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11 Seiten

Wohin der Gram mich trägt

Trauriges · Kurzgeschichten
I – Versuch, meine Motive darzulegen

Es ist Nacht.
Es war ein heißer Sommertag, der schon von Beginn an eine gewisse unheilvolle Spannung in sich trug, doch nun ist es Nacht.
Schwer und warm legt sich der Abendwind wie eine zu dicke Decke um dich, dir fällt das Atmen schwer.
Ein lauer Wind, langsam, doch beständig stärker werdend.
Es beginnt zu regnen.
Auf vereinzelte Tropfen folgen schließlich Horden, ganze Scharen an Scherben des kühlen Nass, schlagen Ringe in die Pfützen, die sich bereits zu deinen Füßen aus der Dunkelheit erheben, zerbrechen die klammen Spiegel der Angst, das Wasser rauscht mit dem stürmischen Wind.
Ein Donnerschlag durchbricht die Nacht.
Peitschend schlägt dir der anschwellende, der immernoch anschwellende Wind den Regen in dein Gesicht.
Und er schreit, er schreit, wenn er über die Bäume schrammt, um dich zu strafen.
Er schreit, doch Inhaltsleer.
Sprache – doch tot.
Worte - doch Zornverbrannt.
Alles, was sie ausdrücken, ist der blinde Hass, die Raserei, die sie gegen dich empfinden, und der Wunsch, deinen schwachen Körper zu zerreißen. Und alles, was du spürst, ist die Euphorie darüber, jemanden gefunden zu haben, der mit dir fühlt. Denn auch du, tief im Innern, willst nicht mehr, als dich im zornentbrannten Schrei selbst zerreißen.
Du fühlst dich frei – und verstanden.
Und du schreist mit dem Wind.


II– Rechtfertigung

Ich bin gerne draußen, wenn das Wetter mich spüren lässt, dass es das nicht will. Denn wenn das Wetter mich töten will, dann kann ich spüren, dass ich noch lebe.
Und auch, wenn es Tage gibt, da der Sturm mein ganzes Herz erfüllt, so weiß ich doch, daß irgendwo hinter den wallenden Wolken, über all dem Zorn, dass dort noch ein Mond scheinen muß, der da leuchtet, um mein Herz mit seiner Wärme zu heilen. Denn so soll mein Herz sich anfühlen – wie der Mond, der strahlende, der ewig einsame, der unantastbare, der ferne Mond.
Doch manchmal scheint mir der Mond auch kalt zu sein, und dann weiß ich, daß er mich gerade wieder errettet, aus der Gefühlsduselei. Der Mond ist mein Freund.


III – Subjektive Eindrücke

1 - Regen
Es ist Nacht, es regnet. Dennoch lenkt sich unbestimmt mein Schritt durch weite Flur. Das eintönige Rauschen der fallenden Regentropfen, wenn sie, auf dem festgetretenen Pfad zerplatzend, wehklagend ihren Schmerz kundtun in die weite Welt, das Prasseln von Tausend und Abertausend Aufschlägen im sinnlosen Tode nach sinnlosem Sturze in den Feldern um mich herum durchdringt langsam, doch beständig den selbstauferlegt-grauen Schleier, der sich zum Schutze meiner Seele um mein Herz geschlungen, so wie der Regen auch langsam, aber beständig meine Kleidung durchnässt, durchdringt den Schleier, die Angst, die Sorge, dringt durch – zu mir.
Obschon bereits durchnässt bis auf die Knochen, trage ich selbst meinen kleinen, bescheidenen Teil bei zu all den fallenden Tränen dieser Nacht. Denn der durchweichte Schleier offenbart mir das, was zu sehen zu vermeiden der Antrieb war für diesen Streifzug. Er offenbart mir das kleine, zerbrechliche Ding, meine Gefühle nämlich, die verhassten, das schwache Ding in mir. Und er offenbart mir das Chaos in meiner Brust, das zu ordnen ich seit Jahr und Tag vergeblich zu versuchen scheitere. Schon manches Mal bedachte ich den Seelenfrieden des Freitodes als Erlösung, er brächte mir die Ordnung. Doch noch ist der Tag nicht gekommen…
Und wenn ich nach oben schaue, weg von mir selbst, dann sehe ich über mir nur einen Himmel, der fließt, der Musterlos zerfließt, wie es auch in mir zerfließt, Chaos

