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Nadine und Minouche - 2. Kapitel der "Französischen Liebschaften"

Romane/Serien · Spannendes
2. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Nadine und Minouche".
*
“Du machst Liebe wie ein richtiger Revolutionär!” keuchte Nadine. Wir wälzten uns in den nassen Bettlaken und verständigten uns verbal in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Französisch und sonst mit Körpersprache. Vier Wochen wohnen und schlafen unter den Brücken der Seine und die anderen Tage und Nächte des verregneten Übergangs vom Winter zum Frühling in Obdachlosenasylen und Metro-Stationen hatten mein Französisch nur begrenzt gefördert. Aber Nadine studierte Germanistik und sprach brauchbares Deutsch.
Sie sagte nicht “Du fickst wie ein Revoluzzer”, was der Wahrheit näher gekommen wäre. Sie sagte “Du MACHST LIEBE..., tu fais l’amour...”, wie ein verschämtes Überbleibsel ihrer bourgeoisen Herkunft. Ich schwieg, denn durch unbedachte Äußerungen oder gar Wortklaubereien wollte ich mir dieses phantastische Geschenk nicht vermasseln, obwohl hier ordinäres ’ficken’ angebrachter gewesen wäre.
Schließlich liebte ich nicht; meine ungebremste Geilheit konnte nicht einmal der größte Heuchler ansatzweise als Liebe bezeichnen. Aber plötzlich fühlte ich mich als toller Hecht und ein bisher unbekanntes Selbstbewusstsein hatte mich erfasst. Ohne Scheu und Scham konnte ich mich gehen lassen, konnte abspritzen, beim Orgasmus schreien, meinen bisher recht anspruchslosen Männerstolz in die Tiefen einer Pariser Studentin gleiten lassen, bis Becken und Schenkel auf Widerstand stießen, weil uns der verbliebene Eckplatz zwischen Wandschrank und Fußboden keinen Freiraum mehr gab. Nadine schien unser wilder Hauruck-Sex ähnlichen Spaß zu bereiten; sie schrie, stöhnte und lallte wirres Zeug, wie ich es bisher nur selten gehört und wie ich es mir nicht einmal in meinen kühnsten Selbstbefriedigungsphantasien vorstellen konnte. Wann hatte ich es denn einmal erlebt, so ungehemmt alles herauslassen zu dürfen und dafür auch noch gelobt zu werden?! Was hatte ich eigentlich bisher in Deutschland mit meinen wenigen Frauenbekanntschaften getrieben? Das war ja Kinderkram gewesen, fast so läppisch wie ein paar Jahre zuvor die Onkel-Doktor-Spiele im Stadtpark mit Helene, die dann als Fünfzehnjährige in ein Erziehungsheim gekommen war, weil sie’s allzu früh und zu oft mit den Jungs getrieben hatte.
War ich jetzt und hier in Paris endlich zum Mann geworden? War es der erste Schritt jener Weltrevolution, die wir eigentlich machen wollten, aber gerade verpasst hatten? Wir stießen und kratzten, wir leckten und bliesen uns die Seele und die letzte Kraft aus dem Leib. Unsere sexuellen Ringkämpfe wurden zur olympischen Disziplin, seit Tagen und Nächten nahezu ununterbrochen. Hätten wir mit der gleichen Intensität die Revolution vorangetrieben, ich glaube, sie wäre gelungen...
