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6 Seiten

Die Frau in rot

Schauriges · Kurzgeschichten · Experimentelles
Die Frau in rot

Mike saß auf der Parkbank, die er schon seit Jahren aufsuchte, wenn er einen harten und stressigen Arbeitstag hinter sich hatte. Er saß dann auf dieser alten mit Edding beschriebenen Parkbank und rauchte eine Zigarette. Er dachte wie jeden Abend darüber nach, ob es diesmal die Letzte in seinem Leben gewesen sein sollte. Es war kalt und er begann zu frösteln. Die Parkbank wurde normalerweise um die Uhrzeit von einer ebenso alten und mit Edding beschriebenen Laterne beleuchtet. An diesem Tag leuchtete sie nicht. Mike nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies den Qualm in die kalte Nacht hinaus. Er dachte darüber nach, ob er nicht nach Hause in sein warmes Bett gehen sollte. Aber er würde eh nicht einschlafen können. Die Stimmen kamen, wenn er versuchte einzuschlafen oder nur die Augen schloss. Die Stimmen, die ihm grauenvolle Dinge in sein Ohr flüsterten. Dinge über seine Tochter, die entführt wurde, aber nie gefunden.
„Was denkst du in welchem Teich sie Teich sie verrottet? Was denkst du, was hat der kranke Drecksack vorher mit deiner Tochter angestellt? Was waren wohl ihre letzten Worte? Musste sie leiden? Hat sie gewimmert? Hat sie gebettelt? Hat sie deinen Namen gerufen? Du warst nicht da. Hattest du ihr nicht gesagt, dass du immer für sie da sein würdest? Vielleicht lebt sie sogar noch und muss jeden Tag aufs Neue leiden, seit vier Jahren jeden Tag.“
hört Mike sie jede Nacht flüstern. Hätte man „Sie“ gefunden, könnte Mike seinen Frieden finden. Ihm flossen nicht vorhandene Tränen über das Gesicht, wenn er über „Sie“ nachdachte. Er nannte seine Tochter nicht mehr Bell. Er nannte sie im Gespräch nur noch „Sie“. Er hatte sich von seiner Frau getrennt, als sie beide 34 waren. Das war vor drei Jahren, als ihnen gesagt wurde, dass keine Hoffnung mehr bestünde, „Sie“ zu finden. Mike hatte kein einziges Mal geweint. Nicht am Tag der Entführung, nicht am Tag der Trennung und nicht an den Tagen, die danach kamen. Seit vier Jahren war keine Träne über sein Gesicht gelaufen. Er fühlte nur eine Leere. Eine Leere, die weder seine Frau noch die vielen anderen Frauen danach, hatten füllen können. Als Mary sich von ihm getrennt hatte, haben sie kein einziges Wort miteinander gewechselt. Es gab nichts zu sagen. Er zog aus und fuhr weg. So weit es nur ging. Weg von den Erinnerungen, die ihn trotzdem verfolgten. Wohin er auch ging, die Erinnerungen waren schon da und schienen über ihn zu spotten. „Hatte er wirklich gedacht, er könnte vor uns fliehen? So ein Idiot. Wir sind du. “ höhnten sie. Er nahm einen letzten tiefen Zug und warf dann seine Zigarette weg. Die dazugehörige Packung und sein Feuerzeug packte Mike in seine rechte Jackentasche. Er erinnerte sich daran, dass die Tasche ein Loch hatte und steckte seine Raucherutensilien in die linke Jackentasche, um ja nichts zu verlieren. Er blieb noch eine Weile in der Kälte sitzen und genoss die Einsamkeit. Niemand war in der Nähe. Niemand hörte ihn. Niemand sprach mit ihm. Er schaute auf sein altes Klapphandy. Es zeigte halb vier morgens an. Er hatte fast eine Stunde auf seiner Parkbank gesessen. Vielleicht wäre er nach Hause gegangen, wenn er die Frau in rot nicht gesehen hätte.
