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Die Belfast Mission - Kapitel 53

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 53 – Ein Zeichen

Es regnete in Strömen. Der Himmel über der Provinz Ulster war wiedermal mausgrau und die Landschaft wirkte farblos an jenem Tag, als Eloise zu Grabe getragen wurde. Beinahe jeder Bewohner ihres Heimatdorfs war zum kleinen Waldfriedhof erschienen, dort wo sich Ike und Eloise im Frühjahr 1909 anfangs immer heimlich getroffen hatten. Dort hockten sie damals manchmal stundenlang auf der Friedhofsmauer, schäkerten miteinander und träumten von einer gemeinsamen Zukunft. Und wenn irgendjemand den Friedhof besuchte oder ein Reiter vorbei galoppierte, geriet Eloise sofort in Panik und zerrte Ike kichernd hinter die Bäume. Niemand aus dem Dorf durfte damals davon erfahren, dass sie nun einen Freund hatte. Ihre Mutter durfte es hauptsächlich nicht erfahren. Zwar war Ike ebenfalls ein Katholik, dafür war er aber ein Ausländer und außerdem war es bereits von ihren Eltern beschlossen worden, dass sie mit dem Sohn der angesehenen Gallagher Familie vermählt werden sollte. Mit Peter Gallagher.

Ike wollte zuerst bei der Beerdigung nicht anwesend sein, weil er sich strikt weigerte, dieses Unglück als ein reales Ereignis zu akzeptieren. Ferner fürchtete er die Feindseligkeit der Dorfbewohner. Zwar hatte es sich rasch herumgesprochen, dass das Ehepaar van Broek angeblich von Protestanten überfallen wurde, aber jeder mutmaßte, dass dieser Anschlag allein Ike gegolten hatte und wenn er der jungen O’Brian damals nicht den Kopf verdreht hätte, würde sie noch leben. So jedenfalls war die Meinung der meisten Dorfbewohner.
Anne versuchte ihn zu überreden, damit er die Tatsache endlich realisierte und ihm wieder bewusst werden sollte, dass er ein Zeitreisender und ihre Liebe nur eine Seifenblase war.
„Eloise war deine Ehefrau und sie war sehr gläubig. Das bist du ihr schuldig, also sei jetzt nicht feige und gehe gefälligst zu ihrer Beerdigung! Wie sieht denn das sonst aus?!“, redete sie energisch auf ihn ein. „Du bist ein Geheimagent aus der Zukunft, der hier in dieser Welt gar nicht hingehört, sondern nur eine Mission erledigen muss. Du wirst noch eine Zeit lang hier verweilen müssen, denn dein Auftrag ist noch nicht erfüllt worden! Und so lange musst du dich wie ein Akteur auch verhalten!“
„Das ist nicht das eigentliche Problem, Anne. Vielleicht wirst du mich für verrückt halten, aber ich warte auf ein Zeichen damit ich die Hoffnung nicht verliere. Ich wünschte Vincenzo würde mir jetzt beistehen, gleich wenn er angeblich der Verräter ist. Ich wäre sogar zu einem Arrangement bereit: Er sorgt dafür, dass Eloise wieder in das Leben integriert wird und ich spring dafür von eine Klippe ins Meer. Dann wäre die Mission gescheitert, was er wohl angestrebt hatte. Eloise und ich würden uns dann zwar niemals begegnen, dafür aber würde sie leben.“
„Was für ein Zeichen meinst du?“, fragte Anne verwundert.
„Einen Hinweis, eine Andeutung. Irgendwann, in ein paar Wochen oder vielleicht werden auch einige Monate vergehen, wird es mir gelingen, diese Tragödie zu verhindern. Und um dies vorzubereiten, damit ich gleich von Anfang an die richtigen Entscheidungen treffe, werde ich mir selbst Anhaltspunkte in meiner jetzigen Gegenwart geben. Ich weiß, dass ich das tun werde.“ Ein Ansatz eines Lächelns verzierte seinen Mund. „Ein Zeichen eben, dass ich es geschafft habe, dass Eloise lebt. Ich muss nur auf ungewöhnliche Dinge achten, die passieren werden. Denn ich werde diese Tragödie niemals akzeptieren und einfach so hinnehmen. Niemals!“

