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4 Seiten

Der Flaneur

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Alexander
Ich packe meinen Mantel, laufe durch die Tür das Treppenhaus hinunter und verlasse meine Wohnung. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, wohin ich laufen soll, stürme ich durch die dunkel werdenden Strassen.

Zunächst bewege ich mich ausschliesslich auf den grossen, menschenverstopften Strassen. Das Gedränge zur Feierabendzeit macht es beinahe unmöglich voranzukommen. Ständig werde ich angerempelt und remple selber andere Personen an, doch ich schaue beharrlich auf den Boden und lasse mich vom Gedränge durch die Strassen treiben. Mir wird übel. Es ist unerträglich warm zwischen den hechelnden und dunstenden Menschenkörpern. Ein grausamer Gestank nach Schweiss kriecht mir die Nase hoch. Der Geruch des Lebens. Ich vermeide es, in die Gesichter der Menschen zu blicken und laufe hastig mit stets gesenktem Kopf und zugezogenem Mantel durch das immer dichter werdende Gemenge. Die vom Regen nassen Pflastersteine reflektieren das Licht der Laterne, sodass kleine Funken vom Boden aufzublitzen scheinen. Dieses Lichtspiel des Kopfsteinpflasters fasziniert mich, aber erinnert mich gleichzeitig daran, nicht aufzublicken und in die Gesichter der Menschen zu sehen. Das Absurde an meinem Verhalten ist, dass ich ganz genau weiss, dass ich früher oder später in die Gesichter blicken werde, ja dass dies sogar der eigentliche Grund meines Abendspaziergangs ist. Doch noch soll es nicht soweit sein, ich vermeide das Aufblicken und laufe während ich auf das trostspendende, flackernde Kopfsteinpflaster blicke, die überfüllten Strassen entlang.

Nach weiterem Verfolgen der Hauptstrasse stosse ich auf eine Treppe, die zu einer U-Bahnstation führt. Ich laufe sie hinunter und steige ein. Wohin ich fahre weiss ich nicht, es kümmert mich nicht. Ich setze mich hin, schaue aus dem Fenster in das Schwarz des U-Bahnschachts und bemühe mich weiterhin niemanden anzusehen. Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster und erkenne mich sofort, ohne zu wissen wer ich bin. Ich versinke in Gedanken. In unaufschiebbare, marternde Gedanken. Plötzlich werde ich aus meinen Überlegungen gerissen: „Wie komme ich zur 8th Avenue?“ Ich schaue der fragenden Person ins Gesicht. Eine Warze befindet sich oberhalb des Mundes einer älteren Frau, welche sich beim Sprechen auf bizarre Weise bewegt. Mich ekelt die Warze an, doch ich kann nicht von ihr absehen. Ich lasse sie nicht aus den Augen. Sie hüpft hinauf und hinunter wie ein Tennisball. Ich verabscheue nun das ganze Gesicht der Frau, nein, ich verabscheue die ganze Frau. Tiefer Ekel gepaart mit Überlegeneheitsdünkel breitet sich in mir aus. Doch weshalb? Ich möchte nicht so denken, ich möchte nicht so sein. Doch ich bin es. Nun ist geschehen, was ich zu verhindern suchte. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Tiefer Widerwille beherrscht mein Denken. Die Frau wartet auf meine Antwort. Ich habe die Frage vergessen, ich habe die Frau vergessen. Diese starrt mich entgeistert an und geht weiter.

Bei der nächsten Station steige ich hastig aus und begebe mich wieder auf die Strasse. Nun befinde ich mich am Rande eines grossen Parks auf einer menschenleeren Strasse, es ist inzwischen völlig dunkel geworden und es regnet in Strömen. Ich blicke auf die grossen Trauerweiden hinter dem rostigen Zaun des Parks, während mir der Regen ins Gesicht peitscht und fühle mich geborgen. Beim Blick auf die melancholisch wiegenden Bäume geht es mir gut. Mein Ekel hat sich gelegt. Ich urteile nicht über das Aussehen der Bäume, ich finde sie nicht schön und nicht hässlich. Ich kann abschalten, ich sehe die Bäume so, wie sie sind. Es machen sich keinerlei Reaktionen in mir bemerkbar, welche verraten, wer ich bin. Beim Anblick der Bäume bin ich niemand.

