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13 Seiten

Imhotep, der Junge aus Heliopolis - Kapitel 22

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 22 – Unruhe im Land


1335 v.Chr. 13 Jahre zuvor …

Kurz nach Mitternacht erreichten die ersten Landungstruppen der ägyptischen Streitkraft, die General Haremhab persönlich anführte, das Hafenbecken von Achetaton. Ein beängstigender Anblick offenbarte sich dem Hafenmeister, als er zum Nil schaute. Der Vollmond schien besonders hell in dieser Nacht und spiegelte sich verzerrt auf dem welligen Flussbett wider. Die Schatten dutzender Kriegsschiffe zeichneten sich ab und steuerten direkt auf den Hafen zu.
Ein lauwarmer Wind wehte. Die Segel der Kriegsflotte waren aufgebläht und die Flaggen an den Masten, darauf Anubisköpfe abgebildet waren, flatterten sachte umher. Der Oberaufseher des Hafens schnallte seinen Gürtel samt der Dolchscheide ab, senkte kapitulierend seinen Kopf und legte den Lederriemen auf einen Tisch nieder. Er zog seine goldenen Ringe und seine Halskette ab, verstaute seinen Schmuck in eine Schatulle und stieg auf einen Schemel. Der Hafenmeister steckte seinen Kopf in eine Henkersschlinge, die von der Decke herabhing, zögerte einen Moment aber stieß den Schemel mit seinen eigenen Füßen dann entschlossen beiseite. Er ächzte kurz, seine Augen waren gekniffen und er japste nach Atemluft, dennoch ließ er es regungslos zu, dass Osiris ihm die Hand reichte.
Die ägyptische Streitmacht war ohnehin erschienen, um Kemets Hauptstadt einzunehmen und alle ranghohe Staatsleute, die Pharao Echnaton loyal gedient und den Sonnenkult unterstützt hatten, diese Religion gar verbreitet hatten, festzunehmen, um sie höchstwahrscheinlich hinzurichten. Für abertausende Bürger von Achetaton bedeutete diese Invasion, dass ihr luxuriöses Leben nun beendet wäre. Nur die absolute Kapitulation vor der ägyptischen Streitmacht, vor General Haremhab, konnte jetzt noch Schlimmeres verhindern.
Nachdem Pharao Echnaton gestorben war und Eilboten diese Neuigkeit im ganzen Land verbreitet hatten, herrschten gefährliche Unruhen in Ägypten, besonders in der Hauptstadt Achetaton. Herbeigestürmte Amungläubiger jubelten, tanzten und feierten Echnatons Tod bis zum Morgengrauen auf den Straßen, während tausende Familien, die noch in der Hauptstadt verweilten, sich verängstigt in ihren prachtvollen Palästen verbarrikadierten und um ihre Habseligkeiten sowie um ihr Leben bangten. Die gnadenlose Verfolgung aller Ketzer hatte begonnen.
Einige Einwohner hatten Achetaton nach Pharaos Todesmeldung sofort fluchtartig verlassen und leugneten, jemals in der Sonnenstadt gelebt zu haben. Mancher ranghohe Staatsmann sowie auch Atonpriester befürchteten, dass man sie bereits des Hochverrates angeklagt und zum Tode verurteilt hätte und die Streitmacht nun nach dieser Botschaft alle Atonanhänger wie Vogelfreie verfolgen würde. Vielleicht drohte so manchen Regierungsbeamten lebenslange Zwangsarbeit in den Steinbrüchen, wovor man sich gar eher fürchtete als vor dem Tod. Sogar ein Sklave lebte angenehmer, als ein Sträfling im Arbeiterlager der Steinbrüche, weil diese sich wenigstens nicht zu Tode schuften mussten und anständig ernährt wurden. Wiederum gab es auch abertausende Atonanhänger im Land, die von Echnatons Ideologie überzeugt und dazu bereit waren, den Sonnenkult sogar mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Unzählige Söldnertruppen hatten bereits eine Allianz gebildet und waren bewaffnet nach Achetaton marschiert, mit der festen Überzeugung, dass ihnen der wahre Gott Aton beistehen werde, um die ägyptische Streitmacht zu bezwingen.