„Das Regentropfen Tränen sind,
die da fallen,
wenn Regen liebt…“

2 – Stiller Traum
Doch was wäre, wenn die Welt sich entschiede, genau jetzt für einen Moment inne zu halten, stehenzubleiben und den Augenblick betrachtete, genösse?
Wenn sie mich sähe, naß-durchweicht die Nacht durchstreifend, wenn sie den Regen sähe, der, im Fall erstarrt, wartete auf den tödlichen Sturz, wenn sie den Hauch der Nacht einfinge, der für mich ihren Namen wispert, wenn sie, vom Blitze, der just gerade den Himmel zerreißt, erhellt, die Tränen auf meinen Wangen zu deuten verstünde, in Traumschwebe erstarrt…
Wenn meine Seele gar es vermochte, dem Stillstand zu entgehen, sich von meinem plumben Erdenkörper löste, zu ihr flog, um einfach nur bei ihr zu sein, sie zu betrachten in ihrer Anmut und ihre Stimme zu vernehmen in ihrer Schönheit, sie zu genießen, einfach nur bei ihr zu sein…
Und so stand, für einen einsamen Wanderer durch die Nacht, gegen den Lichtschein des mahnenden Blitzschlages deutlich vernehmbar, ein dunkler Schemen regungslos im Regenguß, in Traumschwebe erstarrt…
Doch auf den Blitz folgt ein Donnerhall, und ein zweites schwaches Echo, ein kraftleeres Schluchzen.
Der Dunkle Schemen bricht zusammen.

4 – Zeit und Wunden
Ein dunkler Schemen durchstreift die Nacht, dem Regen zum Trotze.
Nicht, das er gerne draußen wäre, doch er muß. Er selbst zwingt sich dazu. Er versucht, zu fliehen, versucht, sich selbst zu entkommen. Denn wenn er in sich geht, dann sieht er sein Selbst in Trümmern, zerrissen und zerschunden von dem Tier seiner Triebe, dass ihn zu ihr zerreißt.
Wenn er in sich geht, ist alles, was er sieht, die Wunden, die sie hinterlassen hat, verbrannte Erde. Doch hier draußen, wo er versucht, ihnen zu entfliehen, da findet er keine Ruhe, keinen Frieden, da findet er nur eines – Sie.
Sie sagen, Zeit heile alle Wunden.
Doch seine nicht.
Seine Wunden werden niemals heilen.
Seine Wunden sind tiefer, als die Zeit reicht.
Und so wird alles, was er sieht, wenn er in sich geht, auf ewig blutend aufgebahrt auf Altären zu ihren Ehren liegen.
Und so wird er ewig durch die Nacht streifen, auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich selbst zu entkommen, ihr zu entkommen.
Und er wird sie einst finden, in just diesem Walde – Und dann wird sie ihn einst finden, in diesem Walde, und sie wird weinen, und sie wird fliehen, in die Nacht, wird vor sich selbst fliehen.
Denn ihre Wunden sind tiefer, als die Zeit reicht.