Anne sah ihn nur mitleidig an. Ike wirkte von sich äußerst überzeugt und schien blind daran zu glauben. Er war regelrecht verbohrt und man merkte es ihm an, dass der Erfolg seiner Mission für ihn jetzt nur noch zweitrangig war. Er war ja mittlerweile dazu bereit, sich mit einem offiziell ernannten Verräter zu verbünden, obwohl Vincenzo nach den aktuellsten Meldungen sogar von dem Mordanschlag gegen ihn gewusst haben musste. Außerdem wurde er inhaftiert.
Ihrer Meinung nach war seine Rettungsaktion ein sinnloses Unterfangen, zumal er keinen Beamer besaß und er würde letztendlich in den Knast wandern, oder gar aus allen Citys verbannt werden, falls er so eine Aktion nur umzusetzen versuchte. Selbst sie hatte es begriffen, dass die Sicherheitszentrale sein Vorhaben niemals unterstützen wird. Niemals würden die UE-Agenten versuchen in die Vergangenheit zu reisen, um eine unbedeutende Akteurin zu retten, gleich wenn sie aufgrund einer Mission ums Leben kam. Eher werden sie Ike für den Tod einer Akteurin später zur Verantwortung ziehen, schließlich war es allein seine Pflicht gewesen, Eloise unbedingt von dieser Höllenfahrt abzuhalten.

Ike war diesem tödlichen Anschlag nur knapp entkommen. Irgendjemand hatte den Schleuser geschützt und acht Scharfschützen ausgeschaltet, die ihm aufgelauert hatten, ansonsten wäre er jetzt ebenfalls tot. Aber nicht einmal Henry war über diese mysteriöse Hilfsaktion informiert gewesen. Niemand wusste also, wer diese Personen waren und welches Ziel sie eigentlich verfolgten. Ike hatte von zwei schattigen Gestalten berichtet und behauptete, es wären SEK-Soldaten gewesen. Jedoch räumte er sogleich ein, sich nicht hundertprozentig sicher zu sein. Der Streifschuss am Kopf hatte ihm einen Blackout beschert, sodass eine genaue Beschreibung unmöglich war.
Henry befürchtete, nur die geringste Veränderung in den letzten 48 Stunden könnte das vergangene Ereignis drastisch beeinflussen. Das war mitunter einer der Gründe weshalb der Chef des Geheimdienstes die Genehmigung verweigerte, dieses Ereignis rückgängig zu machen. Ike überlebte einen Kopfschuss, weil einer der Scharfschützen offensichtlich nicht konzentriert genug gewesen war. Das war lediglich ein Hauch, der über sein Leben entschieden hatte und dieses unbeschreibliche Glück sollte man wahrlich nicht noch einmal herausfordern, war die Meinung der Sicherheitszentrale.

Eine unüberschaubare Menschenmenge war auf dem Waldfriedhof erschienen. Es verweilten sogar unzählige Leute vor dem riesigen geöffneten Eisentor, weil der kleine Friedhof bereits überfüllt war. Eloises Ableben verbreitete sich schließlich wie ein Lauffeuer in allen umstehenden Dörfern, und jeder war erschüttert.
Der unaufhörliche Regen rauschte auf etliche, schwarze Regenschirme nieder. Unzählige Leute waren sogar aus den Nachbardörfern erschienen, schließlich waren die O’Brians anständige und geschätzte Leute, auch wenn die aufsässige Tochter von manchen Nachbarn als das schwarze Schaf der Familie angesehen wurde. Trotz alledem galt Eloise als sehr hilfsbereit, außerdem verpasste sie niemals den sonntäglichen Gottesdienst und sie war gegenüber der älteren Generation immer höflich gewesen.
Am Eingang des Friedhofes, direkt hinter dem Eisentor, eröffnete sich eine Allee bestehend aus Birkenbäumen, bis hin zum Ende des Weges, wo eine Kapelle erst vor einigen Jahren errichtet wurde. Uralte, vom Moos befallene, aus Stein gemeißelte keltische Kreuze ragten aus manchen Gräbern empor, die bereits seit dem frühen Mittelalter existierten. Ganz weit hinten, nahe der östlichen Friedhofsmauer, war ein mächtiger Granitsockel aufgestellt worden, drauf ein steiniger Engel mit ausgebreiteten Flügeln stand und sich demütig vor allen Gräbern verneigte.
Der Pastor wurde von seinen jungen Messdienern mit Regenschirmen geschützt, während er die Grabpredigt hielt. Ike stand etwas abseits, um nicht im direkten Blickfeld der Familie O’Brian zu stehen. Ihm standen lediglich Anne und Justin, Matthew und Margaretha Kelly und der Vorarbeiter der Maler, Sam Brady, mit seiner Großfamilie beiseite. Selbstverständlich war auch der Bauer McEnrey samt seiner Familie erschienen.
Margaretha weinte bitterlich und schnäuzte manchmal in ein Taschentuch, schließlich waren Eloise und sie seit ihrer Kindheit unzertrennliche Freundinnen gewesen. Jeder blickte auf den aufgebahrten, schlichten Holzsarg, und als der Pastor sich bekreuzigte, der Sarg in das ausgeschaufelte Erdloch hinab gelassen wurde, ertönte ein gleichmäßiges, helles Glockenläuten aus der kleinen Kapelle. Eine andächtige Stille herrschte. Nur das Glockenläuten und der rauschende Regen waren zu hören.