Aber die Weltrevolution im Quartier Latin und an der Sorbonne war längst von der Kommunistischen Partei Frankreichs und von De Gaulle geschickt erstickt worden; der Frust bei den Genossinnen und Genossen um Daniel Cohn-Bendit - wir nannten ihn “Daniel le Rouge” - saß tief. Jetzt machte diese Studentin mit mir erst einmal die Bettrevolution. Wir waren nur kurz am Kühlschrank schlemmen; Käse, Schinken, Mayonnaise aufs Toastbrot, die Marmelade gleich mit den Fingern aus dem Glas gepopelt und vom Nachttisch neue Präservative geangelt, darauf bestand Nadine. Ich hatte sie in der Apotheke gekauft und einen roten Kopf bekommen, als ich die Apothekerin stockend und verlegen nach "Fromms" fragte und sie mir lächelnd und wie selbstverständlich das Päckchen auf den Tresen legte. Dann ging der Clinch in die nächste Runde. Der Schweiß rann uns vom Körper, bahnte sich einen Rinnsal zwischen Nadines Brüsten, nässte meine Brusthaare wie einen Schwamm, verkroch sich feucht in den zerwühlten Bettlaken.
“Du-hast-die-rich-tige-Ein-stel-lung-zum-Sex!” hechelte Nadine. “Das-ist-näm-lich-ei-ne-Fra-ge-des-po-li-ti-schen-Be-wusst-seins!”
Ich wusste nicht, was meine Sexualität mit Politik zu tun hatte; ich kannte nicht einmal den Begriff ‘Politisches Bewusstsein’. Und ich sah auch keinen Zusammenhang zwischen Nadines Philosophien und meinem neuen sexuellen Selbstbewusstsein. Aber Nadines Knackarsch an meiner Zunge und ihr voller Mund, warm und ziehend über meinem Ständer, waren angenehmer, als vor einer Woche der Barrikadenkampf gegen die Polizei im Quartier Latin, obwohl auch das ein heißes Ding war. Aber wenn der Aufstand nicht nur soziale Verbesserungen für alle, sondern auch sexuelle Freiheit für mich persönlich bringen sollte und man deshalb lustig und unbeschwert drauflosvögeln konnte, dann würde ich mich gerne an der Revolution beteiligen. Außerdem war die Chance groß, in der Auseinandersetzung mit den Bullen zum Held zu werden und noch mehr Eindruck bei den Frauen zu schinden. Ein paar Parolen, ein paar Steine und ein bisschen Fatalismus genügten für meine neue Rolle, die ich anscheinend schnell begriffen hatte.
Die Polizeipanzer standen bereits vom Jardin du Luxembourg abwärts, vor der Sorbonne und am Boulevard Sainte Germaine, Ecke Boulevard Saint Michel. Die Strahlen der Wasserwerfer zischten in die Rue Huchette, jene kleine, mit Basaltsteinen gepflasterte Gasse im Studentenviertel, in der sich der Jazzclub befand, wo ich Lisa seit Wochen erfolglos gesucht hatte. Aber Lisa war fast vergessen; jetzt war ich bei den Revolutionären gelandet und hatte eine neue Heimat gefunden.
Meist jüngere Leute unter den Demonstranten, darunter auffallend viele Frauen. Die Frauen trugen entschlossene Gesichtszüge und lange Haare, aber keine Büstenhalter. Sie hatten Pflastersteine mit Händen, Spitzhacken oder Messer herausgerissen, geschabt, zu Barrikaden aufgetürmt. Sperrmüll wurde herangeschleppt, uralte Sessel und Bettgestelle flogen aus den Fenstern. Der seit Jahren aufgestaute Müll wurde sichtbar. Autos lagen brennend auf dem Rücken. Flammende Käfer und gegrillte Enten im Mai. Schreien, Rauch, Steine, Polizeilautsprecher, Wasserwerfer, Tränengas, Flüstertüten…
Drüben, auf der anderen Seite der Brücke von Saint Michel, zwischen den beiden Flussläufen der Seine, war der Justizpalast von einer Polizeikette umgeben. Eine Menschenmenge stürmte dagegen an. Ja haben die Leute denn keine Angst? Keinen Respekt? Was wird hier eigentlich gespielt? Ungehorsam? Revolution? Bürgerkrieg? Das geht doch nicht einfach so! Da muss man doch vorher bei den Behörden um Genehmigung anfragen! Also diese Franzosen! Wir Deutsche würden uns das niemals trauen! In der Zeitung hatte ich einen Bericht über Deutschland gelesen. Ein Rudi Dutschke war in Berlin niedergeschossen worden. In Berlin und Hamburg war der Teufel los. Berliner Studenten agierten jetzt sogar an Pariser Universitäten. Dutschke hatte in einem Interview Lenin zitiert: “Bevor die Deutschen einen Bahnsteig stürmen um Revolution zu machen, lösen sie erst brav eine Bahnsteigkarte!” Vor dem Berliner Springer-Haus haben sie zum ersten Mal keine Bahnsteigkarte gelöst. Und hier, in Paris, das ist ja das reinste Chaos! Meine Mutter hatte schon immer gesagt, die Franzosen, das ist Schmutz und Unordnung! Mutter! Dein Sohn ist jetzt mittendrin unter diesen revoltierenden Franzosen und es ist ein verdammt gutes und befreiendes Gefühl!