5 – Heimat und Buße
Im Schatten einer Eiche kniet ein dunkler Schemen darnieder, schmiegt sich wie eine Nebelsschwade in das Unterholz. Er begrüßt sie, denn sie ist sein Freund. Sie wird ihn nicht im Stich lassen.
Er wird seinen Oberkörper entblößen, und er wird sein Äußeres seinem Inneren Angleichen. Er war schoneinmal hier diese Nacht, war bereits auf dem Heimweg gewesen, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben dahintrottend, den Blick gramvoll gesenkt, da hat ihn etwas an sie erinnert, ein zarter Geruch, der über die regennasse Wiese strich, sich vom Windeshauch zu ihm tragen ließ. Und er erstarrte. Und er fiel auf die Knie. Und er weinte, Tränen, eiskalte Tränen, sechs an der Zahl, denn sechsfach starb er in dieser Nacht, von der eigenen Verzweiflung aufgefressen. Dann erhob er sich, kehrte um und führte seinen Schritt zurück in den Wald, und rannte.
Doch nun ist er angekommen, wieder angekommen, und schon fließt das heiße Blut über seine kalte Haut. Voll Ärger vernimmt er der Eiche spöttisch Lächeln hoch über seinem Haupt, er weiß es seiner abrupten Rückkehr geschuldet. Und tatsächlich, sie hat recht, es ist tatsächlich lächerlich, wie schwach er geworden ist.
Seine Wunden von vorher sind wieder aufgerissen, immernoch läuft das Blut aus ihnen. Sie werden wohl nicht sauber verheilen, dafür kümmert er sich zuwenig, dafür kümmert es ihn zuwenig, doch das spielt auch keine Rolle, für ihn.
Und so fängt er wieder an, nicht zum ersten Male diese Nacht, und vielleicht auch nicht zum Letzten.

6 – Anfang und Ende einer Hoffnung
Im Schatten einer Eiche kniet ein dunkler Schemen in einem dunklen Forst. In den Händen hält er ein altes Jagdmesser, daß seine besten Zeiten wohl bereits hinter sich gebracht hat, doch es ist das Seine, und es ist das Seine schon gewesen eine lange Zeit, und es wird das Seine sein bis in alle Ewigkeit.
Einen Moment lang belegt er es mit einem Segen, einem Gefühl, einer Grundstimmung, die ihn gerade bewegt, und nicht zum ersten Mal erstrahlt die schartige Klinge im Glanze seines kalten Hasses auf. Sie muss wohl das bösartigste Stück Metall im ganzen Forst sein.
Dann streckt er den Arm, die Hand zur Faust geballt, nach vorn, setzt an, beginnt, sich selbst zu zerfleischen.
Ein Strahl fahlen Mondlichtes bricht durch das dünne Blätterdach, als eine Wolke sich zerfaßernd aufzulösen beginnt, ein Bruder im Geiste am Ende seines Leidens. Wie er sich in der Klinge fängt, wie er reflektiert wird, dem dunklen Schemen in das Gesicht geprügelt wird, da erinnert er an eine Begebenheit, die sich vor nicht all zu langer Zeit begeben hatte:

Sie hatte ein Gespräch mit ihm geführt. Sie hatte nämlich die wulstigen Narbe, die seine Arme wie auch seinen Hals bedecken, entdeckt, hatte ihn zurechtweisen wollen, ihn beschützen wollen. Hatte ihn gebeten, so etwas nie wieder zu tun, für sie. Dann hatte sie ihn abrupt umarmt – das hatte ihn überrumpelt und es hatte ihn beinahe die gesamte Nacht gekostet, zu begreifen, was geschehen war – und war gegangen.
Er fühlt wieder die Verpflichtung warm in seiner Brust aufbegehren, dann lächelt er nur kalt. Er ist nicht hierher gekommen, um ihr gefällig zu sein. Er ist hierher gekommen, um sie in sich selbst zu töten. Und schon wird das zarte, kleine, warme Ding in seiner Brust verschluckt von nichts als Kälte und Verachtung.
Und so fährt er fort, sich selbst zu verstümmeln, nachdem er kurz Inne hielt, und nun lächelt er gar dabei, und sein Messer lächelt mit ihm, da ist er sich sicher.
In einer Handlung des Trotzes, in einem Ritual der Abgrenzung mehrt er die Anzahl der blutenden Wunden, die seinen Körper bedecken, er trägt sie stolz an Armen, am Rücken, auf der Brust, einige Wenige zieren ihm sogar den Hals. Alte Narben neben neuen Wunden, dass wird ihm der Kreislauf des Lebens sein in den kommenden, dunklen Jahren, das weiß er und das ist gut so. Er will es nicht anders, und so macht er immer weiter, im Schatten einer Eiche in einem dunklen Forst.

Schließlich bricht er zusammen, er kann nicht mehr.
Blutend senkt sich sein Körper auf die Erde wie fallender Schnee, und rot pulsierend wird er eins mit dem Waldboden, eins mit seiner Eiche.