Ike starrte apathisch vor sich hin. Er vernahm die Worte des Pastors nur wie im Trance und nachdem dutzende Menschen nacheinander Blumen auf ihren Sarg fallen gelassen hatten, gingen sie wortlos an ihm vorbei. Kaum jemand beachtete ihn und bekundete ihm Beileid.
Doch gegen seine Erwartung kamen die O’Brians auf ihn zu. Mr. Mortimer O’Brian fasste ihm an die Schulter und nickte sachte. An seinem rötlichen Rauschbart hafteten Regentropfen. Mit dieser Geste gab er Ike zu verstehen, dass er ihm nicht die Schuld für dieses Verbrechen gab. Er hatte die Protestanten bisher nie gehasst und der Home Rule Bill war ihm auch gleichgültig gewesen, dies jedoch würde sich jetzt sicherlich ändern. Seinen Schwiegersohn hatte er eigentlich seit dem Tag der Hochzeit akzeptiert, weil er ihn für einen anständigen Mann hielt und er obendrein einen angesehenen Beruf ausübte. „Der junge Holländer kann für meine Tochter sorgen, das ist gewiss. Der Gallagher Bursche könnte das zwar auch, dafür ist er aber ein Tölpel“, dachte Mr. O’Brian.
Er mochte Ike sogar aufrichtig und hatte ihn des Öfteren im Wirtshaus vor seinen Nachbarn verteidigt, wenn diese bei einem Umtrunk über den Holländer hergezogen hatten. Jedoch erkannte Ike an seinem Blick die Enttäuschung, weil er ihm seine Tochter praktisch anvertraut, er aber nicht genügend auf sie aufgepasst und sie beschützt hatte. Eloise war ein Papakind und der Vater war immer sehr stolz auf seine Tochter gewesen, weil sie jeden Sonntag nach dem Gottesdienst mit ihm jagen oder fischen gegangen war. Nur aus der Erziehung hatte er sich stets herausgehalten und dies ausschließlich seiner Ehefrau überlassen.