Im Vorortzug hatte es kurz vor Paris Kontrollen gegeben: Der Zug fuhr nicht mehr bis zur Gare du Nord durch. Wir mussten aussteigen und uns per Anhalter nach Paris durchschlagen. Vor drei Tagen waren wir nachts unter der Brücke Pont Neuf in eine Razzia gekommen. Nichts Politisches. Eine stinknormale Penner-Razzia. Aber Paris brodelte bereits und der Staatsapparat wollte auf allen Gebieten Härte zeigen. Tagsüber hatte ich die ersten Transparente vor der Sorbonne gesehen und konnte sie übersetzen: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" Und "Unter den Talaren, der Mief von tausend Jahren!" Ich war beeindruckt. Wer waren die Menschen, die diese Wahrheiten formulierten?
Die Obdachlosen unter den Brücken spürten die Unruhe, aber wir verstanden die Zusammenhänge nicht und den meisten war es ohnehin egal. Die Flics hatten den kleinen Park zwischen den beiden Armen der Seine gestürmt. Wir hatten uns zwischen streunenden Hunden und leeren Ölsardinenbüchsen zum Übernachten in die Büsche verkrochen. Ein Gummiknüppel prasselte auf mich nieder. Ich bekam den Reißverschluss des Schlafsacks nicht rechtzeitig auf.
Panik!
Ein Uniformierter zog mich an den Haaren; ich strampelte mich aus dem Sack. Sie trieben uns an der Anlegestelle der Ausflugsboote vorbei, die steilen, engen Treppen zur Brücke hinauf. Warum müssen sie uns prügeln? Ist Obdachlosigkeit eine Straftat, die man ohne richterliches Urteil mit dem Schlagstock sühnen darf? Bisher hatte ich geglaubt, das sei den Nazis oder orientalischen Polizeischergen vorbehalten.
Neben dem Reiterdenkmal standen die Polizeiwagen. Wellblech-Renaults mit rasselnden Schiebetüren. Wir wurden hineingestoßen, stolperten übereinander, hockten geduckt und zusammengepfercht wie gerupfte Hühner, teils trotzig, teils ängstlich auf der Pritsche. An der hinteren Tür saßen zwei Uniformierte. Sie sahen sich wortlos und dumpf an, als wolle sich einer im Gesicht des anderen festhalten. Sie feixten nicht einmal. Sie hätten mit ihren schmalen Lippenbärtchen wenigstens höhnisch grinsen können oder hochmütig, so mutig wie sie noch vor ein paar Minuten auf uns eingedroschen hatten. Aber sie glotzten nur abgestumpft und müde wie Einfaltspinsel. Nur die Knüppel klopften mit der phlegmatischen Regelmäßigkeit von Sekundenzeigern bedächtig in die Hände.
Meinen Schlafsack und den Brustbeutel mit den Nahrungsmittel hatte ich gerettet, hatte beides noch an mich reißen und hinter mir her schleifen können, als sie uns durch den Park und am steinigen Ufer entlangtrieben.