"Im Schatten einer Eiche
Da fand man eine Leiche
Die war so tot.
Sie hat ein Zettel in der Hand
Worauf geschrieben stand
„Ich hab einmal geküsst
Und schwer gebüßt“"

7 – Ekstase und Pein
Es ist dunkel um dich herum, dunkel und warm. Es wird heller und wärmer, schließlich siehst du das Rot durch deine Augenlider schimmern. Beinahe unangenehm, fast schon schmerzhaft spürst du die Hitze an deiner Haut.
Du schlägst die Augen auf.
Du siehst, das du brennst, lichterloh brennst, aber die Flammen verzehren dich nicht. Es fühlt sich so an, als würde ein leichter Wind über deine Haut streichen, wie ein Blasebalg in einer Esse, wie ein Sandsturm in einem Tempel, unerbittlich trocken und heiß, doch gleichzeitig mit einer gewissen Würde, einer Erwürdigkeit, einer Heiligkeit.
Du empfindest es als eine große Ehre, so brennen zu dürfen, und du spürst, wie es dich reinigt, wie es deine Schwäche verzehrt und dich Stärker macht. Und am Rand des Spektrums der Töne, die du gerade so noch hören kannst, vernimmst du ein hohes, ein beinahe unangenehmes, ein geradezu stechendes, schneidendes Singen, doch du weißt, dass das so zu sein hat. Du beschließt, dich dieser Reinheit hinzugeben, schließt die Augen und breitest die Arme aus, und gehst auf in der reinigenden Flamme des überwältigenden Schmerzes.
Und wie du dich der Flamme hingibst, wie du kurz davor bist, von ihr zerbrannt zu werden, um dich selbst wieder neu gebären zu können, wie du da stehst an der Schwelle zum Tod, wie du kurz davor stehst, zu entschlafen, in die Ewigkeit zu entschlafen, da beginnst du, halb im Schlaf schon, im Tod, doch zur Hälfte auch noch wach und klar, zu träumen.

8 – So kalt wie nie zuvor
„Lange Jahre meinens Lebens wusste ich über mir im Nachthimmel beständig einen Stern, der mir die Seele wärmte, der mich vor dem Erfrieren bewahrte.
Es war nicht immer derselbe Stern, aber es war immer igendetwas – irgendwer – da oben, das mich am Leben hielt, und so konnte ich weiter existieren. Doch nun ist das Letzte dieser Lichter erloschen, endgültig erloschen, und so wird es kalt, wird es langsam kalt, in mir. Mein Herz friert ein und ich bin machtlos, es aufzuhalten. Doch selbst, wenn ich könnte, ich wollte es nicht, wozu auch.
Es ist eine kalte Welt, so ganz ohne Liebe, ohne Antrieb.
Da sie nun gegangen ist, ist es so kalt wie nie zuvor.
Ich will nach Haus‘“

9 – Erwachen
Du wachst auf. Es ist kalt. Du zitterst, Gänsehaut.
Der Tau, der sich auf deinen schwachen Leib gelegt hat, hat die salzigen Krusten in deinem Gesicht aufgeweicht und auch die Blutigen auf deiner Brust, und trotzdem schmeckt der annahende Morgen frisch und klar. Du lächelst. Denn wenn du in dich gehst, wo gestern noch sie dein Herz verbrannt, geschmolzen hat, dann ist es da jetzt kalt, so kalt wie nie zuvor. Und plötzlich wird dir eines klar:
Es ist egal, ob du noch weiter lebst, oder ob du jetzt gleich stirbst. Es ist dir egal.
Dein Lächeln wird breiter, als du dich erhebst und dich von deiner Eiche verabschiedest, zum letzten Male wohl. Ein tröstlicher Gedanke, die Ewigkeit.