Wenn ein Pharao verstarb, trauerte das Volk siebzig Tage lang. So lange dauerten die Rituale der Mumifizierung samt der Mundöffnung des königlichen Leichnams an, bis der König schließlich in seinem Grabmal bestattet wurde. Erst dann, wenn dessen Gruft verschlossen wurde, stieg sein Nachfolger auf den Horusthron. Zwischenzeitlich regierte meist offiziell die Große königliche Gemahlin und das Komitee in Theben, aber Königin Nofretete war bereits wenige Monate zuvor ebenfalls verstorben.
Als Nofretete eines frühen Morgens unbekümmert in ihren angelegten Garten gegangen war, um ein paar Tomaten zu pflücken, hatte eine schwarze Wüstenkobra im Gras auf sie gelauert, und sie in ihren Fuß gebissen. Von diesem Moment an hatte ihr qualvoller Todeskampf begonnen. Hohes Fieber und unbeschreibliche Schmerzen musste die Königin erleiden. Pharaos Leibärzte hatten bis in die späte Nachtstunde mit Heilkräutern und Mixturen sowie Zauberformeln verzweifelt versucht, die schönste Frau von Ägypten zu retten, aber noch vor Sonnenaufgang hatte schließlich ihr Herz zu schlagen aufgehört. Ebenso war Echnatons zweite Gemahlin, die blutjunge Königin Kija, wenige Monate nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes, Prinz Tutanchaton, gestorben. Die derzeit einzige noch lebende Königin war Echnatons Mutter Teje. Sie aber lebte in Theben im Königspalast und war mittlerweile eine uralte Frau, die im Sterbebett von Priestern auf ihren Pfad nach Westen betreut wurde.
Ein Umsturz im Land war demnach förmlich zu spüren, aber vor allem fürchtete das Volk nun die Rache des Gottes Amun. Amun hatte dem Pharao beide Königinnen genommen, davon war das Volk überzeugt. Überdies brach nach der dritten Jahresfeier von Achetaton ausgerechnet in einigen Stadtteilen eine Seuche aus, woraufhin hunderte Menschen verbannt wurden, damit sich diese Krankheit nicht weiter ausbreitete. Obendrein hatte ein verheerendes Erdbeben Oberägypten heimgesucht, wobei die Region um Assuan bis nach Edfu beinahe vollständig zerstört wurde, und über hunderttausend Menschen ihr Zuhause oder gar ihr Leben verloren hatten. Selbst in Theben wurden einige Gebäude schwer beschädigt worden. Letztendlich starb auch der Pharao Echnaton urplötzlich und mysteriös.
Es schien offensichtlich zu sein; die Götter waren erzürnt und hatten sich mit Amun gegen das schwarze Land verschworen, weil man sie all die Jahre vernachlässigt hatte, hieß es. Und das Volk machte Pharao Echnaton für dieses Unheil verantwortlich. Trotz alledem bekannten sich noch genügend Ägypter zu ihrem kürzlich verstorbenen Pharao, sodass der Atonkult nicht ohne weiteres wieder auszulöschen war. Zu viele waren von Echnaton bekehrt worden, die weiterhin mit Überzeugung an Aton, den einzigen wahren Gott glaubten, und blickten nun erwartungsvoll auf den Königspalast Per-Aton (Das Haus des Aton). Im Königspalast Per-Aton lebte ihre allerletzte Hoffnung, jemand der die anbahnende Revolte möglicherweise Einhalt gebieten könnte. Jemand, der Echnatons Traum aufrichtig teilte und den Sonnenkult um jeden Preis aufrechtzuerhalten beabsichtigte.