Die Brüder Paddy und Albert hingegen blickten an ihm demonstrativ vorbei. Ihre verweinten Gesichter waren von abgrundtiefer Trauer gezeichnet und sie konnten noch keinen klaren Gedanken fassen. Sie hatten Ike ja mittlerweile lieb gewonnen, besonders Paddy, darum fiel es ihnen besonders schwer, mit dieser Situation umzugehen, ihn sogar zu hassen. Ike war für ihre Schwester verantwortlich gewesen und hätte sie beschützen müssen. So war ihre unerschütterliche Meinung dazu, weil sie es von jedem im Dorf eingeredet bekamen. Ein erneuter Hass bahnte sich in den Jungs an, weil ihre Schwester nun nicht mehr lebte.
Mrs. O’Brian trat einen Schritt vor und blickte Ike emotionslos an. Ihr schwarzer, reifengroßer Hut sowie der Regenschirm schützten sie vor dem Regenguss. Mrs. Elizabeth O’Brian wirkte wie immer äußerst beherrscht, beinahe gefühlskalt. Nicht eine einzige Träne hatte sie vergossen, was nicht unbedingt bedeutete, sie hätte ihre Tochter nie geliebt. Mrs. O’Brian war eine äußerst disziplinierte Persönlichkeit, die jedes Schicksal stillschweigend hinzunehmen vermochte, weil sie fest daran glaubte, Gott würde dies insbesondere von einer Frau abverlangen. Eine Frau diente einzig dazu, um ihren Ehemann zu ehren und zu unterstützen. Keinesfalls wollte sie in der Öffentlichkeit irgendeine Schwäche zeigen. Sie hatte stets beharrlich versucht ihre Tochter mit Strenge und uneingeschränkter Gehorsamkeit zu erziehen, sodass sie diese Tugend wiederum eines Tages ihren eigenen Kindern anerziehen würde.
Aber Eloise war eine unverbesserliche Rebellin gewesen, war stets aufmüpfig und offenbarte selbst den Dorfältesten ungefragt ihre eigene Meinung, wenn sie deren Ansichten nicht teilte. Und wenn Eloise damals als Mädchen von einigen Nachbarsburschen geärgert wurde, oder ihre jüngeren Brüder wurden von ihnen gehänselt, hatte sie sich sogar nicht gescheut, sich mit den Knaben zu raufen. Sie kletterte in ihrer Kindheit auch wie ein Lausbub auf die Bäume der Nachbarn und stahl Kirschen oder im Herbst die Äpfel – für all das hatte die Mutter sich stets geschämt, weil ihrer Meinung nach ein anständiges, katholisches Mädchen solch ein ungehobeltes Benehmen niemals an den Tag legen durfte.
Ike senkte seinen Kopf, um die Rüge seiner Schwiegermutter kommentarlos über sich ergehen zu lassen. Er rechnete sogar mit einer schallenden Ohrfeige.
„Ich wusste es von Anfang an, dass Sie nur Unglück über meine Familie bringen würden, Mister van Broek. Leider war Eloise schon immer sehr störrisch gewesen und wollte stets ihren eigenen Kopf durchsetzen. Sie haben den Tod meiner Tochter zu verantworten, und das wissen Sie auch ganz genau. Möge der HERR Ihnen dies verzeihen, ich aber werde es nie“, sprach sie beherrscht und wandte sich von ihm ab.