„Einsam im Walde blüht
Wohl ein Blümelein rot
Bald, allzubald bin ich tot,
Bald, allzubalde

Drüben im Dämmerschein
Allwo im Städtchen
Weint wohl im Kämmerlein
Irgendein Mädchen

Blüht wohl ein Blümelein rot,
Einsam im Walde
Balde, gar bald bin ich tot
Bald, allzubalde“

10 – Die Nacht allein
Wie du nun also weißt, dass du sterben wirst, wie du nun also Frei bist, zum ersten Mal, da beginnst du, die Welt um dich herum mit neuen Augen zu sehen, die Nacht um dich herum.
Der Wind, der die Weiden wiegt,
der Wind, der im hohen Grase Wellen schlägt,
der Wind, der deine Augen kühlt,
der Wind, der das Murmeln des Baches an deine Ohren trägt,
der Wind, der nach Boden riecht, nach Waldboden und nach Ackerboden, nach Wiese und nach bracher Erde,
der Wind, der nach Ewigkeit riecht.
Der Wind, der die Wolken über den Himmel treibt, der fahle Mond, der im Wolkenmeer zu ertrinken scheint, der kalte Mond auf deiner kalten Haut…
Du mochtest schon immer gern die Nacht. So kalt, so einsam… sie ist wie du. Sie ist in dir – in dir ist Nacht. Und nur die Nacht allein kann dich verstehen, hat dich schon immer verstanden…

Denn die Nacht ist es, die deine Schritte lenkt, und so weiß sie wohl, was dich bewegt.

Ob sie dich heute wohl zurücknimmt, in ihren Schoß?

11 – Nähre den Zweifel
Schließlich erreicht der dunkle Schemen sein Ziel:
Eine einzelne Linde, einsam und verlassen, auf einer Anhöhe, einem kleinen Berg. Zu sterben war der Grund, hierher zu kommen.
Doch wozu das Ganze eigentlich?
Der Schemen sinkt nieder, auf ein Polster aus Moos bettet er sich und denkt nach, und grübelt, über das, was ihn bewegt, was ihn bewegen sollte.
Denkt nach über all die schönen Dinge, die sein Leben einmal erfüllt haben.
Die Natur, die Freiheit der Natur. Die Unterwerfung vor ihrer Macht, der damit einhergehenden Verbundenheit. Der Stärke, die daraus jedes einzelne Mal aufs Neue
erwuchs. Doch gerade jetzt fühlt er sich abgehoben von der Natur, sie gibt ihm die Stärke, das Richtige zu tun, also wird er es auch tun.
Die Musik und all die Emotionen, die sie in ihm erwecken, verstärken, verändern konnte, aber auch unterdrücken und übermalen. An die Ekstase in der Masse.
An die Melancholie. An die Trance. An die Ruhe. An die heftige Trauer, den Zorn. Doch wenn er in sich geht, ist da weder Musik noch ein Einzelnes dieser Gefühle, nur Kälte. Doch auch dazu gab es Musik, muss er sich eingestehen, lächelnd.
Und schlussendlich natürlich – sie.
Mittelpunkt seines Lebens und seiner Gefühlswelt für fast ein Viertel seines Lebens nun. Das schöne, zarte Ding, das ihn immer schwach und lächerlich hat werden, hat scheinen lassen, auch und gerade vor sich selbst, der letzte Mensch, der ihn zum Weinen zu bringen vermochte, der letzte Mensch, der ihn bewegen konnte. Der einzige Mensch, von dem er sich verstanden gefühlt hatte – bis sie sich von ihm abgewandt hatte. Lächelnd ob seiner Schwäche, die er sich hiermit eingestehen muss, denkt er an die Zeit zurück, als sie beide noch… sie beide waren. Doch vorbei…
Ein kleiner Strahl fahlen Mondlichtes durchbricht die Wolkendecke, die Wand aus schwarzgrauem Laub, sticht in sein Auge, hämmert ihn zurück auf das Wesentliche.
Das Einzige, was ihn jemals angetrieben hat in seinem jämmerlichen Leben – war sie. Doch das ist nun vorbei.
Er ist frei, endlich frei.
Frei von ihr.
Frei von Antrieb.
Frei, in sich – in sich Frei.
Wo soll man da auch besser sein – als unter einer grünen Linde?