In Achetaton, die einst herrliche und prunkvolle Metropole des Neuen Reichs, wo nur vermögende Leute und die Prominenz jahrelang geradezu ausschweifend gelebt hatten, herrschte nun das völlige Chaos und die Anarchie. In den Gassen brannten entfachte Heuballen; zerbröckeltes Gestein einiger Häuserruinen sowie Tierkadaver und sogar Menschenleichen lagen inmitten der gepflasterten Straßen. Der Gestank des Todes schwebte in der Luft, der Gestank von Feuer und verwesten Leichen. Fanatische Amunanhänger strömten hasserfüllt aus allen Himmelsrichtungen herbei, zerstörten in der Innenstadt die prachtvoll angelegten Parks und Obelisken, hauptsächlich Echnatons Denkmäler, und machten auch nicht Halt davor, in die ungesicherten Anwesen der Bewohner einzudringen, die Hausherren zu ermorden und auszurauben und ihr Heim zu zerstören. Der Mob wuchs täglich bedrohlich an, wütete gnadenlos und lieferte sich mit Echnatons Königsgarde blutige Straßenkämpfe. Der monumentale Atontempel musste Tag und Nacht vor Plünderern bewacht werden und die Zugangsstraßen zum Königspalast waren mit Barrieren abgeriegelt worden. Dort lauerten die Bogenschützen der Atonkrieger, und falls der Mob es wagen würde, sich der Barriere allein nur der Neugierde wegen zu nähern, würden sie ohne Vorwarnung von ihren Waffen gebrauchen. Der Königspalast Per-Aton musste unbedingt geschützt werden, weil sich dort mindestens achtzig oder gar mehr namentliche Höflinge und Aristokraten aufhielten (Sklaven und Diener wurden nicht mitgezählt) und man dem aufsässigen Pöbel durchaus zutraute, dass sie Lynchjustiz auszuüben versuchten.
Die rigorose Ablehnung, welche Echnaton in der Vergangenheit dem Militär stets entgegengebracht hatte, hatte der Pharao irgendwann überdacht. Er hatte diesbezüglich seine Meinung geändert, als ihm bewusst geworden war, dass er trotz seines ausgeprägten Misstrauens gegenüber allen Großen des Landes in seinen jüngeren Jahren einigen Männern unüberlegt viel zu viel Macht überlassen hatte, nur damit er von manchen Unbequemlichkeiten entlastet wurde. Er hatte schließlich zum Schutz seiner Hauptstadt, und zum Schutze für seine Person, eine eigenständige Armee gegründet, dessen Befehlskraft laut Echnaton vorrangig war. Somit musste sich die weitaus überlegene Streitmacht des Landes der Königsarmee unterordnen. General Haremhab aber hatte all die Jahre Pharaos Anordnung insgeheim belächelt und schon so manchen ranghohen Offizier der sogenannten Atonkrieger an dessen Kehle gegriffen, wenn dieser geglaubt hatte, dass der General zu gehorchen hatte.
Haremhab war den Separatisten, wie er die Atonarmee verächtlich bezeichnete, trotz alledem stets besonnen begegnet. Niemals vergaß er die Worte Echnatons, als ihm der König damals auf dem Bootsdeck der Sonnenbarke ins Ohr geflüstert hatte: „Setze dich niemals über den schönen Befehl deines Pharaos hinweg. Füge dich, ansonsten wirst du wieder ein Niemand sein.“
Aber General Haremhab war im Land berühmt und kehrte stets siegreich aus den Schlachten nach Ägypten zurück. Das Volk liebte und achtete ihren Kriegsheld, obgleich sie nun Aton, Amun oder sonst einen anderen Gott verherrlichten und jeder Soldat, sowie auch Echnatons Königsgarde, zeigten Ehrfurcht vor diesem außergewöhnlich tapferen Mann, von dem man behauptete, dass die Götter ihre schützenden Hände über ihn hielten, weil sie noch etwas Großartiges mit ihm vorhätten. All die Jahre blieb Haremhab was er war: Der eiserne General, der sein Land gegen alle Feinde verteidigte. Insbesondere hielt Haremhab Ausschau nach Feinden im eigenen Land, und diese waren seiner Meinung nach hauptsächlich die Atonverehrer sowie seine Gefolgen. Insgeheim hielt er sogar seinen eigenen König, Pharao Echnaton, als den wahren Feind Ägyptens.
Die Uniformen beider Armeen unterschieden sich drastisch voneinander. Die braunen Lederschurze und nackten Oberkörper waren eines der markanten Merkmale der ägyptischen Streitmacht sowie auch die breiten Kupferarmreifen, die an ihren Handgelenken hafteten. Zudem trug jeder Soldat ein einheitliches schwarz-weiß gestreiftes Kopftuch. Die Atonkrieger hingegen zeigten weniger Haut. Ein weißes, eng anliegendes Gewand überdeckten ihre Gestalt, sodass ihre muskelbepackten Oberkörper betont wurden, und der Saum ihrer Röcke reichte ihnen bis zu den Fußknöcheln. An ihren Handgelenken hafteten Armreifen, die aus einer härteren und kostbareren Legierung bestanden, statt aus weicherem Kupfer, und ihre Köpfe waren von weißen Mönchskappen bedeckt.