Sie hatte ein schlichtes rotes Kleid an, welches bis zu den Knöcheln reichte. Das Kleid schien auf eine gewisse Art zu glänzen oder zu schimmern. Eine Art, die Mike nicht genau definieren konnte. Es war wie ein flüchtiges Gefühl, das, wenn man es hat, einen komplett ausfüllt und so schnell wieder weg ist, als dass man es hätte beschreiben können. Für Mike war dieser flüchtige Moment ganz und gar ausfüllend. Für einen kurzen Moment war die Leere verschwunden. Er versuchte diesen Moment festzuhalten aber die Frau ging weiter. Mike konnte nicht realisieren, was gerade geschehen war. Diese Frau oder besser das Kleid war das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Schöner als seine Tochter, schöner als seine Frau und schöner als alles andere eben. Dabei hatte er gar nicht so viel von der eigentlichen Frau wahrgenommen. Mike war sich ziemlich sicher, dass sie blonde, lange, glatte Haare hatte. Oder waren sie doch eher schwarz mit Locken. Oder war es eine Mischung aus beiden. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Wie viel Zeit war vergangen? Wohin ist die Frau mit dem roten Kleid gegangen? In Mike schlich sich Panik. Eine kalte und grausame Panik, die an ihm hinaufkletterte, sich um seine Kehle schnürte und ihm die Luft zu nehmen drohte. Er zwang sich zur Ruhe und folgte der Frau nach links aus dem Park raus. Dies war der einzige Weg aus dem Park. Fragen wie „ Wieso war die Frau hier?“, oder, „ Warum ging sie ganz alleine in der Nacht durch den Park?“, fragte Mike sich nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt diese Frau zu finden.
Es kann doch nicht so schwer sein eine Frau in einer menschenleeren Stadt zu verfolgen. Wo ist sie nur? dachte er, während er seine neuentdeckte Droge suchte. Die Gassen, durch die er lief, waren verwinkelt und verwirrten jeden, der neu in der Stadt war. Mike fühlte sich noch mehr verloren als vorher. Er wollte dieses Gefühl noch einmal erleben. Er wollte die Leere nicht mehr spüren. Die Gassen wurden enger, je mehr man sich dem Kern der Stadt näherte. Genau in der Mitte der Stadt befand sich ein runder gepflasterter Marktplatz. In der Mitte des Marktplatzes stand ein Brunnen. Ein sehr tiefer Brunnen, der verziert war mit verschiedenen Fratzen, die jeden Blick verfolgten. Gequälte Fratzen mit weit aufgerissenen Augen und Mündern jagten den kleinen Kindern meist solche Angst ein, dass sie sich von dem Brunnen fernhielten. Sie hatten Angst, dass der Brunnen sie einfach verschluckte. Beinahe alle Einheimischen mieden ihn. Die Stadt war bekannt für ihren Brunnen, den Mann „Höllenschlund“ nennt, um Touristen anzulocken. Schaulustige beugten sich tief über den Brunnen und ließen Fotos machen. Mike gehörte zu denjenigen, die keine Angst vor dem Brunnen hatten. Wieso auch? Es waren ja schließlich nur Schauergeschichten. Mike näherte sich dem Stadtmittelpunkt und begann sich beim Laufen umzudrehen, weil er das Gefühl hatte verfolgt zu werden. Die Schatten der Gebäude schienen nach ihm zu greifen. Er hörte ab und zu ein helles Kichern, dem er folgte.
Bestimmt ist sie beim Brunnen. Sie muss beim Brunnen sein! Sonst hab ich sie verloren. Für immer…Nein. Sie ist dort. schrie es in seinen Gedanken. Nur dieser Gedanke hielt ihm am leben. Er bog um die nächste Ecke und stand auf dem Marktplatz. Der Brunnen war beleuchtet. Die Frau mit dem roten Kleid stand vor dem Brunnen und sah Mike direkt in die Augen. Sie hatte glatte schwarze Haare.
