

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Urplötzlich hatte der Platzregen eingesetzt und graue Ungemütlichkeit war über den Park hereingebrochen. Von den Schiffsanlegestellen schwang der Geruch der Spree herüber. Noch vor einer Viertelstunde hatte laues, fast freundliches Aprilwetter geherrscht. Aber jetzt boten die Bäume des Treptower Parks nicht einmal Schutz vor dem prasselnden Regen. Die Gruppe Jugendlicher, die mit ihrer Hündin schon den ganzen Nachmittag wie ziellose Nomaden von Schöneweide über den Plänterwald gezogen waren und zuletzt im Treptower Park gelagert hatten, war längst auf der anderen Straßenseite unter der S-Bahnbrücke verschwunden und hatte den streunenden Rüden unbeachtet zurückgelassen.
Irritiert von der fremden Situation und geblendet von den Lichtkegel der Autos, setzte der Hund zur Überquerung an. Er schreckte vor der Blechlawine zurück, die sich noch immer in Richtung Innenstadt wälzte, versteckte den Kopf zwischen den triefenden Schlappohren und setzte erneut zum Anlauf an. Wie ein gejagter Hase erreichte er schließlich im Zickzackkurs die andere Straßenseite. Für Sekundenbruchteile war sein geschecktes Fell blitzartig im Zwielicht der Scheinwerfer aufgetaucht. Einige Fahrer bremsten erschrocken oder fluchend, andere hatten das Tier kaum wahrgenommen.
Der Rüde hob den Kopf und witterte nach allen Seiten. Sekunden später schoss er wie gestochen am Rand der Elsenstraße entlang Richtung Spreebrücke. Tief geduckt schleifte die Schnauze wedelnd über dem Asphalt, der wie tausend Spiegel im Regen glänzte. Wie ein ruheloser Blinder, sich nur noch auf Geruch und Instinkt verlassend, hatte er die Spur des Weibchens wieder aufgenommen. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Fluss.
*
“Pluuuutoo! Vien ici!” Die Stimme des Mannes klang schrill und beinahe verzweifelt. Er erschrak über sich selbst. Wer ihn hörte, musste eher an ein Familiendrama denken. Er stieg wieder in den Wagen und fuhr langsam über die Rudower Chaussee in den Groß-Berliner Damm. Jetzt befand er sich in den freien, noch unbebauten Feldern, die sich von Johannisthal bis Schöneweide erstrecken und in den nächsten Jahren das neue Industriegelände mit dem Wissenschaftszentrum Adlershof verbinden sollen. Aber noch waren weder die Straßenbahnschienen gelegt, noch Baukräne aufgefahren. Ein unendlich weites Terrain, um nachts in Ruhe Hunde auslaufen zu lassen …
Die Scheinwerfer seines Wagens tasteten die Straßenränder ab. Angestrengt hefteten sich seine Augen auf jede vermeintliche Bewegung. Hinter ihm hupte jemand ungeduldig, überholte schließlich und zeigte ihm verärgert den Vogel. Er wendete, fuhr immer wieder den gleichen Weg, hoffend, dass ihm zwei leuchtende Hundeaugen oder ein weiß und braun geschecktes Fell in den Strahl der Scheinwerfer geraten würde. Stattdessen kroch mit jeder Minute die Angst wie eine unsichtbare Gefahr in ihm hoch.
Pluto ist krank. Er braucht Medikamente. Und er kennt sich in Berlin nicht aus! Sie wohnen erst seit einem Monat hier. Berufliche Mobilität. Berlin bietet Chancen. Das Leben vorher, das hatte völlig anders ausgesehen. Ein vergessenes Dorf in Frankreich. Keine Leinenpflicht! Keine Hundesteuer! Keine missgünstigen Hundehasser! Vorne das weite Meer und hinten das Dorf, in dem Pluto bekannt war wie ein bunter Hund. Dort konnte er frei laufen und springen, und wenn er sich abends einmal zu lange auf dem Dorfplatz herumgetrieben hatte, dann rief irgendein Dorfbewohner an und sagte: “Hallo Nachbar! Wenn du deinen Hund suchst, er hängt vor meiner Tür herum und amüsiert die Touristen!“
Aber jetzt hier in Berlin?! Das war eine andere, eine unbekannte Welt. Würde sich Pluto an diese Veränderungen gewöhnen? War es überhaupt die richtige Entscheidung, den Hund aus einem verträumten Nest in die gefährliche und artfremde Wildnis der Großstadt mitzunehmen? Aber wo hätte er den Freund denn lassen können, nach zehn Jahren Gemeinsamkeit?