Der Oberbefehlshaber der Atonarmee atmete erleichtert auf, als ihm vor der Stadtmauer von Achetaton die ersten Kompanien der ägyptischen Streitkraft entgegenmarschierten und sie ihr Lager vor den Stadttoren errichteten. Vermutlich sahen sich die hohen Herren aus Theben und Memphis dazu verpflichtet, in Ägyptens Hauptstadt die Ordnung wiederherzustellen. Aber der Oberbefehlshaber der Atonkrieger wurde von einem ranghohen Offizier, einem Oberst, diesbezüglich enttäuscht. Dieser verlautete nämlich, dass die Streitmacht nicht erschienen wäre, um den Mob unter Kontrolle zu kriegen. Dies wäre die Aufgabe der Atonkrieger. Oberst Ramses ließ stattdessen verlauten, dass der Wesir persönlich in Kürze einträfe und er in Begleitung eines Soldatenzuges dem Königspalast einen Besuch abstatten würde. Der Wesir erwünscht, dass er dabei zusätzlich von einigen Soldaten der Atonarmee eskortiert wird, damit keinerlei Missverständnisse aufkämen, dass die Streitmacht kriegerische Absichten gegen das Königshaus Per-Aton hege und einen Putsch beabsichtige. Ferner sollten sie dafür garantieren, dass der Wesir die Straßenbarrieren ungehindert und vor allem unversehrt passieren konnte, ebenso sollte der Pöbel ferngehalten werden. Oberst Ramses betonte, dass die Streitmacht nur im Falle einer Kapitulation den Atonkriegern behilflich sein würde, die Straßenkämpfe zu beenden, um Achetaton vor der völligen Zerstörung zu bewahren.
„Der ehrenwerte Eje verlangt, Semenchkare zu sprechen!“, teilte Oberst Ramses dem Oberbefehlshaber der Königsarmee entschlossen mit. Die Soldatenschar der ägyptischen Streitmacht, die hinter Ramses stand und kämpferisch drein schaute veranlasste, dass der Oberbefehlshaber der Atonarmee bedingungslos akzeptierte.

Eine Woche zuvor, als Echnaton bereits im Einbalsamierungshaus von Theben gelegen und das Mumifizierungsritual bereits begonnen hatte, die Vorbereitungen für die Krönung des damals fünfjährigen Tutanchamuns schon im Gange und der Einzug in den Königspalast von Memphis bereits vollbracht waren, hatte ein Laufbote dem Wesir eine Schriftrolle überreicht, auf der unangenehme Neuigkeiten geschrieben standen. Auf dieser Schriftrolle stand geschrieben, dass das kürzlich abgehaltene Votum in der Wüste, bezüglich der Abstimmung über die Vormundschaft des zukünftigen Pharao Tutanchamun, vom Komitee sowie der Priesterschaft für ungültig erklärt wurde, weil Semenchkare, ein nahestehender Verwandter des zukünftigen Herrscherpaares, nicht offiziell eingeladen wurde und daher auch nicht anwesend sein konnte. Außerdem hatte Semenchkare den Wesir beim Komitee angeklagt, er sei absichtlich von diesem Votum nicht in Kenntnis gesetzt worden und man habe ihm somit die rechtmäßige Vormundschaft über die verwandten Kinder bewusst vorenthalten. Dies sei gesetzwidrig, hatte Semenchkare in seinem Schreiben argumentiert, woraufhin das Komitee und die Priesterschaft ihm zustimmen mussten. Semenchkare hatte die Kuratel seines Neffen Tutanchamun und seiner Nichte Anchesenamun beansprucht und die unverzügliche Überlieferung beider Thronfolger zurück nach Achetaton gefordert. Er, Semenchkare, würde die Entscheidungen des zukünftigen Pharaos vertreten, was obendrein bedeutete, dass der Sonnenkult weiterhin bestehen bleiben würde.