“Wohin werden Sie uns diesmal bringen?” fragte der Engländer. Er lebte vom Betteln, wenn er nicht auf der Brücke saß und mit erbärmlichen Klängen aus seiner Mundharmonika versuchte, Mitleid heischend ein paar Francs von nachsichtigen Vorbeigängern zu schnorren.
“Silence!” brummte der Polizist gleichgültig und wenig überzeugend. Sie warteten wahrscheinlich auf den Schlusspfiff der Aktion und aufs Dienstende morgen früh. Es gab anscheinend lohnendere Aufgaben, als ein paar Obdachlose zu verprügeln.
Ich überlegte. Heute geht‘s sicher nicht ins Übernachtungsheim! Sonst wären sie freundlicher gewesen! Wenn sie wollten, dass wir uns widerspruchslos ins Obdachlosenheim transportieren und dort duschen und neu einkleiden ließen, wären sie ruhiger und höflicher gewesen. Diesmal deutete alles auf Stadtverweis und Radikalkur hin. Es war offensichtlich: Sie wollten die ohnehin unruhige Stadt säubern und Aktivität demonstrieren.
“Mich bringt keiner ins Übernachtungsheim!” moserte der Clochard neben mir. Er war etwa Vierzig; rasiert und mit gepflegteren Klamotten würde er wahrscheinlich eine gute Figur abgeben. Jetzt erinnerte er mehr an eine abgetakelte Vogelscheuche. “Lieber lasse ich mich von den Flics verprügeln, als mir im Pennerwohnheim von den Schwulen an die Eier greifen oder mir mein letztes Hemd und die Schuhe klauen!”
“Du musst mit Hemd und Schuhen schlafen!” rief jemand dazwischen. “Und die Hände immer schön schützend vor die Eier und deinen Arsch halten!” Die Meute kicherte. „Und mit welcher Hand soll er sich dann einen runter holen?“ Einer der Polizisten erhob sich halb, ließ dann aber seinen Hintern wieder auf die Pritsche zurückfallen. Er hob den Schlagstock in unsere Richtung und sah den anderen fragend an. Der schwieg.
Die Frau zitterte. Sie hatte Angst um ihre weiße Ratte, die sie unter einem Poncho vor den Polizisten versteckte. Wir fuhren über zwei Stunden. Die letzten Lichter der Pariser Außenbezirke versanken in der Nacht, dann holperte der Renault über Kopfsteinpflaster, schließlich ein Waldweg. Sie trieben uns aus dem Wagen in die Dunkelheit. Wir befanden uns in einem Waldstück. Weit und breit kein Haus, kein Anhaltspunkt. Wir stolperten und tasteten uns wie Blinde herum. Die beiden Wagen fuhren weg. „Lasst euch in Paris nicht mehr blicken!“ rief einer der Flics und schwang im Scheinwerferkegel noch einmal warnend seinen Knüppel durch die Luft.
Wir waren ungefähr zwanzig Obdachlose und Herumtreiber, darunter vier Frauen. Zwei Tage würden wir benötigen, bis wir uns wieder orientiert und den Weg zurück nach Paris schaffen würden. Manche gaben auf und verzogen sich für einen Tapetenwechsel in andere Städte. Eine etwa vierzehnjährige Schweizerin schaffte es noch am gleichen Morgen als Anhalterin. “Titten müsste man haben!” lästerte der Franzose. “Titten werden immer zuerst mitgenommen!” Der Engländer feixte zurück: “Du könntest noch so dicke Möpse haben, du stinkst dermaßen, dich würde auch der geilste Bock nicht ins Auto einladen!” Der Franzose hob einen Ast auf und warf ihn nach dem Engländer. Der wich aus und lachte quiekend.