12 – Zweiter Versuch einer Rechtfertigung, zweite Darlegung meiner Motive
Ein wenig lag ich träumend noch im Schatten meiner grünen Linde – denn die Zeit war es mir wert, ich nahm sie mir gern, ich würde sie ja sonst nie wieder brauchen – da dämmerte es, und es dämmerte ein zweites Mal, und es ward wieder Nacht. Aus den Wiesen um mich herum stieg lautlos der Nebel auf, wie eine dicke Decke legte er sich über das Land, über all die Gram und Verzweiflung, wie ein Leichentuch über einer sterbenden Welt. Denn das war es, was am geschehen war, dessen war ich mir in diesem Augenblick absolut sicher:
Nicht ich würde sterben – dieser Gedanke erschien mir just lächerlich – sondern die restliche Welt um mich herum. Und in dem Moment, wenn sich die Schlinge um meinen Hals legen würde, würde ich sie getötet haben, ermordet, gemeuchelt.
Und ich war mir ebenfalls absolut sicher, schon die erste Vorahnung der sich ob ihrem Schicksal sträubenden Welt zu vernehmen, die sich zur Wehr zu setzen bemühte, ihr schwaches Röcheln und Schnaufen im Winde, die Artikulation ihrer wirren Fieberträume im Geäst meiner Linde, das verängstige Weinen im Tau, der sich auf mein Gesicht legte.
Doch es war dieser Nebel, der mich am meisten störte.
Warm und dick, feucht und schwer legte er sich auf mich, umgab mich, erfüllte mich mit beklemmen. Das Atmen fiel mir schwer. Denn der Nebel, er ward eine Leinwand meiner Gefühle, eine Bühne fast, und auf ihr spielten zwei Schemen, mir wohlbekannt:
Sie – und ich.
Augen und Mund riss ich weit auf, als ich sah, wie „sie“ „mich“ küsste, die eine Nacht also…
Der Nebel dann, der schon meine Brust zusammenschnürte, kroch meine Kehle hinab, sich selbst mit flüssigen Krallen Wege bahnend vorwärts reißend, tiefer ziehend, füllte meine Lunge aus, meine Brust, erfüllte sie mit feucht-warm beklemmender Schwere. Und ich spürte, wie mein Herz in meiner Brust ertrank, im Nebel, schreiend…

13 – Flucht
Wie du in dir nun also dein Herz beim Ertrinken beobachten kannst, merkst du, wie sich langsam dein Sichtfeld verengt, schwarz rücken die Grenzen dessen, was deine Augen gerade so am Rande noch wahrzunehmen vermögen, immer näher, immer weiter nach Innen, immer weiter. Es wird langsam schwarz um dich herum, die Welt verblasst, legt sich nieder, in Würde zu sterben. Doch wie du nun hektisch um dich schaust, einen Ausweg suchend, im Angesicht des drohenden Todes, des drohenden unfreien Sklaventodes verzweifelt nach einem Ausweg suchend, nach etwas tastend, das dort, im Dunkel, liegen mag, dir dein Leben, dir deinen Tod, deinen Freitod zu retten vermag,
da fällt dein Auge auf – etwas.
Eine Bühne, eine Leinwand. Und darauf du – und sie.
Und du fliehst, in die einzige Richtung, die dir noch offen steht – in ihre Arme, ihre offenen Arme.


14 – Vermisster Traum
Es ist wieder die eine Nacht. Wie der Zufall so spielt, hatten sich im späten Mittag eure Wege gekreuzt und seitdem nichtmehr getrennt, doch nun ist es spät. Die Zeit, Abschied zu nehmen, ist gekommen. Nun steht ihr beide da, wisst nicht zu sagen, nicht zu schweigen, wartet nur und wisst nicht, worauf, genießt diese letzten Augenblicke, die euch noch einen diese Nacht, wenngleich sie auf eine Weise von einer merkwürdig, beinahe unangenehm anmutenden Verlegenheit gezeichnet sind.
Dein Blick stürtzt in den Ihren und ihr ertrinkt einander in den Augen, eine Ewigkeit geeint. Sie macht einen Schritt auf dich zu, zaghaft und schüchtern, umarmt dich kurz, doch warm, haucht dir einen flüchtigen Kuss auf die Wange – zart und sanft, unschuldig und doch voll Verliebtheit– und geht dann ihres Weges.
Und du stehst nur da, fassungslos ob deines Glücks, den Schleier deiner Kälte und Distanz entgleiten lassend.
Und wie du so dastehst einen Moment lang oder derer zwei, da begreifst du plötzlich, was du bedeutest, nun, da du sie bereits zu missen beginnst, noch euphorisch, doch Melancholie…
„Was bist du, wenn sie alles ist, was du bist, wenn sie alles ist, was hinter dem Schleier steckt – und der Schleier fehlt?“