Zu früh hatte der Mann an diesem Abend die Leine gelöst. Okay, das ist verboten in Berlin, aber kommt in Adlershof abends um zehn noch das Ordnungsamt zur Kontrolle? Sollen sie uns doch ein Auslaufgebiet einrichten! Aber nein, wir werden immer mehr eingeengt! Kaum ein Hundebesitzer nimmt es mit den Bestimmungen allzu genau. Auch Pluto sollte sich wieder einmal austoben, frei und ohne den Zwang der Leine. Doch dann hatte ihn die früher gewohnte ungestüme Freiheit übermannt, er war um eine Ecke geschossen, war dem Duft der Frauen gefolgt und die Nacht hatte ihn verschluckt.
Gegen Mitternacht gab der Mann die Suche auf und fuhr zum Segelfliegerdamm ins Polizeirevier. “Haben Sie heute Nacht einen Hund eingefangen?” fragte er einen der beiden Wachhabenden. Der rekelte sich nur mäßig interessiert auf seinem Drehstuhl und fragte: “Wat hat er denn für ‘ne Merkmale?”
“Er ist weiß und braun gefleckt und hat Schlappohren, so eine Mischung aus Beagle und Promenade und sieht aus wie der Hund Pluto von Walt Disney!” antwortete der Mann und fügte dann, als sei es ein besonders wichtiges Detail, hinzu: “Er spricht nur Französisch!”
“Ick dachte, Hunde bellen nur!” sagte der Polizist lakonisch.
“Jaaa …, das heißt …” Plutos Herrschen wollte erklären und kam ins Stottern. Es schien ihm alles zu umständlich und angesichts der Gefahr, also weiß du, der Kerl hat Nerven…
“Na, dann komm’se mal mit nach hinten!” meinte der Beamte jetzt eine Spur freundlicher. “Zwee von den Tölen ham’wa heute da!” Er schloss eine Tür auf und vor ihnen lagen zwei Hundezwinger, nicht besonders groß, aber ausreichend für eine Nacht, sauber gekachelt, und am Boden standen zwei saubere Näpfe, einer mit Wasser, einer mit Trockenfutter halb gefüllt.
Wild bellend sprangen die beiden Hunde am Gitter hoch, ihre Schwänze wedelten erregt. Einer leckte dem Mann die Hand. “Na, iss Ihre Töle dabei?” fragte der Wachmeister.
“Nein!” sagte der Mann und der Uniformierte konnte die Enttäuschung spüren. “Nu bleiben Se mal janz ruhig, junger Mann!” sagte er mit beruhigender Stimme. “Jehn’se mal einfach nach Hause und warten ab! Morjen früh trabt Ihr Ausreißer von alleene wieda an! Iss wahrscheinlich nur auf Brautschau!” Er grinste aufmunternd.
“Morgen früh kann der tot sein!” sagte der Mann. “Auf der Autobahn überfahren! Oder in der Spree ertrunken! Er ist krank und braucht regelmäßig Medikamente! Können Sie das denn nicht über Funk an Ihre Streifenwagen im Revier herausgeben?! Ich meine …, die können doch die Augen offen halten, wenn sie sowieso in der Stadt herumfahren. Er ist tätowiert und hat eine Steuernummer am Halsband …!”
Mit einer Mischung aus belustigt und Unglauben schaute der Beamte den Mann ein paar Sekunden schweigend an. Dann sagte er ruhig aber mit Bestimmtheit: “Glauben Sie tatsächlich, unsere Streifenwagen fahren nachts nur so herum und haben nichts anderes zu tun, als entlaufene Hunde zu suchen?” Er setzte sich wieder in seinem Drehsessel vor Computer und Funkgerät. Ein paar Meldungen krächzten über den Äther. Eine Kneipenschlägerei im Baumschulenweg, im Späthsfelder Datschenviertel machen sich zwei Verdächtige an einer Gartenlaube zu schaffen und ein paar Straßen weiter wollte sich eine Frau mit einem Kind auf dem Arm vom Balkon im vierten Stock stürzen. Die Stimmen überschlugen sich. Irritiert stand der Mann vor der Skala Berliner Befindlichkeiten.