Die weiße Ratte konnte sich jetzt frei bewegen. Die Frau ließ sie über ihre Arme und um den Hals herumgleiten; wenn das Tier über ihr Gesicht huschte, versuchte sie es mit ihrer Nase zu liebkosen, haschte mit einem Mundwinkel verspielt nach den kleinen, flinken Füßen, als seien es die Patschhändchen eines Babys. Wir nannten sie ‚L’artiste folle’, die verrückte Künstlerin. Sie selbst nannte sich 'Minouche', war um die Dreißig, hatte lange, abstehende, buschige Kraushaare und trug ein ausgewaschenes, nordafrikanisches Baumwollkleid mit Perlmuttbesatz, der sich über einen flachen Erbsenbusen spannte. Ihre Augen blickten unruhig, als wären sie von einer inneren Angst geleitet. Oft flackerten sie wie Irrlichter. Ihr voller Mund war sanft und geschwungen. Sie besaß eine versteckte Schönheit. Hätten ihre Augen mich nicht geängstigt, ich hätte versucht sie in den Arm zu nehmen und zu streicheln.
Außer der Ratte und der Wolldecke besaß sie eine Flöte, eine Mappe mit Kohlezeichnungen und eine alte Tragetasche mit Babywäsche. Abends, bei trockenem Wetter, packte sie die Kindersachen aus, legte sie sorgfältig wie kostbare Seide auf die Parkbank nebeneinander, streichelte Höschen und Lätzchen mit behutsamen, zärtlichen Handbewegungen glatt. Ihre Augen waren dann ruhig und nach innen gerichtet; die Irrlichter machten für Minuten einem verklärten Lächeln Platz. Nach einer Weile verstaute sie mit gelöstem Gesichtsausdruck die Sachen sorgsam und liebevoll in der abgetragenen Tasche.
Tagsüber war sie unterwegs, hetzte von Verlag zu Verlag, von Redaktion zu Redaktion. Niemand wollte ihre Zeichnungen. Mir gefielen sie auch nicht. Ich mochte nicht die unruhig durcheinanderlaufenden Kohlestriche, deren wenige Rundungen zwischen abgehackten Dreiecken so etwas wie ein weiches Frauengesicht oder eine muskulöse Männerschulter ahnen ließen.
“Geh’ doch zum Eiffelturm und zeichne Portraits von Touristen!” hatte ich ihr vorgeschlagen und sie antwortete nur kurz “Ich bin keine Prostituierte!” Sie sprach selten, eigentlich nur, wenn man intensiv nachfragte, und dann nur widerwillig. Ihre Stimme klang so verloren wie ein Schluck Wasser in der Seine. Sie beteiligte sich nie an unseren dummen Sprüchen, aber sie nahm kommentarlos kräftige Züge aus der herumgereichten Weinflasche. Manchmal brachte sie Essbares mit und verteilte es in der Runde. Einmal eine Buttercremetorte, die sie im Hausflur einer Patisserie vom Regal gestohlen hatte, oder mehrere Kilo Haselnüsse, dann eine Flasche Olivenöl, in das wir unser Weißbrot stippten und mit Knoblauchpulver bestreuten. Irgendwie bekam sie immer etwas Geld und Essen zusammen, und wenn sie abends unter der Brücke alles auspackte, griffen wir zu und fragten nicht nach der Quelle.
Eines Nachmittags sah ich sie Flöte spielend am Ausgang einer Metro-Station stehen. Obwohl ich zwei Meter vor ihr stand, schien sie mich nicht zu erkennen. Ihre Augen blickten durch mich hindurch in eine unbekannte Ferne. Die Flötentöne kamen einmal weich und traurig, manchmal fließend wie ein quirliger Bergbach, dann wieder hektisch und zerrissen wie kurze Blitze. Die weiße Ratte saß auf ihrer Schulter und leckte sich die Pfoten, ihre roten Augen sortierten listig das Umfeld. Verschämt hatte ich ein paar Münzen in den Blechnapf gelegt und war gegangen. Minouche reagierte nicht. Sie spielte weiter, als sei ich ein Fremder.