Mike stand einfach nur da. Er war erstarrt. Er musterte sie. Er sah sie. Sie begann sich zu verändern. Sie hatte keine Füße mehr. Es waren nur noch rote Stümpfe. Sie hatte keine Augen und der Mund war zugenäht. Was war mit ihr passiert. Die schönen, glatten und schwarzen Haare waren nicht mehr vorhanden. Stattdessen waren es nur noch Büschel aus schlammigem dünnem Haar, die an ihrem Gesicht und auf ihrer Kopfhaut klebten. Aus ihrem geschlossenem Mund tropfte eine schwarze Flüssigkeit und bildete eine kleine Pfütze am Boden. Ihr rechter Unterarm war nur noch durch ein Fetzen Haut am Oberarm befestigt und man konnte den gesplitterten Knochen sehen, der aus beiden Enden ragte. Das Kleid war immer noch wunderschön, wie der Sonnenuntergang. Es verflüssigte sich, als Mike es ansah und verschmolz mit der Pfütze am Boden. Er schwitzte. Die Pfütze verselbstständigte sich und kroch auf ihn zu. Der schwarze Tod wurde die Pest genannt. Wie nannte man das, was auf Mike zukroch? Es war wie ein Haufen kleiner Spinnen, der sich auf Mike zubewegte. Nur war er flüssig und undefinierbar widerlich. Die Pfütze berührte Mikes Schuhe. Er konnte sich nicht rühren. Die Pfütze drang durch seine Schuhe und durch seine Haut in ihn ein. Die schwarze Flüssigkeit verbreitete sich in seinem Körper. Mike begann von innen heraus zu verfaulen. Er konnte nicht mehr atmen. Er konnte sich nicht rühren.
„ Ich werde so enden wie sie. Ich werde so enden wie sie.“ War sein letzter Gedanke. Die nackte grässliche Frau riss ihren Mund auf. Die Nähte platzten auf und gaben einen verfaulten Mund frei. Sie lachte. Mike schloss die Augen und spürte nichts mehr. Keine todbringende Flüssigkeit in seinem Inneren. Keine Grauenhaftes aus der Hölle kommendes Lachen von der Frau in rot. Er öffnete seine Augen und sah wieder das schönste weibliche Wesen, was er je gesehen hat. Sie drehte ihm den Rücken zu. Das Kleid verdeckte ihren Rücken nicht und brachte ein Tatoo zum Vorschein. Zwei schwarze Flügel zierten ihre beiden Schulterblätter. Mike folgte diesem perfekten Rücken. Die Frau drehte sich nicht um. Sie ging hüftschwingend geradeaus zu einer geschlossenen Tür. Die Tür gehörte zu einem Restaurant. Es war alt und verlassen. Es heißt, dass es geschlossen wurde, weil es an einem wunderbar sonnigen Sommertag zu einem Massaker gekommen war. Eine Serviererin hatte abgeschlossen und dann alle Personen in diesem Restaurant brutal abgeschlachtet. Dem Koch soll sie zuerst den Kopf auf die Herdplatte gedrückt haben. Dann hat sie ihm die Zunge rausgeschnitten und einer Frau als blutige Rinderzunge serviert. Danach hat sie der Frau ihr Steakmesser durch die Lunge gejagt und ihr die Kehle rausgerissen. Einem weiterem Gast soll sie das Herz entnommen und in seinem Mund gestopft haben. Wieso sie niemand aufhalten konnte, wusste niemand. Das lag daran, dass diese Frau sich selbst umgebracht hatte. Man fand sie umgeben von Leichen und ihren eigenen Organen. Überall war rotes Blut. Überall waren aufgeschlitzte Leichen. Sie war eine davon. Sie hatte sich ihre eigenen Organe entfernt. Das hatte niemand geglaubt.
Auch Mike ging durch die Tür. Blendendes weißes Licht und er befand sich in diesem Restaurant. Er saß an einem Tisch. Vor ihm saß seine Exfrau und schwärmte von Rom. Jemand tickte ihm von hinten leicht auf die Schulter.