“Aber mit meinem Hund ist es doch genauso wie mit einem Kind. Mein Hund und ich, wir sind eine Familie!” sagte er beschwörend mit letzter Überzeugungskraft.
“Lassen’se denn ihr Kind ooch um Mitternacht alleene durch ‘ne unbekannte Gegend loofen?” fragte der Polizist nicht mehr ganz so freundlich zurück.
Schweigen.
“Ham’se die Tätowierungsnummer oder die Steuernummer dabei?” fragte plötzlich der zweite Beamte. “Dann lassen’se det mal da. Unn Ihre Telefonnummer ooch. Wir wollen mal sehen was sich machen lässt…!” Der Mann kramte den Heimtierausweis hervor und der Polizist notierte die Daten auf einen Zettel, den er neben das Funkgerät legte.
*
“He, kiek mal einer da! Klaras Verehrer ist wieder aufgetaucht!” Das Mädchen zeigte auf den braun-weißen Mischling, der sich an der Stralau wieder an die Punkergruppe herangeschlichen hatte und jaulend um die Hündin herumwinselte. “Der scharwenzelt schon seit Schöneweide um Klara rum!” Das Mädchen hatte lange karottenrote Haare und an der Nase ein Piercing und wurde Schnute gerufen. Die beiden Jungs hießen Mickey und Rickey. Der Regen hatte Mickeys sorgfältig gestylten rotgrünen Irokesenschnitt verwüstet. Rickey war Afrikaner; der Regen konnte seinen schwarzen Kraushaaren nichts anhaben. Klara, die ein paar Meter hinter ihnen trottete, hatte weder Halsband noch Leine oder Hundemarke, sondern war mit einem roten Halstuch geschmückt, das nass an ihr klebte.
“Lass’ Klara doch ihren Spaß!” rief Ricke zu Schnute herüber. “Unsere Kleene hatte schon lange keenen Lover!“ Die Drei näherten sich der Warschauer Brücke. Der fremde Hund wollte in Klara eindringen, aber die Hündin zierte sich noch. Schnute sagte: “Woll’n wa Rassenschande in unsre Familie?” und Mickey rief zurück: “Heh, wir sind keine Rassisten!” und zeigte belustigt auf Klara, die mit ihren überdimensionalen Ohren, zotteligem Fell, treudoofen Kulleraugen und den zu kurz geratenen Beinen ein Schmuckstück aller Promenadenmischungen abgab. Schnute wollte den beiden Hunden das Fell kraulen und schimpfte “Scheiße, ihr seid nass wie Waschbären!” Dann kramte sie zwei Leckerli aus ihrer Lederjacke.
Die Gruppe bog rechts ab und lief zur Brücke hoch. Auf der Höhe zum S-Bahnhof blieben sie an der Currywurstbude stehen. Es regnete nicht mehr; Leute standen herum, stocherten in Bouletten und Currywürsten, hielten Bierflaschen und Kaffeebecher, quatschten oder schwiegen miteinander, bevor sie sich wieder verliefen.
“Habt ihr mal’n Euro?!” fragte Schnute die Umstehenden. “Für’n paar Bouletten unn für die Hunde!” Sie schnorrte ein bisschen Geld zusammen; die Drei kauften Bouletten und Bratwürste, bissen hinein und gaben die Hälfte an die Hunde ab. Klara fraß auch die Brötchen, aber der fremde Hund schnupperte erst misstrauisch herum, und als Schnute zu ihm “Verwöhnte Töle” sagte, schnappte er sich schließlich doch ein Stück von dem Klops und verschlang es gierig.
Längst hätte er zu Hause seine Abendmahlzeit und seine Medikamente bekommen. Aber Plutos geregelte Welt war aus den Fugen geraten. Und jetzt noch dieser fantastische Geruch der läufigen Gespielin und diese wundervolle Anarchie hier auf der Brücke, fast wie früher in Frankreich auf dem Dorfplatz mit den vielen Touristen. Pluto war hin und her gerissen in seinen Gefühlen.