Diese Botschaft war für Eje nicht nur eine Niederlage gewesen, sondern sie hatte zudem seine bisherige Position, gar sein Leben gefährdet. Damals, als Tutanchamun noch nicht gekrönt wurde, hatte Eje noch nicht diese überirdische Macht besessen. Zwar war er bis dato bereits aufgrund seines Titels Gottesvater überaus einflussreich gewesen, aber Pharao Echnaton war nun tot. Dieser Adelstitel hatte demnach nicht mehr allzu viel Gewicht getragen und auch Eje war stets von Feinden umringt gewesen, die nur darauf gelauert hatten, ihn irgendwann zu verscheuchen, ihn irgendwie zu beseitigen. Eje hatte zwar zuvor noch niemanden persönlich getötet, dennoch war auch sein Gewand mit Blut befleckt, weil ihm genügend Leute einige Gefälligkeiten geschuldet hatten, sodass er für gewisse Aufträge nicht einmal bezahlen musste.
Echnaton war für die Götter geopfert worden, Eje hatte mindestens darüber Bescheid gewusst und nur sehr wenige Staatsmänner ebenso, aber doch nicht das Komitee in Theben sowie die Priesterschaft, und erst recht nicht die Bevölkerung, was auch weiterhin so bleiben sollte, so bleiben musste. Aber jetzt, aufgrund des Einspruches von diesem unbekannten Semenchkare, würde man diesem zweifelhaften Votum, welches die Royalen hinter den Rücken der Staatsleuten untereinander ausgemacht hatten, mehr Beachtung schenken und hinterfragen, was genau hinter den Mauern des Königspalastes sich eigentlich zugetragen hatte. Licht würde auf diesen dunklen Fall des urplötzlich verstorbenen Pharao Echnaton fallen. Eje hatte daher beschlossen, mit General Haremhab und in Begleitung eines Soldatenzuges, dem fünfundzwanzigjährigen Semenchkare in der Festung Per-Aton einen Besuch abzustatten, zwecks diplomatische Verhandlungen.

Mit Schildern, Speeren und Kriegsbögen bewaffnet, marschierte eine Soldatentruppe durch die Straßen von Achetaton, auf direktem Wege zum Königspalast. General Haremhab, der Oberbefehlshaber der Atonarmee und Eje schritten inmitten des Soldatenzuges. Die weiß uniformierten Aton-Soldaten schwärmten eilig voraus, lugten mit gespannten Bogensehnen vorsichtig in jede Gasse hinein und sicherten die Gegend ab. Dann gaben die Atonkrieger ein Handzeichen zum Weiterziehen.
Plötzlich rannten einige Gestalten mit gefüllten Säcken aus einem aufgebrochenen Palasttor heraus und türmten quer über die Straße. Ohne Aufforderung, sofort stehen zu bleiben, schossen die Bogenschützen auf die flüchtenden Plünderer, die daraufhin samt dem Diebesgut ächzend zu Boden stürzten. Einer der Räuber lebte noch. Er hielt sich schmerzverzerrt seinen blutüberströmten Schenkel, welcher von einem Pfeil durchbohrt wurde, ließ von seinem Diebesgut ab und kroch panisch über die Straße. Ein Atonkrieger eilte ihm hinterher, beugte sich mit gespannter Bogensehne direkt über den Mann und schoss ihm aus nächster Nähe in seinen Nacken. Das Pfeilgeschoss durchbohrte seine Kehle. Sein Leib zuckte kurz auf, er röchelte einen Augenblick und sackte schließlich leblos zusammen.
Während General Haremhab und Eje achtlos über die Leichen stiegen, hielt der General eine Unterredung mit dem Oberbefehlshaber der Atonarmee. Haremhab prophezeite ihm, dass dem Sonnenkult das Ende naht, Aton bald in Vergessenheit geraten würde und Amun-Re längst nach Ägypten zurückgekehrt sei. Er sollte demnach seine Armee schnellstens auffordern, zu kapitulieren, bevor ein blutiger Bürgerkrieg sich entfachen würde. General Haremhab garantierte, dass jedem Soldaten verziehen würde, der sich der Streitmacht anschließen würde. Keiner seiner tapferen Männer würden des Landesverrates angeklagt werden, darauf gab Haremhab sein Ehrenwort, worauf selbst ein verfeindeter Hethiter vertrauen konnte. Jedoch würde dieses Angebot nicht für unbestimmte Zeit gelten.