Nachdem alle Trauergäste den Waldfriedhof verlassen hatten waren nur noch Anne und Justin bei ihm geblieben. Der alte Sam Brady hatte ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft und betont, dass er in seinem Haus weiterhin jederzeit willkommen wäre. Immerzu würde er ihm bei allen Problemen beistehen, versprach Sam.
Margaretha hatte ihn zuletzt umarmt und dabei bitterlich geweint. Ike erwiderte ihre Umarmung und sprach ihr tröstende Worte ins Ohr. Ike wirkte nichtsdestotrotz gefasst, weil er fest davon überzeugt war, dass er Eloise wieder zurückholen wird. Aber Margaretha dürfte von dieser Wiederbelebung niemals erfahren, so auch alle Trauergäste, also war Eloise für sie und jedermann tatsächlich gestorben.
Anne neigte ihren Kopf seitlich und blickte ihm traurig in die Augen, als nur noch sie und Justin geblieben waren. Es war nicht nur das tragische Unglück was sie bedrückte, denn auch sie mochte Eloise aufrichtig und hatte eine Freundin verloren. Außerdem wusste Anne über seine wahren Gefühle bescheid. Sie und ihr Sohn waren nun offiziell zu Akteuren ernannt worden, zu Menschen, die dieser Zeitepoche angehörten. Dies bedeutete zugleich ein Abschied. Ein Abschied für immer. Anne und Justin waren nun auf sich alleine gestellt und mussten den Kontakt zu Ike abbrechen, das war eine weitere vertragliche Bedingung seitens der Sicherheitszentrale. Anne seufzte.
„Ike, ich verspreche dir, dass so lange ich lebe, wir beide regelmäßig ihr Grab besuchen werden. Ich wünsche mir zwar vom Herzen, dass dein Vorhaben gelingt, aber für mich und alle anderen ist Eloise gestorben. Aber das verstehst du ja. Justin und ich haben Eloise, genauso wie dir, so viel zu verdanken.“ Ein kurzes, gezwungenes Lächeln huschte über ihren Mund. „Ohne sie wüsste ich nicht einmal wie man Rührei mit Speck zubereitet, geschweige denn einen Kuchen backt. Selbst das Reiten hatte sie mir beigebracht und wie man einen Haushalt führt. All das verdanke ich euch beiden.“
Justin packte seinen Arm und schaute ihn mit zusammen gezogenen Augenbrauen ernst an.
„Mein Passwort heißt: Titanic1912. Das ist kein Scherz!“
Ike runzelte die Stirn.
„Was meinst du damit? Ich verstehe nicht.“
„Das ist das Passwort meines Account beim Onlinegame: Universal Starship. Wir hatten letztes Jahr darüber gesprochen, als wir gemeinsam ausgeritten waren und Peter Gallagher getroffen hatten. Du weißt schon, als wir den zerstörten Felsen entdeckt hatten. Weißt du noch? Ich vererbe dir hiermit meinen Account, das hatte ich dir damals versprochen.“ Justin seufzte. „Titanic1912, dieses Passwort wirst du dir sicherlich merken können.“
Ike bemerkte, dass die Stimme des mittlerweile Vierzehnjährigen etwas tiefer klang und er gewachsen war.
„Mach was draus, Alter, und erobere die Erde, denn das ist der einzige Planet, den ich mir im Game noch nicht vorgeknöpft hatte. Das wird zwar äußerst schwierig werden und ich werde es ja auch niemals erfahren, aber du bist mega cool und könntest es mit meinen erspielten Ressourcen echt wirklich schaffen.“ Justin zuckte mit seinen Mundwinkeln und ihm standen Tränen im Gesicht. Nicht nur wegen den Verlust von Eloise, die er ebenfalls sehr gemocht hatte.
„Ich werde dich ganz doll vermissen, Ike. Wirst auch du manchmal an mich denken?“, schluchzte er.
Ike lächelte. Es war das erste Mal seit Tagen, dass er lächelte und etwas Aufmunterung verspürte. Wenigstens für einen Augenblick. Ike wankte mahnend mit dem Zeigefinger und tätschelte auf seinen Kopf.
„Selbstverständlich, Justin. Ich vermisse dich sogar jetzt schon. Aber du denkst gefälligst daran … Immer schön die Mütze aufsetzen, auch wenn du immer noch glaubst, dass das bescheuert aussieht. Und gewöhne dir endgültig die Jugendsprache ab.“ Ike schaute ihn einen Augenblick nachdenklich an. „Wenn du älter bist wirst du verstehen, dass eine vernünftige Aussprache dir eher Respekt einbringt.“ Ike seufzte. „Oje, ich möchte nicht wissen, wie oft du deine Jugendsprache bisher unter deinen Freunden angewendet hast. Naja, vielleicht bist du sogar der Ursprung der Jugendsprache. Wer weiß?“
Justin lächelte, nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ja, Sir. Ich werde mich bemühen, anständig zu sprechen.“
Anne und Justin wendeten sich von ihm ab und liefen im strömenden Regen die idyllische Allee entlang, bestückt mit Birkenbäumen, bis zum geöffneten Eisentor. Auf den rechten sowie linken Rasenflächen ragten zwischen gegenwärtigen Gräbern, uralte, teilweise zerbrochene Grabsteine und steinerne keltische Kreuze aus dem frühen Mittelalter hervor.
Ike schaute ihnen nachdenklich hinterher, über die zahlreichen Gräber hinweg, wie sie umarmt gemächlich davon schlenderten. Was wird ihnen die Zukunft in der Vergangenheit wohl bescheren, fragte er sich. Und kurz bevor sie durch das geöffnete Eisentor gingen und hinter der Friedhofsmauer verschwanden, drehten beide sich nochmal um und winkten ihm zu. Das war das allerletzte Mal, dass sie miteinander gesprochen und sich gesehen hatten.