“Lasst uns den Rest mit der Bahn fahren!“ rief Schnute. “Ich bin saumüde!“ Sie stiegen ohne Fahrscheine in die Straßenbahn. Schnute hielt die Tür auf und Klara sprang wie gewohnt in den Wagen nach. Draußen stand der fremde Hund unschlüssig und mit fragenden Augen. Ein rasselndes Ungetüm aus Eisen, das oben und unten Funken sprühte, mit einer Tür, die sich wie von Geisterhand gelenkt öffnete und schloss, das hatte er noch nie betreten. Als er dann doch zum Sprung ansetzen wollte, war es zu spät und die Bahn fuhr los. “Dann eben nicht!” sagte Schnute und kraulte Klara den Hals. Die Bahn entfernte sich in Richtung Frankfurter Tor. Traurig und mit hängendem Kopf saß der fremde Hund eine Weile auf der Warschauer Brücke und sah seine Auserwählte davonfahren.
Er verstand die Welt nicht mehr. Eben noch unter Freunden im Paradies und plötzlich alleine auf einer großen Brücke und unter ihnen viele verwirrende Bahnschienen wie leuchtende Fremdkörper. Doch dann durchzuckte es ihn und die unergründliche Tiefe eines geheimnisvollen Hundegehirns setzte ein. Er stürmte los und hechelte wie ein Rennhund mit weiten Sprüngen zwischen den Schienen entlang, obwohl er das quietschende Ungeheuer der Straßenbahn längst aus den Augen verloren hatte.
*
Der nächste Morgen. Der Mann hatte die ganze Nacht weiter gesucht. Auch den Polizeistellen in Köpenick und Neukölln war er auf die Nerven gegangen, hatte jedes Herrchen und Frauchen, die mit ihren Lieblingen bereits am frühen Morgen unterwegs waren, nach einem entlaufenen Hund gefragt, hatte Visitenkarten und Telefonnummern verteilt und unzählige gute Ratschläge entgegen genommen, war ein paar Mal zur eigenen Haustür gefahren, immer in der Hoffnung …, vergebens dann mit panischen Gefühlen die Autobahn abgeklappert, die Angst hämmerte ihm Schmerzen in den Kopf, denn überall konnte plötzlich der tote Hundekörper liegen.
Albträume durchfuhren ihn. Er stellte sich die Beerdigung vor und den Abschied, er durchlebte die letzten zehn gemeinsamen Jahre im Zeitraffer, und dabei hatte er den geografischen Radius der Suche ständig erweitert. Aber dann war er doch erschöpft nach Hause gefahren, wie ein Schachspieler, der sich verzettelt hatte und sich nun erst einmal zurücklehnen muss, bevor er den nächsten Zug plant.
Im Laufe des Tages würde er mit dem Zettelaushang beginnen und die Suche ausweiten. Er schaltete den Laptop ein, um das Plakat zu entwerfen.
Kurz nach halb neun, er hatte gerade Plutos Foto aus der Datei heruntergeladen und sich zwischendurch ein halbes Brötchen in den nervösen Magen gewürgt, klingelte das Telefon. “Hier ist das Finanzamt Berlin-Weißensee, Hundesteuerstelle!” meldete sich eine Frauenstimme. “Sind Sie Herr Stehauf und vermissen Sie Ihren Hund?”
“Ja …, Ja …! Was … wo …?” Kaum konnte er seine Stimme beherrschen.
“Er ist bei Leuten am Prenzlauer Berg, Winsstraße…, Ecke…!” Die Hundesteuerfrau gab dem Mann Adresse und Telefonnummer. “Sie können ihn dort abholen!”
“Und wie passen Sie vom Finanzamt Weißensee in die Geschichte?” Der Mann war irritiert.
“Die Leute haben uns angerufen, über die Hundesteuernummer sind wir auf Sie gestoßen, aber nu machen’se hinne, junger Mann, es scheint dringend zu sein. Ihr Hund hat wohl Asthma oder irgendwas, und die Leute sind hilflos. Iss wohl so was wie ‘ne Jugend-WG, die haben selbst Hunde, aber kein Geld, alles ein bisschen chaotisch bei denen …!”