Ruhig laufe ich weiter. Der Regen scheint noch heftiger geworden zu sein. Auf der Strasse haben sich kleine Flüsse gebilet, welche in meine Richtung zu strömen scheinen. Mein Haar ist völlig durchnässt, es ist mir egal. Als ich am Ende der Strasse auf eine Kreuzung zulaufe, höre ich aus der Ferne eine Melodie, die durch die Nacht hallt. Ich wusste, dass mich diese unweigerlich in Menschennähe bringen würde, doch ich lief ihr nach. Die Musik wird immer lauter, ich laufe immer schneller. Es handelt sich um eine traurige, schwere Melodie, gespielt von einem Saxophonisten in durchlöcherter und völlig durchnässter Kleidung. Er bat mit seinem schweren, doch schönen Spiel stumm um Almosen, indem er einen Hut vor sich auf dem Boden hingestellt hatte. Der Hut ist schäbig und leer und scheint sich im Wasser des strömenden Regens aufzulösen. Der Künstler steht trotz des niederdrückenden Regen aufrecht und stolz und blickt starr in die Ferne, während er spielt. Zudem hatte er sich an einem Ort aufgestellt, welcher sich nicht dafür eignete, um Geld zu bitten, da fast keine Menschenseele an ihm vorbeigehen würde. Geschweige denn bei diesem Wetter. Ich konnte es nicht fassen, dass so ein Talent, welches Applaus, ja sogar eine Bühne verdiente, bettelte und dazu noch auf solch einer leeren Strasse spielte, wo er nichts verdienen würde. Ich wollte, dass er Belohnung für sein Spiel erntet. Noch nie habe ich etwas Tragischeres gesehen als diesen Saxophonisten, er pfeift auf Mitleid oder Anerkennung. Er bietet seine Kunst an und nimmt im Gegenzug, was man ihm geben wollte, ohne etwas zu erbitten oder jemandem hinterherzulaufen. Er bekommt nichts und nimmt es nicht bloss hin, sondern spielt so beharrlich weiter, als würde er vor einem Riesenpublikum stehen. Als ich an ihm vorbeilaufe, nicke ich ihm zu. Nichts scheint mir fremder zu sein als dieser Mann. Aus seinem Blick kommt mir erhabene Gleichgültigkeit entgegen. Ich schaffe es nicht, ihm länger als einen kurzen Augenblick in die Augen zu sehen. Er bemerkt mich nicht. Für ihn bin ich niemand. Schlimmer, für ihn bin ich verachtenswert.

Ich laufe weiter. Das Bild des Saxophonisten lässt mich nicht mehr los. Es muss eine Wirkung auf mich haben, das fühle ich. Ich müsste ihm nacheifern. Zumindest versuchen müsste ich es. So wie er ist, will ich sein, muss ich sein. Ich hasse ihn.
In grosser, doch unbegründeter Eile laufe ich über die verlassenen Strassen, bis ich in ein heruntergekommenes Wohnviertel voller kleiner, verwinkelter Gassen gelange. Der Boden ist uneben, ich muss darauf achten, wo ich hintrete. Ich stolpere. Eine streunende Katze läuft vor mir durch, bleibt kurz stehen und schaut mich an, bevor sie bemerkenswert langsam in eine Nebengasse trottet und sie der dichte Nebel verschluckt. Links und rechts von mir befinden sich verdreckte und zum Teil durchlöcherte Häuserfassaden. Ein fauliger Gestank liegt in der Luft. Der erfrischende Regen hört langsam auf und macht den Gestank noch unerträglicher. Der Nebel wird dabei noch dicker, so dass er mir mit dem Gestank zusammen wie ein giftiges Gas vorkommen. Ich atme durch den Mund weiter und laufe ziellos und schnell durch die engen Gassen, um dem Gestank zu entkommen.

Eine Kirchenglocke schlägt. Ich erschrecke, ich weiss nicht wie lang und wohin ich gelaufen bin. Wie in Trance musste ich mindestens eine Viertelstunde gelaufen sein, da die Kirchenuhr zur vollen Stunde schlägt. Erst jetzt bemerke ich vereinzelt Stimmen, ich befinde mich auf einem grossen Platz, auf dem ich bisher noch nie gewesen war, obwohl dies meine Heimatstadt ist. Schlafende Obdachlose säumen den Rand des Platzes. Einer schlafenden Frau mit Kind lege ich einige Münzen hin, ohne danach etwas zu fühlen. Ein verwahrlostes Karussell steht in der Mitte des Platzes. So dunkel und bedrückend gefällt es mir besser, als wenn es beleuchtet und voller Kinder ist. Es ruft in mir eine Erinnerung hervor, welche ich jedoch sofort verdränge. Die ganze Nacht hindurch hatte ich mich an nichts erinnert, ich hatte sie bewusst dem Moment gewidmet. Fast habe ich den Platz schon verlassen, da sehe ich eine Gestalt, die sich nach den Münzen bückt, welche ich der schlafenden Frau hingelegt habe. Ich laufe ihr entgegen und erkenne ein Saxophon auf dem Rücken der Person. Der Saxophonist. Ich gerate in Rage und springe dem Dieb entgegen. Ich packe ihn, lache ihm mit voller Kehle ins Gesicht und schleudere ihn zu Boden. Mich überkommt ein hysterisches und unendlich befreiendes Lachen. Eine grosse Last scheint sich von mir zu lösen. Nun liebe ich ihn, das spüre ich. Ich liebe ihn, da ich mich dank ihm selber lieben kann. Als ich ihm nun voller Spott in die Augen blicken will, sehe ich in ein erschrockenes Gesicht, welches mich verängstigt anstarrt. Es ist nicht der Saxophonist, ich habe mich geirrt. Das fremde Gesicht macht mir schreiend Vorwürfe, auf die ich nicht eingehe. Ich schaue das Gesicht bloss an. Ich schaue es lange an und gehe an ihm zugrunde. Ich ertrage mich nicht. Ich ertrage nichts mehr. Ohne mich um den fremden Mann zu kümmern, laufe ich schnell in das Dunkel der Nacht. Plötzlich überkommt mich wieder ein furchtbarer Gestank, der aus dem Nichts zu kommen scheint. Ich fühle mich, als wäre ich in dieser Nacht um viele Jahre gealtert.
 
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