Abends sah ich sie am Brunnen von Saint Michel, wo sich die Meute oft traf, Joints rauchen, jemand spielte Gitarre oder sang, wir dösten herum, wurden von neugierigen Passanten fotografiert, von Polizisten beobachtet, schnorrten Zigaretten oder Geld, hielten Ausschau nach gleichgesinnten Gesichtsausdrücken, um ein Gespräch zu beginnen oder mehr, irgendetwas, um unsere mit Lebensfreude übertünchte Einsamkeit zu überbrücken und unseren Sehnsüchten ein Pseudonym zu geben. Sie trank Wein aus einer Flasche und biss abwechselnd in ein halbes Baguette und ein Stück Käse, das sie aus ihrem Brustbeutel gepult hatte.
“Ich habe dich heute gesehen!” sagte ich und sie antwortete tonlos: “Ich weiß!” Sie nahm einen Schluck, schwieg und starrte ein Loch in die Luft. Ich gab es auf, fuhr mit der Metro zum Nordbahnhof und holte Schlafsack und Reisetasche aus dem Schließfach; es wurde Zeit, für die Nacht zu sorgen.
*
Die Gruppe der Streuner hatte sich getrennt. Ein paar schlugen sich ins feucht-sonnige Frühlingsgras, andere machten sich auf den Weg. Die deutsche Ausreißerin, die sich dem Holländer mit der Gitarre und den Haschischrationen angeschlossen hatte, wollte im nächsten Dorf, am Horizont erkennbar, etwas Essbares betteln. Ich behielt mein halbes Baguette, den Camembert, die harte Salami und die Tüte mit schwarzen Oliven in den großen Taschen meines Militäranoraks unter Verschluss. Denn mit Schmarotzern teilen, bedeutet alles abgeben und nichts zurückbekommen. Eine meiner ersten Erfahrungen unter den Brücken von Paris, nachdem ich anfangs mit einer strafbaren Großzügigkeit verteilt und zum Schluss selbst Hunger hatte.
Minouche trödelte hinter uns her. Wir hatten keine Geduld mit ihr; in der Männerrunde traute ich mich nicht meine Sympathie für sie zu zeigen, sondern beugte ich mich der falschen Kumpanei. Schließlich hing sie zurück und wir waren froh, als sie nicht mehr hinter uns herschlurfte.
Mit dem Engländer und einem alten französischen Clochard, der längst die Ehrennadel für Überlebensstrategie verdient hätte, erwischte ich einen Vorortzug, der dann auf offener Strecke hielt. Alle mussten aussteigen! Paris war weiträumig abgesperrt. Die Metro verkehrte nicht mehr.
Generalstreik! Revolution!
Ich verlor Minouche aus den Augen und hatte nur ein Ziel: die Sicherheit der Großstadt! Die tausend Möglichkeiten von Paris! Auch wenn es dort zur Zeit brodelte, aber die engen Gassen und zahlreichen Parks von Paris boten Geborgenheit und Nahrung wie der schützende Mutterleib. Der Moloch Paris warf immer noch ein paar Krümel ab, um bis zum nächsten Tag zu kommen. Die Anonymität der Großstadt bot Leuten wie uns mehr Schutz als das weite flache Land.

Ich wusste nicht, was ein Generalstreik und eine Revolution bedeuteten. Wann erlebt man so etwas? Als ich Stunden später nach Paris zurückkam, war ich mittendrin.
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de
*
Wird fortgesetzt mit dem 3. Kapitel:
"Revoluzzer und andere Liebchen"
 
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Kommentare  

zuerst hatte ich gewaltig respekt vor den vielen "mitwirkenden". aber wenn das so weitergeht, ist es hochinteressant und absolut nicht langweilig. und es stimmt: hier war das nur ein leichtes säuseln im vergleich zu paris. ;-)

Ingrid Alias I (17.10.2013)

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