“Bin schon unterwegs!” Der Mann schnappte die Medikamente. Prenzlauer Berg? Wie fährt man denn da? Das muss doch in ein paar Minuten zu schaffen sein. Iss doch alles noch Berlin!
Der erste Stau war auf der Schnellerstraße in Schöneweide. Um halb zehn hatte sich das Auto immerhin schon bis zur Warschauer Brücke vorgeschoben; der Herzrhythmus pochte tausendmal schneller als die Verkehrsampeln umschalteten, und eine weitere halbe Stunde später zuckelte er mit einem Schreikrampf über das Frankfurter Tor.
Liegt denn hier nicht ein Notfall vor? Kann er nicht laut hupend und dauerblinkend an den anderen vorbei? Eine Polizeieskorte müsste man ihm geben! Ja spinnen die Berliner denn? Haben die hier jeden Morgen diesen Zirkus? Wie lobte er sich in solchen Momenten seine neue Wohnung im ruhigen Altglienicke mit dem Gärtchen und der Terrasse. Er klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr, versuchte zu lenken und gleichzeitig im Stadtplan zu blättern.
“Er braucht zwei verschiedene Medikamente gegen sein Asthma und sein Herzleiden!” erklärte er dem Mädchen, das sich am Handy als Schnute vorgestellt hatte. “Ein Pulver und eine Tablette …” Er nannte die Namen. “Die sind rezeptpflichtig! Aber vielleicht könnt ihr sie in einer Apotheke auch ohne Rezept bekommen. Ich geb’ euch nachher das Geld zurück!”
“Wir haben keine Kohle!” sagte Schnute. “Echt nicht! Keinen einzigen Euro! Sogar mein Handy ist schon leer, ich kann dich nicht mal zurückrufen. Bitte beeile dich!”
“Haltet aus!” sagte der Mann zu Schnute. “Gebt ihm frisches Wasser und krault ihm den Hals, wenn der Hustenanfall kommt. Seid lieb und zärtlich zu ihm! Ich hab’s gleich geschafft, bin schon über Friedrichshain hinaus!” Genervt gab er Gas und bemerkte erst beim Blitz, dass die Ampel wohl dunkelrot gewesen war.
*
“Und wie hat er euch wieder gefunden? Ihr hattet ihn doch an der Warschauer Brücke verloren!” fragte der Mann. Schnute und er und die beiden Hunde hockten in einer Kneipe, vor sich riesige Milchkaffees und einen Berg Buttercroissants, und Schnute hatte den Ablauf der vergangenen Nacht gestenreich nacherzählt. Mickey und Rickey waren müde auf ihren Matratzen geblieben und hatten keinen Bock auf frühe Kneipe. Schnute hatte gesagt “Wer so’n trolligen Hund hat, der ist bestimmt kein Spießer!” und ließ sich von dem Mann einladen.
“Wir zuckelten also mit der Straßenbahn los, immer schön den Friedrichshain hoch, bis zu uns hier. Kaum waren wir ausgestiegen, da kam er angehechelt! Freude backe Eierkuchen! Ich kann dir flüstern! Immerhin fünf oder mehr Kilometer hinter einer Straßenbahn her. Dann sind wir also nach unserer Bude. Haste ja kennengelernt. Und dein Hund immer hinterher. Was kümmert’s uns?! Wir sind’s gewohnt. Klara bringt hin und wieder mal fremde Kerle mit. Die kommen und gehen. Klara kam auf ihre Kosten, aber deiner auch …!”
“Du meinst, die beiden haben …!”
“Und wie!” sagte Schnute und ihre Augen strahlten.
“Aber wann hast du bemerkt, dass mit Pluto etwas nicht stimmt?” fragte der Mann. Schnute griff zum vierten Croissant.