15 – Sinnbild
Es kam die Zeit, da ein Mann – die Einsamkeit war ihm bis dahin treue Wegbegleiterin gewesen , geschätzte Freundin und Vertraute, von ihm selbst nur allzuoft aufgesucht, ratsuchend – zur Liebe fand, doch er ertrug sie nicht. Er verlor sich in ihr und verzehrte sich, sie verzehrte ihn. Und er wollte dem grausamen Schicksal, das ihm strafend mahnte, ein Ende setzen, doch er konnte es nicht, er war zu schwach. Sie ließ ihn nicht gehen.
Dann versuchte er, zu fliehen, doch am Ende eines jeden Pfades, der ihm die Freiheit verhieß, fand er nur wieder sie.
So begab es sich, dass er dereinst, auf einem dieser Pfade vor ihr, vor sich selbst, vor der Welt fliehend, vom Weg abkam. Und er fand eine Eiche, einen Freund. Und er fand eine Klinge, die sang ihm ein Lied. Und er fand einen Mondstrahl, der schenkte ihm einen Traum zu träumen an derer statt, die sie gefüllt hatte. Und er fand die Freiheit und er fand sich selbst, dort im Wald, abseits der Pfade.
Und so kam es, als er wieder einmal einen neuen Traum zu suchen sich aufmachte, dass er eine Vision hatte:
Er musste sterben. Dann würde er endlich frei sein.
So nahm er einen Strick in die Hand und machte sich auf den Weg zu einer freistehenden Linde, die er dafür auserkoren hatte. Doch unter dieser Linde war ein weiches Bett aus Moos, zwischen zwei Wurzeln spannte es sich einladend auf, und er wurde schwach. Und er schlief ein. Und er träumte. Und er träumte – von ihr. Und als er aufwachte, da wusste er, dass er nicht ohne sie würde sterben können – denn was war er anderes als ein morbides Abbild ihrer selbst?
„Ich vermisse dich. Ich will nicht mehr. Ich will, daß es aufhört, daß das hier alles aufhört. Doch wie soll ich denn sterben, ohne dich? Wenn meine Welt ohne dich endete…“

Und ein dunkler Schemen erhob sich aus einem Bett aus Moos im Schatten einer grünen Linde, wo er zwischen Wurzeln gebettet dagelegen hatte, und lenkte seinen Schritt zurück nach Haus.

16 – Munkelndes Dunkel
Verflucht sei der Tag, als sie meine Wege kreuzte. Vor ihr, da war ich frei. Doch nun - …
Ich vermisse die alten Tage. Es war einfacher, ohne sie. Alles war einfacher. Das war noch schön…
Doch nun zu spät zur Reue, denn ich erlag ihr bereits, auf immerdar.
Verflucht bin ich nun, zu durchwandern die Nacht auf der Flucht vor ihr, auf der Suche nach mir, für immer.
Wenn ich eines weiß, dann das:
Sowie ich mich gefunden habe, hier, im Wald, im nächtlichen Wald, da bin ich ihr entkommen, da bin ich frei. Doch wer ist das, Ich? Und wie soll ich jemanden finden, der mir so fremd ist? Wie soll ich ihn denn erkennen, wie soll ich es wissen, wenn ich ihn gefunden habe?
Und doch, ich muss, ich kann nicht anders, ich muss es versuchen, es trotzdem versuchen.

Ich werde immer wandern…
 
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