„Bringt Eure Männer zur Vernunft und kapituliert, geehrter Oberst … Sofort!“, forderte General Haremhab den Oberbefehlshaber der Atonarmee mit erhobenem Finger bestimmend auf. „Seht es ein, Achetaton ist gefallen! Ich erwarte rasch eine Entscheidung von Euch. Aber jeder, der sich mir widersetzt, entscheidet sich zugleich auch gegen Kemet. Und das schwarze Land, genauso wie ich, dulden keine Separatisten! Eine Rebellion werde ich andernfalls mit Blut und Feuer vergelten!“
Der Oberbefehlshaber schwieg. Zwar war ihm bewusst, dass sein kleines, nur ein paar tausend Mann starkes Heer der Streitmacht weit unterlegen war, aber er würde seinen hohen Status einbüßen, wenn er die Kapitulation aussprechen und sich dem General unterwerfen würde. Nichts wäre dann mehr, wie es einst war, aber dies war eigentlich schon längst geschehen, nur realisierten es bisher die wenigsten hohen Herren nicht. Wer gibt schon gerne freiwillig seinen Reichtum und Status quo auf, um dann wieder wie ein normaler Bürger im Mittelstand zu leben? Zudem würden infolgedessen die beachtlichen Schatzkammern des Atontempels konfisziert werden, somit wäre ihr Reichsgott entmachtet und Ägypten würde wieder unter dem Zeichen des Amun stehen.

Während der Soldatenzug weiter dem Königspalast entgegenmarschierte, blickte Eje starr auf einen Palast hinauf, daran sie grad vorbeiliefen. Dieses Anwesen gehörte einst ihm. Dort wohnte er beinahe fünf Jahre lang mit seiner Familie, mit seiner zweiten, dreißig Jahre jüngeren Gemahlin Tij und seinen zahlreichen Söhnen, Töchtern und Enkelkindern. Nun schlugen Flammen aus den Fensteröffnungen heraus und beißender Rauch stieg empor. Achetaton, die einst herrliche goldene Stadt und der Traum des Echnaton brannte und war dem Untergang geweiht. Haremhab blickte schräg zum Wesir und flüsterte, sodass die Soldaten in den weißen Uniformen nicht mithören konnten.
„Sagt mir, hoher Herr, wer ist dieser verfluchte Semenchkare? Wer ist dieser Mann, der es wagt, deine rechtmäßige Vormundschaft anzufechten?“
Eje schwieg einen Moment. Innerlich ärgerte es ihn, weil er nicht mehr an diesen Kerl gedacht, ihn sogar vergessen hatte, als er das Votum organisiert hatte. Er hatte ihn offenbar unterschätzt, dabei hätte er es besser wissen müssen. Semenchkare hatte immerhin einiges dazu beigetragen, dass Pharao Echnaton ihm immer weniger Vertrauen entgegengebracht hatte, bis er seinen Ratschlägen nicht mehr gefolgt war, stattdessen hatte der Pharao mehr Zeit mit diesem jungen Mann verbracht. Aber Eje war der Gegenwart des überaus exzentrischen Pharaos ohnehin überdrüssig geworden und hatte wahrlich genug gehört von seinen langwidrigen Predigten über Aton und seine albernen, zudem kostspieligen Sperenzien, diese waren ihm schon lange zuwider gewesen. Zudem hatte er es alsbald ermüdend empfunden, über die makabren Späßchen des Pharaos ständig mitlachen zu müssen. Pharao Echnaton und der Wesir Eje, die jahrelang beinahe täglich zusammen und Verbündete gewesen waren, hatten sich längst auseinandergelebt gehabt.
Mit einem listigen Vorwand war es damals Eje gelungen, dass Pharao Echnaton ihm einen Domizilwechsel nach Heliopolis bewilligt hatte, wo er schließlich einflussreiche Kontakte auch in Memphis knüpfen konnte. In Unterägypten hatte die Ptah-Priesterschaft die Oberhand und diese war nicht gar so konservativ strukturiert, wie die Amun-Priester in Oberägypten. Zudem verhielten sich die Leute im Norden weniger arrogant und engstirnig, wie es hauptsächlich in Theben zu beobachten war. Die Unterägypter waren für ihre Aufgeschlossenheit bekannt und sahen einiges lockerer, als das Volk im Süden es tat. Mit diesen Leuten konnte man einfach besser verhandeln was aber nicht bedeutete, dass die Unterägypter leichtgläubig oder weniger raffiniert waren. Im Gegenteil. Auch im Norden zählte ausschließlich der Deben, und gerissen und scheinheilig waren sie ebenso. Unterägypten war einfach zukunftsorientierter, wogegen die Oberägypter eher an die alten Traditionen des Alten Reiches festhielten.