“Na, erst einmal haben wir alle gepennt, die Hunde auch, friedlich wie Unschuldslämmer, aber irgendwann heute früh ging’s los mit dem Husten, das wurde immer schlimmer. Und ich hab’ ja dein Halsband und die Impf- und die Steuermarken gesehen, und ich dachte, das scheint ’n Spießer zu sein, brav und gesetzestreu, bei dem ist alles geordnet, soll mir aber egal sein, jedem das Seine, nur mit dem Husten, das hat mir Sorgen gemacht, und deshalb hab’ ich mir überlegt, wo ist so ein Spießer registriert? Wenn er sogar Hundesteuer bezahlt, doch wohl beim Finanzamt! Und ich hab’ auch gedacht, der Hund hat eine Familie, er weiß, wohin er gehört, da wartet jemand auf ihn, sucht ihn vielleicht schon, es leben ja nicht alle Menschen wie wir Punker, obwohl, weißt du, wenn Klara mal übern längeren Zeitraum nicht nach Hause kommen würde …, ich würde auch durchdrehen..., und so kam alles ins Rollen.”
“Aber ich kapiere nicht, wieso ein Hund in Adlershof abhaut und plötzlich in Schöneweide auftaucht, euch bis über den Treptower Park und dann sogar auf die andere Seite der Spree nachläuft. Wenigstens bei der Spree hab’ ich gedacht, es wäre eine natürliche Grenze, und dann landet der Kerl schließlich bei euch am Prenzlauer Berg, das ist von mir aus gesehen am anderen Ende der Stadt …”
“Versteh’ einer die Hunde!“ sinnierte Schnute. “Die sind geheimnisvoller als wir Weiber!“ Dann wurde sie sachlicher. “In Schöneweide hing er erst auf der anderen Straßenseite am Bahnhof Ecke Sterndamm bei den Naziglatzen herum. Ich hatte ihn schon ’ne Weile beobachtet. Aber die Typen schreien ja ihre Pitbulls an, als wollten sie’se als Killerhunde fürs KZ abrichten. Da hat sich so ein braver Trottel wie deiner nicht lange wohlgefühlt, und als er Klara gerochen hatte, da kam der Liebeskasper rüber zu uns, immer zwischen den Autos durch, ich dachte, gleich kracht es, aber er schaffte es unfallfrei. Dann begann der heiße Flirt zwischen deinem Ausreißer und Klara. Das Ende der Geschichte kennst du ja!” Schnute grinste breit und der Mann fand Schnute recht sympathisch, trotz dem Nasenpiercing.
Sie regelten großzügig das Finanzielle und Ideelle gleichermaßen. Pluto sprang freudig ins Auto. Das Abenteuer Klara war anscheinend vergessen. Nur noch ein letztes freundliches Schnüffeln. Einmal gut essen, danke, das war’s! Wie menschlich diese Tiere doch sind ...
Der Mann umarmte Schnute zum Abschied und küsste sie zweimal auf die Wangen und Schnute knutschte Pluto, als hätte sie ihn ins Herz geschlossen.
Schließlich fuhren sie los. Der Mann sah im Rückspiegel, wie Pluto sich wohlig auf seine Decke gekringelt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte. Seine ockerbraunen Augen leuchteten wie geschliffene Jade und um die Schnauze machte sich ein unschuldiges, verschmitztes Hundelächeln breit.
“Du bist ein Scheißtyp!” sagte der Mann zu Pluto. “Weißt du eigentlich, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe?” Aber Pluto verstand kein Deutsch. Statt sich schuldbewusst zu verkriechen, stand er auf, steckte die Schnauze durch das Absperrgitter und leckte liebevoll den Hinterkopf des Mannes. Bis sein Herrchen zufrieden lächelte und Pluto auf Französisch “Woff-woff” bellte, was ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie …, wie …, na, ihr wisst schon …
*
 
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Kommentare  

Eine süße Tiergeschichte die auch mir gefallen hat.

Evi Apfel (24.11.2012)

Ja, liebe Doska, für Pluto war es wohl ein himmlich interessanter Ausflug, aber was ICH gelitten habe, danach fragt niemand.

Michael Kuss (22.11.2012)

Sehr süß geschrieben und da ich selber zwei Hunde habe - na, genauer genommen hat die meine Tochter- kann ich sehr nachvollziehen, was das arme Herrchen durchgemacht hat. Aber für Pluto war es bestimmt schön.

doska (22.11.2012)

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