Nun war Ike beinahe ganz alleine auf dem Friedhof. Als die zwei Männer vom Bestattungsinstitut das Grab zugeschüttet hatten, kamen sie mit den Schaufeln auf ihren Schultern abgelehnt auf Ike zu. Ihre Oberwesten sowie Hemden waren völlig durchnässt. Sie zogen ihre Schirmmützen ab und sagten, dass sie nun mit ihrer Arbeit fertig wären. Sie bekundeten ihr Beileid und drucksten herum. Da begriff Ike, was sie insgeheim verlangten und steckte ihnen jeweils einen Geldschein in die Brusttasche, worauf sie sich vielmals bedankten, ihm Gottes Segen wünschten und auch sie den Friedhof verließen. Dann zog Ike seinen Bowler ab und trat langsam vor das frisch zugeschaufelte Grab. Der Regen rauschte herab. Sein schwarzer Herrenanzug triefte förmlich vor Nässe. Er kniete abrupt nieder, direkt in den Matsch, und blickte stumm auf das schlichte Holzkreuz, darauf eingeschnitzt war:
Eloise
June 1889 – October 1911
R.I.P.
Minutenlang starrte er auf das Holzkreuz. Der Regen prasselte unaufhörlich auf ihn nieder, seine dunklen Haare waren klatschnass und sein Gesicht glänzte vor Nässe. Die Regentropfen perlten über seine Wangen, als würde er weinen. Auf dem frischen Erdaushub hatten sich mittlerweile in den Vertiefungen kleine Pfützen gebildet.
Ike war nie ein gläubiger Mann gewesen und nur durch Eloise hatte er überhaupt erfahren und gelernt, dass der Glaube an Jesus Christus für die Menschen von damals äußerst wichtig war. Sie sprach oft von Engel, dass sie Geschöpfe Gottes wären, und davon war sie stets überzeugt gewesen. Einen Augenblick dachte er darüber nach und falls sie tatsächlich Recht behalten sollte, dann mussten es die Engel sein, die den Regen schickten. Denn es schien so, als würde sogar der Himmel weinen und um sie trauern. Trotz dass er sie verloren hatte, blieb er gefasst.
„Wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her“, sagte sie immer wenn er bedrückt wirkte, wobei sie ihn angelächelt und ihn somit wieder aufgemuntert hatte. „Wir gemeinsam schaffen alles“, hörte er innerlich ihre Stimme, die wie aus einem dichten Nebel zu ihm sprach.
Ihre Heiterkeit, ihr unerschütterter Optimismus war stets sein Antrieb gewesen, um das Leben in der vergangenen Welt und um seine Mission zu meistern. Dieser Antrieb nun abrupt stillstand und wie die Titanic im Meer unterzugehen drohte.
Ike strich mit seinem Finger über den eingeschnitzten Schriftzug ihres Namens.
„Liebes, verzeihe mir, aber noch kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich werde nicht zulassen, dass dir dieses Schicksal widerfährt. Ich lasse dich nicht im Stich und werde dich zurückholen … Egal wie. Mir wird schon etwas einfallen, das verspreche ich dir“, sprach er sanft. Wie immer, wenn sie missmutig gelaunt war und ihn mit verschränkten Armen zornig angeblickt hatte, weil er wiedermal von Nelson`s Pub so spät nach Hause gekommen war.

Ike grübelte. Falls es ihm tatsächlich gelingen würde Eloise eines Tages ins Leben zurück zu holen, wäre er logischerweise im Besitz eines Beamers. Dann könnte und würde er jetzt in seiner Gegenwart sich selber irgendwelche Zeichen setzen, ohne dabei ein Zeitparadoxon auszulösen, um sich selbst Hoffnung zu machen. Mitunter ein Zeichen dafür, dass er keineswegs aufgeben dürfte. Er kannte sich selbst zu genüge und wusste, dass ihn schon früher eine Niederlage schwer zu schaffen machte und er stets eine Partnerin brauchte, die ihn bewunderte und wieder aufbaute. Tat sie das nicht, schoss er sie kurzerhand ab und nahm sich grad die nächste Dame vor, die ihn aufbauen und bewundern würde. Aber nun war er absolut alleine und er hatte auch diesmal nicht das geringste Bedürfnis, dass eine andere Frau ihn nun aufmuntern sollte. Dieses Kreuz wollte er alleine tragen aber brauchte trotzdem dringend Unterstützung. Keine seelische Unterstützung, sondern tatkräftige Hilfe.
Ike erstaunte plötzlich, weil ein kleines Rotkehlchen herbei geflattert kam und direkt neben seiner Hand auf dem Holzkreuz gelandet war. Er verharrte und wagte nicht, sich zu rühren. Das Vögelchen zeigte keinerlei Angst, pickte einmal auf das Holzkreuz und schüttelte sich das Nass aus seinem Gefieder, was ihm sogar ins Gesicht spritzte. So nahe hatte das Vögelchen sich ihm genähert. Ike war fasziniert und betrachtete das Rotkehlchen. Es war ganz nahe, direkt neben seiner Hand und schaute ihn mit seinen dunklen Knopfäugelein an und wieder schüttelte es sich. Dann flatterte der Vogel davon.