Echnaton hatten nur seine eigenen Visionen interessiert und er hatte ausschließlich die Gesellschaft geschätzt, die zu ihm hinaufschaute und seine Ideologien teilten. Somit war es dem Pharao entgangen, dass Eje die Bauarbeiten seiner eigenen Gruft heimlich hatte unterbrechen lassen, was bedeutete, dass Eje nie wieder nach Achetaton zurückzukehren gedachte und er keinesfalls neben dem Pharao bestattet werden wollte. Ihm hatte schon immer eine Ruhestätte in Theben-West vorgeschwebt, im Tal der Könige, dort, wo seiner Meinung nach die wahren Herrscher und Pharaonen ruhten.
Die Bauunterbrechung seiner Gruft war eine eindeutige Geste abgrundtiefer Abneigung gegenüber dem Pharao und wäre Echnaton dahintergekommen, hätte er seinen Gottesvater sicherlich aufgrund dieser Beleidigung in die Krokodilsgrube werfen oder ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Aber Eje blieb seit seiner politischen Laufbahn immer auf der Hut und unternahm niemals etwas, ohne sich vorher ein wasserdichtes Alibi geschaffen zu haben. Kein Oberaufseher der Handwerker hätte es gewagt, Eje beim Pharao anzuschwärzen, denn wer an seinen Gewand zu zerren wagte, sollte dies vorher gründlich überdacht haben. Manchmal landete mitunter ein abgeschlagener Schädel eines ranghohen Herren oder Priesters irgendwo demonstrativ in einem Schweinetrog – dies war kein Zeichen eines Gottesopfers, sondern eher das Zeichen eines erzürnten Staatsmannes.

„Herr, nun sagt mir doch endlich, wer ist dieser Semenchkare“, forderte Haremhab seinen Mentor erneut auf, weil der Wesir stillschweigend in Gedanken versunken war, während er sein ehemaliges Domizil beobachtete, wie es niederbrannte.
„Semenchkare … Er ist Echnatons jüngster Halbbruder, trotzdem ist er nur der Sohn einer lausigen Haremshure, welchen Amenophis III wohl mit seiner allerletzten Phalluskraft im Suff gezeugt hatte. Es existieren noch weitere solcher Bastarde und nochmals so viele kleine Nutten. Der alte gute Pharao liebte seine Gemahlin zwar, schätzte aber dennoch die Abwechslung in seinem Harem. Die meisten Bastarde leben irgendwo anonym im Land verstreut, sie wurden allesamt auf dem Sklavenmarkt verscherbelt und wissen gar nicht, wer eigentlich ihr leiblicher Vater ist. Stell dir nur vor, Haremhab. So manche Familien sparen jahrelang, nur um sich ein Kind zu kaufen, um es zu versorgen.“ Eje zuckte kurz mit der Schulter, ein Schmunzeln verzierte sein Gesicht. „Wie töricht. Je ärmer sie sind, desto barmherziger ist ihr Verhalten.“
Des Generals Brustkorb hob sich leicht, als er tief einatmete und einen Moment innehielt. Es existierte als doch noch jemand, der Echnatons Ketzerei aufrechtzuerhalten gedachte und dies sogar realistisch umsetzen könnte, weil ihm offensichtlich die dazu nötige Macht gegeben wurde.
„Nun ja, eine Rattenplage ist auch nicht einfach aus der Welt zu schaffen“, antwortete der General trocken, wobei er Eje mit gewohnten, müden Augenlidern anschaute, obwohl sich sein Gemüt erhitzte. Diesem Sakrileg musste endlich Einhalt geboten werden. Dieser mistige Königsclan, diese komplett verrückt gewordene Dynastie musste unbedingt endgültig ausgelöscht werden, zuckte es durch seine Gedanken.