„Ist alles okay Daddy?“
„Ja klar mein Schatz. Setz dich hin. Deine Nudeln kommen gleich.“
Mikes Tochter setze sich und begann mit ihren langen blonden Haaren zu spielen. Seine Tochter war 12. Sie hatte ein geblümtes Kleid an und war dezent geschminkt, um wie ihre Mutter auszusehen. Mike trug einen Anzug aber keine Krawatte. Er hasste Krawatten. Seine Exfrau trug ein schwarzes Abendkleid und hatte kurze blonde Haare mit einem leichtem Anflug von grau. Sie war jetzt 37, genau wie Mike. Sie redete immer noch darüber, wie schön es in Rom gewesen war. „…und wir müssen uns unbedingt noch mal den Pantheon ansehen. Ist alles okay Schatz? Du siehst so krank aus und abwesend. Wo steckst du gerade mit deinen Gedanken?“
„…Beim Pantheon, mein Engel. Wie wäre es, wenn ich gleich morgen einen Flug buchen würde. Klingt das nicht toll?“
Mike wusste nicht, was er da sagte. Er wusste nicht einmal, wo er war. Er wusste nur, dass er es nicht war, der diese Sachen sagte. Er war verwirrt. Irgendetwas stimmte nicht. Mike wusste nur noch nicht was. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sah ein schwules Pärchen. Das Pärchen hatte eine angeregte Diskussion über ihre neuen Vorhänge für das Schlafzimmer. Ein weiteres Ehepaar war mit ihren beiden Kindern im Restaurant und aß still sitzend ihr Essen. Die Kinder machten Mike Angst. Sie saßen mit zusammengefalteten Händen auf ihrem Stuhl und blinzelten nicht einmal. Sie gaben keinen Ton von sich. Atmeten sie überhaupt?
„Du merkst es langsam oder?“
„Was soll ich merken, mein Engel?“ , sagte Mikes Stimme.
„Nein ich möchte mit Ihm reden.“
„Was?“ , sagte Mike. Er hatte nicht bemerkt was um ihn herum passierte. Das Paar mit den Kindern war anscheinend tot. Die Eltern hatten keine Köpfe mehr und die Gesichter der Kinder hatten keine Augen und ihre Münder waren zugenäht, wie bei der Frau in rot. Die Haltung der Kinder war immer noch die gleiche. Auf den Tellern des schwulen Pärchens lagen ihre Köpfe und trotzdem unterhielten sie sich noch immer über ihre neuen Vorhänge.
„Wir sind tot, Schatz. Du hast es noch nicht mal gewusst, oder? Ich wurde von demselben Mann vergewaltigt, der auch unsere Tochter entführt hat. Er hat uns zersägt und neu zusammengesetzt. Bell und ich sitzen mit ihm an einem Tisch und dich hat es nicht mal interessiert, wie ich mich nach der Trennung gefühlt habe. Ich hätte dich gebraucht.“
Sie krallte ihre Fingernägel in Mikes Hand. Er schrie innerlich.
„Und mich hast du verzweifelt versucht zu vergessen, oder Daddy? Du bist geflohen und hast mich einfach vergessen. Du hast mich nicht einmal bei meinem Namen mehr genannt. Bell. Du kennst meinen Namen doch noch, oder etwa nicht Daddy???“, die letzten Worte hat sie ihm ins Gesicht gespuckt. Speichel und Blut waren auf seinem Gesicht gelandet. Seine Tochter sah nicht mehr aus, wie vorher. Sie hatte schon angefangen zu verwesen. Hautfetzen hingen von ihrem Gesicht. Mike sah Nähte. Sie war übersäht damit. Ihr Mund war weit aufgerissen und sie fraß Mike mit Haut und Haar. Man hörte noch ein genüssliches Schmatzen und ein kreischendes Lachen. Dann herrschte Stille.
Mike öffnete die Augen und seine Hölle begann von vorne.
 
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