Er stutzte. War das etwa ein Zeichen? Aber das konnte jedenfalls kein Zeichen gewesen sein, welches er sich hätte selbst setzen können. War es etwa der Herrgott, der ihm ein Zeichen geben wollte? Eloise hätte es so gedeutet, wusste er. Aber was würde dieses himmlische Zeichen bedeuten, fragte er sich.
Plötzlich vernahm er das Wiehern eines Pferdes. Ike schaute die Allee entlang, in Richtung des Eisentores und erblickte ein prachtvolles, schwarzes Ross, darauf ein Reiter saß, der mit einer dunklen Robe bekleidet war. Die Kapuze verdeckte seinen Kopf, sodass er sein Gesicht von der Ferne unmöglich erkennen konnte. Einen Moment beobachtete Ike, wie der geheimnisvolle Reiter sein ungestümes Pferd, das ständig unruhig herumtrabte, im Zaum zu halten versuchte. Dieser war ein ausgezeichneter Reiter, so viel stand fest. Genauso wie Eloise eine ausgezeichnete Reiterin war.
Ike blickte finster drein. Hinten in seinem Hosenbund steckte die aufgeladene EM23 und er marschierte die Birkenallee entlang, an allen Gräbern vorbei, dem schwarzen Reiter schnurstracks entgegen. Das Ross stieg auf seine Hinterbeine, strampelte und wieherte erneut. Doch der vermummte Reiter blieb elegant im Sattel sitzen. Was ihn stutzig machte war, dass der Reiter barfüßig und ohne Sattel auf dem Pferd hockte.
Er ging weiter zielstrebig auf ihn zu; der Reiter führte seinen schwarzen Hengst gemächlich im Kreis herum, wobei die Hufen hörbar klackerten und es schien so, als würde dieser auf ihn warten. Jedenfalls ließ er Ike immer näher und näher kommen. Nur noch wenige Schritte würden ausreichen, um das Gesicht des Fremden zu erkennen, welches sich unter der dunklen Kapuze verbarg.
„Wer bist du? Was willst du von mir?! Bleib sofort stehen, ich will nur mit dir reden!“, rief er energisch und als er sah, dass der Reiter mit seinen nackten Füßen in den Leib des Pferdes stieß, sprintete Ike los. Er wollte ihn unbedingt aufhalten. Oder war der Reiter eine Frau? Etwa Eloise? Ike hatte seine EM23 auf Betäubung eingestellt und könnte die Person bedenkenlos vom Pferd schießen.
Die dunkle Robe des Reiters flatterte als das Ross noch einmal seine Vorderhufe in die Höhe streckte und schließlich davon galoppierte, als Ike das Eisentor erreichte. Sofort zielte er und schoss mehrmals, doch die Schüsse gingen daneben.
Seine blauen Augen waren weit geöffnet und er keuchte, während er dem geheimnisvollen Reiter hinterher schaute, wie er geduckt im Sattel hockte und im Jagdgalopp davon preschte, bis er hinter einem Hügel verschwunden war.
Ike stand triefnass im strömenden Regen am Eisentor. Er keuchte und fragte sich, wer das wohl war. War es etwa ein Zeichen, welches er sich selbst geschickt hatte oder war es nur eine zufällige Begegnung? War die Person etwa Eloise? Aber der Reiter sah groß aus, oder hatte die dunkle Robe die Person nur groß erscheinen lassen?
Falls es ein Zeichen sein sollte, konnte er es momentan nicht deuten. Nun war er noch verworrener als zuvor. Aber diese Verwirrung gab ihm nichtsdestotrotz ein Quantum von Hoffnung.
Plötzlich vibrierte seine Taschenuhr. Er ließ den Sprungdeckel aufklappen und blickte verwundert auf eine Nachricht:
*Aktiviere sofort die Kommunikationssysteme im Haus. Der Satellit verlässt Europa in etwa 30 Minuten. Wir haben etwas zu bereden. Tu dir selbst einen Gefallen und höre nicht auf die Gerüchte. Ich bin und war immer dein Freund! Gruß Vincenzo.*
Ohne groß darüber nachzudenken, stieg er auf sein Pferd und hetzte es in die Richtung seines Zuhauses.
 
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