„Mach dir keine Sorgen, mein treu ergebener Freund“, sprach Eje beruhigend auf ihn ein, der seinen Adjutanten mittlerweile bestens kannte und wusste, welch abgrundtiefe Abneigung er gegen den Sonnenkönig und zugleich Aton hegte. „Diese Ratte ist zwar theoretisch ein Prinz, dennoch darf er sich diesen ehrenvollen Titel niemals anmaßen, weil er ein Bastard ist!“ Eje erhob seinen Finger. „Verlasse dich drauf, Semenchkare ist absolut unbedeutend. Irgendwie ist es ihm damals leider gelungen, seine wahre Identität herauszufinden, und er klopfte eines Tages am Palasttor von Per-Aton. Echnaton hatte Gefallen an ihm gefunden, weil Semenchkare ihn aufrichtig, wie einen wahren Propheten des Aton verherrlicht hatte, seine Anschauung teilte und ihn, wie ein wissbegieriger Junge tagtäglich umgarnt hatte!“, brüllte er plötzlich unbeherrscht. Eje stockte in seiner aufgebrachten Rede, weil er selbst bemerkte, dass er nahe dran war, sich zu vergessen. Schließlich fuhr er im ruhigen Ton fort.
„Anscheinend hält dieser verfluchte Schweinehund einen Trumpf in der Hand, sonst würde er nicht so leichtsinnig mit seinem Leben umgehen und es wagen, sich in die Angelegenheiten des Königshauses einzumischen. Des wahren Königshauses wohlbemerkt. Soll er es doch ausspielen. Ich will sein verdammtes Ass sehen. Aber ich schwöre bei allen Göttern dieser Welt … Niemals wird dieser Bastard unseren zukünftigen Pharao betreuen, geschweige denn, Tutanchamun zu Gesicht bekommen!“
„Inwiefern ist Semenchkare gefährlich? Vielleicht will er Euch nur in seinen Palast locken, um dich, Herr, zu töten“, mutmaßte Haremhab mit hochgezogenen Augenbrauen. Über Ejes Mundwinkel jedoch zuckte nur ein kurzes, verächtliches Grinsen.
„Oh nein, mein treuergebener Freund, dies befürchte ich keineswegs. Er ist nichtsdestotrotz kein Dummkopf und würde sich dies in seiner momentanen Lage niemals wagen. Mich zu töten würde sein eigener Untergang sowie das absolute Ende von Aton bedeuten, und das ist ihm bewusst. Aber Ihr werdet schon sehen, was für ein abscheuliches Rattenloch wir betreten werden. Dieses verfluchte Gesindel, in diesem sogenannten Haus des Aton, kann nichts weiter als nur schlemmen, saufen, Schlafmohn rauchen und sich den ganzen Tag gegenseitig bumsen. Trotzdem müssen wir auf der Hut sein. Semenchkare ist ein Fanatiker und er versteht es, eine feige Bande selbst in einer aussichtslosen Situation zu motivieren. Das allein ist seine Stärke“, erklärte Eje. „Lang genug musste ich unter ihnen leben und weiß genau, wer sie sind. Diese weinerlichen Geschöpfe sind nicht einmal fähig, einen Dolch in die Hand zu nehmen, ohne sich dabei selbst zu schneiden“, lächelte Eje.

General Haremhab schmunzelte. Der Oberägypter aus dem Städtchen Hut-nesu (er war stolz ein Oberägypter zu sein) vermutete nun, mit wem er es zu tun hatte. Semenchkare war sicherlich nur ein unbelehrbarer Märtyrer, der sich irgendwann dazu verleiten lässt, mit seiner Mannschaft im tosenden Feuersturm unterzugehen. Solche Artgenossen waren ihm in der Vergangenheit auf den Schlachtfeldern zur Genüge ins Messer gelaufen, und er hatte nach getaner Arbeit stets lächelnd auf ihre verstümmelten Leichen gepinkelt. Ein Märtyrer war seiner Ansicht nach nur ein Schwachkopf, der einfach nicht einsehen wollte, dass er geschlagen war und man solche Halunken, wie eine Heuschreckenplage, schnellstmöglich ausmerzen musste. Auf die gut gemeinten Warnungen, dass es solch einem Mann nach dem Tode wahrscheinlich gelingen könnte, den Status einer Legende zu erringen, daraufhin entwich ihm nur ein müdes Lächeln. Die Historie wäre immerzu manipulierbar, behauptete er. Es wäre sogar machbar, die Regierungszeit eines Pharaos aus der Geschichte für immer zu tilgen. Man benötige dazu nur die dementsprechende Macht, meinte Haremhab.
 
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